Im Sterben: Umfangen vom Leben.

Gemeinsames Wort zur Woche für das Leben 1996: "Leben bis zuletzt - Sterben als Teil des Lebens", Gemeinsame Texte 6, 1996

4. Sterbebegleitung in Gemeinde und Hospizbewegung

Im Matthäus-Evangelium (Kapitel 25) werden sechs Werke der christlichen Nächstenliebe genannt: Hungernde speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Schon früh kam in den urchristlichen Gemeinden ein siebentes Werk der Barmherzigkeit hinzu, nämlich die Toten zu begraben. Außerhalb der Zählung dieser klassischen »sieben Werke der Barmherzigkeit« galt die Tröstung der Trauernden als selbstverständliche seelsorgerliche Aufgabe.

Auch heute sind die Bestattung und alle damit verbundenen Riten für den Menschen wichtig, um mit Tod und Angst umgehen zu können. Gräber sind in besonderer Weise Orte, an denen Menschen trauern können. Für Christen ist das Begräbnis nicht nur Pietät gegenüber den Toten und den Hinterbliebenen, sondern auch Ausdruck der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten.

Immer wieder wurden Menschen mit Zeiten besonders hoher Sterblichkeit konfrontiert. Naturkatastrophen, Massenerkrankungen, hohe Säuglingssterblichkeit und Kriege rafften die Menschen zu Tausenden dahin. Besonders in den Pestzeiten des Mittelalters waren die Kräfte der Menschen angesichts dieses Elends bis aufs äußerste angespannt. In dieser Zeit entstand eine breit gestreute Ars-moriendi-Literatur, die zum Begleiten der Schwerkranken und Sterbenden und zum Trösten der Trauernden ermutigen wollte. In einem der bekanntesten mittelalterlichen Sterbebüchlein heißt es: »Es ist kein Werk der Barmherzigkeit größer, als daß dem kranken Menschen in seinen letzten Nöten geistlich und sein Heil betreffend geholfen wird«.

Die Grundhaltung, aus der Sterbe- und Trauerbegleitung geschieht, wird heute auch »Freundschaftsdienst« genannt: Menschen in existentiellen Herausforderungen durch Krankheit, Leiden, Sterben und Tod Begleiterin oder Begleiter zu sein und als Freundin oder Freund zuhörend und mitfühlend beizustehen. Ob es sich um Angehörige, Geistliche oder andere Helferinnen und Helfer handelt: Sie alle können ihren Dienst nur leisten, wenn sie selbst begegnungsfähig sind. In vielen Initiativen privater oder öffentlicher Art werden deshalb heute Ausbildungsmöglichkeiten angeboten, die helfen sollen, solche Fähigkeiten zu entwickeln, die der Begleitung Schwerkranker und Sterbender und ihnen nahestehender Menschen dienlich sein können. Dazu gehören u.a. Eigenschaften wie Wahrnehmen, Mitgehen, Zuhören, Verstehen, Weitergehen und Loslassen, die in Gruppen und Vorbereitungskursen geübt werden. Dabei geht es nicht nur um ein Tätigwerden und Handeln nach außen, sondern um eine innere Haltung. Es wird versucht, der eigenen Betroffenheit Ausdruck zu geben und Grundhaltungen gegenüber dem Ende des Lebens in sich zu entwickeln. Als Begleiterin und Begleiter geben Menschen weiter, was sie selber in der Gemeinschaft der Lernenden und Liebenden empfangen haben. Sie sind in dieser seelsorgerlichen Aufgabe nicht »Kenner« und »Könner«, sondern Gerufene und Begabte. Als solche entwickeln sie die Kraft, anderen nahe zu sein und Liebe und Freundschaft zu schenken, wo es besonders nötig ist. Und sie sind in der Lage, den sie tragenden Grund ihres Handelns anderen Menschen mitzuteilen.

Eine solche »Freundschaftsbewegung« ist auch die Hospizbewegung in Deutschland. In ihr entdecken nicht wenige, die bisher eher kritisch und distanziert den Kirchen gegenüberstanden, daß gelebter christlicher Glaube zur Menschwerdung im Leben und im Sterben wertvolle Anregungen und Halt gibt.

Die Hospizbewegung in Deutschland hat sich, angeregt durch Impulse aus Großbritannien und den USA, erst relativ spät auf den Weg gemacht, hat schwierige Zeiten und Rückschläge hinnehmen müssen. Sie hat sich aber in ihren Zielen nicht beirren lassen:

  • Annahme des Sterbens als Teil des Lebens
  • Erfahrung von Sinn im Sterben
  • Wahrnehmen der Sterbenden und ihrer Angehörigen als gemeinsame Adressaten
  • Unterstützung durch ein interdisziplinär arbeitendes Team
  • Einbeziehung freiwilliger Helferinnen und Helfer
  • Supervision der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden
  • Kooperation aller Beteiligten
  • Integration der Hospizidee in die bestehenden Dienste und Einrichtungen
  • Spezielle Kenntnisse in der Symptomkontrolle
  • Kontinuität in der Betreuung
  • Begleitung Trauernder

Mit diesen Zielen vor Augen haben sich in Deutschland sehr unterschiedliche Zugänge und Verwirklichungen der gemeinsamen Hospizidee im Rahmen längst vorhandener Sorge um kranke und alte Menschen in Krankenhäusern, in Alten- und Pflegeheimen sowie in der ambulanten Krankenpflege entwickelt. Großherzige Spenden und Stiftungen ermöglichen es, die Arbeit, z.B. in den Krankenhäusern, besser auf die Bedürfnisse Schwerkranker und Sterbender abzustimmen. Zunehmend entstehen dort auch Palliativ-Stationen, z.T. in Zusammenarbeit mit Begleiterinnen und Begleitern des ambulanten Hospizes.

Das vielfältige und differenzierte Bild der Hospizbewegung in Deutschland läßt sich auf begrenztem Raum nicht leicht beschreiben: Es gibt inzwischen mehrere hundert Hospizinitiativen, von denen die Mehrzahl ökumenisch arbeitet. Zudem entstehen auf regionaler und überregionaler Ebene weitere Zusammenschlüsse.

Zeit haben für andere – »Sozialzeit« – gehört neben Arbeits- und Freizeit zu den Grundbedingungen eines erfüllten Lebens. Sie wird nicht mit klingender Münze bezahlt, sondern anders vergolten: mit neuer Aufmerksamkeit für die Tiefe des Lebens, mit Erfahrungen der Begegnung, des Lernens und des Lebensaustausches in Gruppen, mit fachkundiger Vorbereitung und Begleitung, mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die klärend und strukturierend, herausfordernd und bereichernd das eigene Leben verändert.

Die Kirchen beider großen Konfessionen leisten auf allen Ebenen Hilfen, ohne die Hospizbewegung als exklusiv kirchliche Arbeit zu verstehen. Die weitaus meisten Hospizinitiativen in Deutschland werden von engagierten Christen mitgetragen. Manche haben im Dienst für Schwerkranke, Sterbende und ihre Angehörigen die gemeinschaftsbildende Kraft eines christlichen Engagements für die Schwachen und Hilfsbedürftigen neu entdeckt. So kann in der Begleitung Sterbender tätiger Glaube neu Gestalt gewinnen, und so können alternative Weisen des gegenseitigen Gebens und Nehmens für die in unserer Gesellschaft zunehmend notwendige »belastbare Solidarität« prägend werden.