Im Sterben: Umfangen vom Leben.

Gemeinsames Wort zur Woche für das Leben 1996: "Leben bis zuletzt - Sterben als Teil des Lebens", Gemeinsame Texte 6, 1996

1. Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft

Jahr für Jahr sterben in Deutschland etwa 900000 Menschen. Unter ihnen sind über 9500 Verkehrstote, 12000 Suizid-Tote und 2500 Totgeburten. Über die Hälfte aller Todesfälle ereignen sich in Krankenhäusern, Kliniken und Altenheimen; in manchen Großstädten sind es 90% und mehr. Nicht zu übersehen ist die zunehmende Zahl von Toten, die ohne Angehörige oder mittellos sterben. Das hängt u.a. damit zusammen, daß die Zahl von alleinlebenden Menschen in allen Altersstufen steigt und sich ihr Lebens- und Sterbeweg anders als der von Menschen in Partnerschaft und Familie gestaltet. Angesichts der zurückgegangenen Kindersterblichkeit und der steigenden Lebenserwartung verschiebt sich das durchschnittliche Todesalter immer mehr nach oben.

Allein diese wenigen Hinweise zeigen bereits: Sterben, Tod und Trauer sowie die Einstellung dazu haben sich in den letzten Jahrzehnten in unserem Land radikal verändert. Das Sterben zu Hause im Kreis der Familie und der Angehörigen sowie der Nachbarn ist eher selten geworden. Die Bestatter bieten im Trauerfall inzwischen ein umfassendes Angebot an Hilfen bis hin zur Trauerbegleitung an. Neben der Erdbestattung wird zunehmend die Feuerbestattung üblich. Die Zahl anonymer Bestattungen steigt, nicht nur in den neuen Bundesländern. Grab- und Grabmalkultur sind stereotyp und katalogmäßig geworden. Die Kirchen und ihre Gemeinden beschränken sich im Trauerfall gelegentlich auf den Bereich der Verkündigung und Liturgie: Aber die Begleitung der Angehörigen als Sorge für sie, besonders in den Wochen nach der Bestattung, ist eine gewichtige Aufgabe. Die Trauernden selbst verstecken und verdrängen ihre Emotionen durch Abwehr von Beileidsbezeugungen und durch eine möglichst rasche Rückkehr zum »normalen« Alltag.

Die Bedingungen des modernen Lebens haben zu einer sozialen Verdrängung der lebensbedeutsamen Vorgänge um Tod und Trauer geführt. Die Gestaltung des Lebens bestimmt auch den Umgang mit dem Sterben. Immer wieder wird die Forderung nach aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) laut. In unserer Gesellschaft werden Wohlstand, immer weiter steigender Lebensstandard und Vitalität bis ins hohe Alter hinein als Leitbilder propagiert. Viele Menschen können sich für das eigene Leben Entbehrungen und Grenzsituationen kaum noch vorstellen. Die Erfolge der Medizin führten zu einer zuweilen ins Unermeßliche gehenden Hoffnung auf Wiederherstellung der Gesundheit, auf Schmerzbeseitigung oder auf ein Leben mit »neuen Organen« – nicht wenige Menschen glaubten in dieser Hoffnung an eine quasi »diesseitige Unsterblichkeit«. Angesichts eines relativ kurzen und vielfach gefährdeten Lebens hofften die Menschen früherer Zeiten noch weit mehr auf ein »Weiterleben nach dem Tod«, auf eine Vollendung des irdischen Lebens in der Ewigkeit bei Gott. Heute sehen viele in einem langen und erfüllten Leben das Ganze, oder sie erträumen von einer Reinkarnation den Ausgleich für die erfahrenen Entbehrungen und die nicht erfüllten Hoffnungen.

Inzwischen werden die Grenzen des Machbaren jedoch deutlicher. So mancher Fortschritt wird als »tödlich« entlarvt. Langsam wird uns bewußt: Die privaten und sozialen Tabuisierungen von Sterben, Tod und Trauer wirken sich schädlich, ja zerstörend für unser Leben aus. Allmählich werden diese Wirklichkeiten wieder »gesellschaftsfähig«: in den Gesprächen und Publikationen, in der Bereitschaft, persönlich für Pflegebedürftige und Schwerkranke zu sorgen und sich den Sterbenden und Toten wieder neu zuzuwenden.

Maßgeblichen Anteil daran hat die Hospizbewegung mit ihrem vielfältigen Engagement. Davon inspiriert lassen sich auch verstärkt Krankenhäuser und Kliniken auf die Frage ein, welche personellen und strukturellen Konsequenzen im Blick auf die Ermöglichung und die Begleitung eines »Sterbens in Würde« zu ziehen sind. Trauergruppen und seminare werden von Hinterbliebenen dankbar angenommen; Trauernde finden sich zu Initiativ-Gruppen zusammen (z.B. »Verwaiste Eltern«). Die Frage nach dem eigenen Sterben wird allerdings eher selten gewagt oder sinnvoll beantwortet.

Über Jahrhunderte hin prägte die christliche Botschaft vom Sinn des Lebens und Sterbens und von der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten die Lebens- und Todeskultur unserer Gesellschaft. Viele fanden hier Antwort auf die Sehnsucht des Menschen nach bleibendem und vollendetem Leben. Zuweilen mag die Verkündigung dieser Zukunftshoffnung sich zu wenig inspirierend für die konkrete Lebensgestaltung ausgewirkt haben. Das irdische Leben wurde mehr als »Warteraum für das Jenseits« aufgefaßt, die Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes zu wenig als Impuls zu Veränderung der Lebensverhältnisse wirksam. Zwischenzeitlich haben der weit verbreitete Atheismus und der Glaube an den »natürlichen Tod« bei manchen die Frage nach der Zukunft des Menschen über den Tod hinaus fast verstummen lassen oder als uninteressant und unbedeutend ausgewiesen. Heute stellen sich viele Menschen diese Frage wieder neu. Die christliche Botschaft ruft dazu auf, die Erde zu lieben, sie zu gestalten und zu verändern, aber sie weiß, daß die Vollendung nicht vom Tun des Menschen, sondern von Gott abhängt.

Die Auferstehung der Toten und das ewige Leben, wie sie im apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert sind, führen in die personale Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und zugleich in die Gemeinschaft aller Menschen in einem »neuen Himmel und einer neuen Erde«: Ein Leben in Fülle, das Gott in Jesus Christus denen verheißen hat, die ihn lieben, gerade auch den Armen und Notleidenden, und das schon in Jesus Christus angebrochen ist.

Christlich motivierte und gestaltete Begleitung der Sterbenden und Zuwendung zu den Trauernden, aber auch der Umgang mit den Toten in der gottesdienstlichen Verkündigung und – je nach Konfession – in der Feier des Heiligen Abendmahles bzw. in der Feier der Sakramente, besonders aber im caritativen bzw. diakonischen Handeln der Kirchen sind von dieser Hoffnung getragen und umfangen. Der Gott Abrahams und der Gott Jesu ist »kein Gott von Toten, sondern von Lebenden; denn für ihn sind alle lebendig« (Lk 20,38).

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