Im Sterben: Umfangen vom Leben.

Gemeinsames Wort zur Woche für das Leben 1996: "Leben bis zuletzt - Sterben als Teil des Lebens", Gemeinsame Texte 6, 1996

3. Sterbebegleitung in der Kraft des Geistes Gottes

Eine todbringende Krankheit oder der Verlust einer geliebten Person können Menschen in tiefe Angst, Panik und Verzweiflung führen. Nicht selten setzen solche Erfahrungen aber auch nicht vermutete Kräfte des Widerstandes und die Fähigkeit zur Annahme der belastenden Lebenssituation frei. So wachsen mitunter von plötzlicher Krankheit betroffene und unmittelbar vor dem Tod stehende Menschen gleichermaßen wie diejenigen über sich selbst hinaus, die ihnen als Verwandte, Freunde oder professionelle Helferinnen und Helfer zur Seite stehen. Aus welchem Geist, aus welcher Hoffnung, aus welcher Gesinnung vermögen Menschen so zu leben und zu handeln? Die Brüchigkeit menschlichen Lebens und die Ohnmacht gegenüber unheilbarer Krankheit und dem unvermeidlichen Tod stellen den Menschen unausweichlich vor sich selbst. Der ihm aufgezwungene Blick in die Abgründe menschlichen Daseins nötigt ihn zu klären, wie er selbst zu Leiden und Tod steht, ob er die Endlichkeit und Todverfallenheit des Menschen auf sich beruhen lassen will, oder ob es für ihn hilfreicher ist, die sich stellende Sinnfrage zuzulassen.

Für Christen hat die Zielrichtung ihres Hoffens einen Namen: Jesus Christus. Er hat uns Menschen ein Ende aller Tränen dieser Erde und ein Leben bei Gott verheißen. Dieses Leben ist jetzt schon in ihm angebrochen. Das Ziel christlicher Hoffnung weist so über alle irdischen Wege des Menschen hinaus. Es stellt sich in Jesus Christus dar, der als unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes an die Menschen von sich sagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). So leibhaftig der einzelne Mensch leidet und stirbt, so konkret ist seine Hoffnung auf den leidenden, sterbenden und auferstandenen Christus gegründet.

Wenn jedoch Menschen unter großen Leiden sterben, kann die Frage aufbrechen: Warum läßt Gott das zu? Die Bibel, insbesondere das Buch Hiob, zeigt uns, daß sich das Schicksal der Menschen und der Lauf der Welt nicht mit direkten göttlichen Eingriffen von oben erklären lassen. Die Spannung zwischen der Güte Gottes und dem von ihm zugelassenen Leiden der irdischen Existenz bleibt bestehen. Sie will im Leben und Leiden ausgehalten werden. Jesus ermutigt uns, an Gott zu glauben und trotz der scheinbaren Verborgenheit Gottes im Leben Sinn zu suchen und zu erleben. Gott bestätigt in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen, daß er uns Menschen liebt und daß diese Liebe stärker ist als der Tod.

Immer wieder wird versucht, die Frage nach dem Sinn des Leidens durch die Forderung nach aktiver Sterbehilfe zu beantworten. Der Ruf nach dem erlösenden Tod ist jedoch nicht selten ein Schrei nach Nähe und Begleitung sowie die Bitte, nicht allein gelassen zu werden. Gerade das Verhältnis zwischen Arzt bzw. Ärztin und Kranken ist von dem Vertrauen getragen, daß der ärztliche Auftrag unbedingt gilt: menschlichem Leben nicht zu schaden, sondern es zu erhalten und zu fördern. Dieses Vertrauen würde erheblich gefährdet, wenn dieser Auftrag infrage gestellt wird. Deswegen setzen sich die Kirchen für eine Ablehnung jeder Form von aktiver Sterbehilfe und für eine Förderung von menschlich-christlicher Sterbebegleitung ein.

Die Weltdeutung und Lebensauffassung vieler Menschen gründen heute oft nicht mehr in Jesus Christus und in dem Gott Israels. Unabhängig vom persönlichen Glauben verbieten sich für die Betreuenden alle Versuche religiöser Indoktrination angesichts der existentiellen Not des sterbenden Menschen. Vielmehr sind aufmerksame Zuwendung, sorgfältige medizinische und pflegerische Betreuung und – wenn es gefragt ist und verstanden werden kann – das unaufdringliche Wort des Glaubens gefordert. Dies sind – über Gebet, Gottesdienste und je nach Konfession die Feier des Heiligen Abendmahls bzw. die Feier der Sakramente hinaus – die wesentlichen Ausdrucksformen christlicher Liebe.

