Verantwortung und Weitsicht.

Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Reform der Alterssicherung in Deutschland, Gemeinsame Texte 16, 2000

5. Ziele einer langfristig angelegten Reform der Alterssicherung

Reformen, die dem Gedanken der Generationengerechtigkeit Stand halten, sind unabdingbar. Diese müssen - bezogen auf den einzelnen Versicherten - an dem Ziel ausgerichtet sein, ein menschengerechtes Auskommen im Alter zu sichern, das auf die individuelle Lebensleistung in Form der jeweiligen monetären und nicht-monetären Beiträge bezogen ist und Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung sichert. Zugleich müssen die Reformen - bezogen auf die jeweils betroffenen Generationen - eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Generationen anstreben, die den generativen Beitrag der jeweiligen Rentnergeneration nicht außer Betracht läßt und die aktive Generation nicht einseitig überfordert.

Eine Reform des gegenwärtigen Systems der Alterssicherung muß sich deshalb an folgenden Maßstäben messen lassen:

  1. Gerechtigkeit zwischen den Generationen : Die Alterssicherung muß dem Grundsatz der Gerechtigkeit zwischen den Generationen Rechnung tragen. Die Generationen müssen füreinander einstehen. Keine darf die andere über das rechte Maß hinaus beanspruchen.
  2. Beitragsäquivalenz: Der Grundsatz der Beitragsäquivalenz fordert, daß Beiträge und Leistungen einander entsprechen müssen. Wer hohe Vorleistungen erbracht hat, soll im Alter viel bekommen, wer geringere Vorleistungen erbracht hat, soll weniger bekommen. (Vorleistungsgerechtigkeit)
  3. Verläßlichkeit und Vorhersehbarkeit : Alterssicherung muß verläßlich sein. Wer für das Alter vorsorgt und privat und gesetzlich Beiträge dafür erbringt, darf um seine Leistungen nicht betrogen werden. Alterssicherung darf auch nicht den Wechselfällen der politischen oder wirtschaftlichen Lage ausgesetzt sein. Jeder und jede hat einen Anspruch darauf, mit verläßlichen Rahmenbedingungen rechnen zu können. Es ist eine Eigenart aller Alterssicherungssysteme, daß sie auf Langfristigkeit angelegt sind: Ihnen geht es um Zukunftsvorsorge für den Fall des Alters, der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes. Es ist Aufgabe des Staates, vorausschauend verläßliche Rahmenbedingungen sowohl für öffentliche wie für private und betriebliche Formen der Altersvorsorge zu schaffen. Nur durch rechtzeitig vorgenommene Weichenstellungen läßt sich das notwendige Vertrauen in das System der Alterssicherung langfristig sichern. Insofern genügt es nicht, lediglich kurzfristige Korrekturen vorzunehmen: Eine verläßliche Alterssicherung muß so ausgestaltet sein, daß sie auf Dauer Bestand hat und nicht mit jedem Regierungswechsel in Frage gestellt wird; deshalb ist bei Reformvorhaben auf diesem Gebiet ein weitreichender politischer Konsens erforderlich.
  4. Die gesetzliche Alterssicherung ist angewiesen auf die Solidarität von Erwerbstätigen und Rentnern, von Arbeitenden und Arbeitslosen, von Alleinlebenden und Familien mit Kindern. Diese Solidarität muß alle (!) Erwerbstätigen in die Verantwortung einbeziehen. Bei einer so fundamentalen Frage wie der solidarischen Sicherung im Alter dürfen auf Dauer nicht ganze Bevölkerungsteile ausgeklammert bleiben, auch wenn gerade der Zeitpunkt der Einbeziehung weiterer Gruppen von Versicherten in die gesetzliche Rentenversicherung vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung besonders bedeutsam ist.
  5. Solidarität und Subsidiarität dürfen nicht getrennt werden. Das Subsidiaritätsprinzip fordert, daß jeder und jede aus eigener Kraft und Initiative das leistet, was er oder sie leisten kann. Jeder sollte in der Lage sein, selber für sein Alter vorzusorgen. Solidargemeinschaft und Gemeinwesen fällt die Aufgabe zu, die Möglichkeit und Fähigkeit zur Eigenverantwortung und eigenverantworteten Vorsorge zu fördern. Eine solche Stärkung der Selbstvorsorgemöglichkeiten im Sinne echter Subsidiarität schließt eine Lastenverschiebung auf die schwächeren Schultern und eine Überforderung der Schwächeren aus. Die Schwächeren benötigen Hilfen und keine zusätzlichen Lasten. Es geht um die unterstützende Aktivierung des einzelnen und nicht um den Abbau von Solidarität.
  6. Eigenvorsorge : Die Solidargemeinschaft der Versicherten kann Alterssicherung nur bis zu einer bestimmten Höhe gewährleisten. Wenn es darum geht, den Lebensstandard im Alter zu erhalten und einen sozialen Abstieg im Rentenfall zu vermeiden, muß es neben der gesetzlichen Alterssicherung weitere zusätzliche Sicherungen geben. Es müssen geeignete institutionelle Grundlagen für weitere - kapitalgedeckte - Formen der Alterssicherung geschaffen und die insoweit bereits bestehenden Einrichtungen und Möglichkeiten systematisch ausgebaut werden. Gerade bei einer Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bekommen betriebliche Alterssicherung und Eigenvorsorge eine besondere Bedeutung. Die Situation der Schwächeren, die große Mühe haben, einen ohnehin niedrigen Lebensstandard im Alter zu erhalten, muß hier mit im Blick sein.
  7. Erhaltung der Lebensverhältnisse im Alter : Das Verständnis des modernen Sozialstaates zielt darauf, daß bei Eintritt des Versorgungsfalles kein gravierender sozialer Abstieg erfolgt. So soll auch zwischen der Lebensführung in der Erwerbsphase und der in der Rentenphase kein Bruch entstehen. Wer in den Ruhestand eintritt, sollte an seine bisherigen Lebensverhältnisse anknüpfen können und eine auskömmliche Sicherung haben. Die Systeme der Alterssicherung (gesetzliche Alterssicherung, Eigenvorsorge und betriebliche Vorsorge) müssen deshalb insgesamt so gestaltet sein, daß dieses Ziel erreicht werden kann.
  8. Eigenständigkeit der persönlichen Sicherung : Jeder und jede Erwerbstätige sollte eine eigenständige Rentenversicherungsbiographie und damit eine eigenständige Sicherung im Alter haben. Unabhängig von ihrem Familienstand oder ihrer Lebenssituation sollten Mann und Frau eigene Anwartschaften - während der Ehe in gleicher Höhe - erwerben.
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