Dabei darf ein christliches Verständnis von Nächstenliebe in der Sterbebegleitung nicht dazu führen, sich oder den kranken Menschen emotional zu überfordern. Der sterbende Mensch darf erwarten, daß seine Nähe oder Ferne zu Gott und zu den Menschen, die seinen Lebensweg bestimmt haben, auch jetzt respektiert werden. Wenn in Kontakten zwischen Kranken und Betreuenden tiefe Zuneigung, Verständnis und Angenommensein erfahrbar wird, dann ist dies ein Gnadengeschenk des Heiligen Geistes, den wir auch den Tröster nennen. Erzwungen oder eingefordert werden können solche beglückenden Erfahrungen jedoch nicht. Zu bedenken ist auch, daß die Begleitenden selbst mit ihren Ängsten umgehen lernen müssen und daß sie dazu oft selbst der Begleitung bedürfen.

Christen, die sich unter großem persönlichen Einsatz schwerkranker und sterbender Menschen annehmen, gewinnen ihre Kraft aus der Zusage des Apostels Paulus: »Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn« (Röm 14,8). Diese Zusage begründet für Gläubige die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen, auch wenn diese selbst den religiös-geistlichen Hintergrund für sich nicht annehmen können oder wollen. In Jesus Christus hat sich Gott allen Menschen mitgeteilt, auch wenn diese es nicht wissen oder wahrhaben wollen. Die Glaubenden stehen so stellvertretend für andere vor Gott. Im Gottesdienst, im Gebet, in geistlicher Besinnung und Meditation können die Not und die Leiden der Schwerkranken und Sterbenden vor Gott gebracht werden, und zugleich erfahren die Begleitenden dabei immer neu die stärkende Gottesgegenwart, die für ihr Handeln zur tragenden Kraft wird.

Es ist ein Zeichen nicht erlöschender Lebenskraft der Kirchen, daß viele Frauen und Männer sich unter nicht geringen Anstrengungen auch heute um Schwerkranke und Sterbende bemühen. Diese Christen stehen in einer langen Tradition der Liebestätigkeit, wie sie Ordensgemeinschaften, Schwestern- und Bruderschaften, Caritas und Diakonie sowie ungezählte Einzelinitiativen seit jeher in den Kirchen gelebt haben. Die Kirche wird glaubwürdig, wenn und insofern sie sich aus all ihren geistlichen, sozialen und pastoralen Kräften dem ganzen Menschen in Not unter größtmöglicher Achtung seiner Freiheit und Eigenverantwortung zuwendet.

Menschen, die sich in der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden engagieren, entdecken Sinnspuren des Lebens. Überzeugt, daß Leiden und Tod einen im Glauben ruhenden Sinn haben, stehen sie für Menschen an der Sinnschwelle ihrer Existenz ein. Sie stehen vor den Lebensschicksalen anderer und werden – bewußt oder unbewußt – mit ihrem eigenen Leben und Sterben konfrontiert. Indem sie den leidenden Menschen tragen, erfahren sie sich von ihm getröstet. Oft wird dabei erlebbar: Die Lebensängste des Menschen sind auch seine Sterbensängste und die Lebenshoffnungen prägen auch seine Sterbenshoffnungen. Diese mitzutragen und vor Gott zu bringen: Das ist die Haltung des Christen, geschenkt aus gläubigem Vertrauen.

Wenn wir diesen Dienst Sterbenden noch tun können, ist es ein Anlaß, dankbar zu sein; denn es gibt Formen des Sterbens und des Todes, denen gegenüber wir machtlos sind, wo wir nur noch wenig oder nichts mehr tun können. Das ist z.B. der Fall, wenn wir bei einem qualvollen Sterben zugegen sind. In solchen Situationen bleibt uns nur noch das stille oder betende Dasein als letzter Beistand, der die Sterbenden in ihrem Erleben aber oft noch erreichen kann. Bei plötzlichem Sterben z.B. durch Unfälle oder Katastrophen werden wir mit dem unvorbereiteten, nicht von anderen begleiteten Sterben und Tod konfrontiert. Der Blick auf den Tod des Gekreuzigten lehrt uns, keine Rückschlüsse von den verschiedenen Todesarten auf Annahme oder Ablehnung durch Gott zu ziehen. Alle Toten – wie immer sie auch sterben – ruhen in Gottes Hand und harren der Gnade Gottes entgegen. Zugleich ist die Möglichkeit eines plötzlichen Todes eine Mahnung für jeden einzelnen, wachsam zu sein und so zu leben, wie er in seiner Todesstunde wünschen wird, gelebt zu haben.

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