Verantwortung und Weitsicht.

Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Reform der Alterssicherung in Deutschland, Gemeinsame Texte 16, 2000

6. Auf die Zukunft vorbereiten

  1. Grundsätzliches Festhalten am System einer obligatorischen Alterssicherung : Gerade wenn man das Ziel verfolgt, das bisherige System der gesetzlichen Alterssicherung leistungsfähig zu erhalten, ist es notwendig, an der gegenwärtigen Systementscheidung zugunsten einer allgemeinen und obligatorischen Alterssicherung in Deutschland festzuhalten. Alterssicherung bedarf in einer sozialstaatlich verfaßten Gesellschaft eines obligatorischen Versicherungssystems mit Ausgleich besonderer sozialer Belastungen. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen wie der absehbaren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kann eine angemessene Kernsicherung für die große Mehrheit der Bevölkerung nur von einer obligatorischen und solidarischen Sozialversicherung erwartet werden. Individuelle Vorsorge dagegen und familiäre Selbsthilfe können für die große Mehrheit nur eine ergänzende, wenn auch immer wichtiger werdende Funktion bei der Abdeckung der großen regelmäßigen Risiken haben. Die Umlagefinanzierung hat sich über unterschiedliche gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Lagen hinweg im Großen und Ganzen bewährt. Eine grundlegende Umstellung von diesem Finanzierungsmodus in einen anderen - kapitalgedeckten - wäre nicht nur ordnungspolitisch problematisch, sondern würde auch gravierende Anpassungsprobleme mit sich bringen.

  2. ersicherungspflicht für alle Erwerbstätige : Das gegenwärtige System stellt - einem traditionellem Bild von Schutzbedürftigkeit folgend - einseitig auf die abhängige Erwerbstätigkeit ab. Diese Blickrichtung hat angesichts vielfältiger neuer Formen zwischen klassischer Selbständigkeit und abhängiger Erwerbstätigkeit seine ursprüngliche Legitimationskraft verloren. In der modernen Gesellschaft sichern die Erwerbsarbeit und das Einkommen die wirtschaftliche Lebensgrundlage. Dies gilt für jede Form der beruflichen Tätigkeit, ob sie abhängig erfolgt oder nicht. Da die elementaren Risiken, die traditionell von der gesetzlichen Rentenversicherung abgedeckt werden, jeden treffen (können), ohne für den einzelnen abschätzbar zu sein, ist eine alle umfassende gesetzliche Kernsicherung, die dem Grundsatz gemeinsamer Vorsorge für das Alter verpflichtet ist, angemessen. Eine Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen bedeutet auch eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis.

    Bei einer Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen sind die Probleme existierender z. B. berufsständischer Pflicht-Alterssicherungssysteme wie auch die beamtenrechtlichen Vorsorgesysteme zu berücksichtigen. Langfristig und unter Wahrung des geltenden Vertrauensschutzes sollten auch Beamte künftig in die Solidargemeinschaft der Versicherten einbezogen sein.

  3. Eigenständige Sicherung für jede Frau und jeden Mann : Die Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle muß zugleich mit der Lösung der Frage einer eigenständigen Rentenbiographie für Frauen verbunden werden. Frauen leisten mit der Geburt und Versorgung von Kindern, aber auch mit der Pflege von Angehörigen einen auch gesellschaftlich höchst bedeutsamen Beitrag für die weitere Entwicklung des Gemeinwesens. Die Erziehung von Kindern durch die Eltern ist zugleich eine für die Gesellschaft grundlegende Aufgabe. Beides muß sich auch in der gesetzlichen Ausformung der Alterssicherungssysteme niederschlagen. Dabei ist sicherzustellen, daß in Perioden der Kindererziehung die Beitragszahlung durch den Staat übernommen wird.

    Dennoch erhalten Frauen in vielen Fällen immer noch keine eigenständige soziale Sicherung, die ihren besonderen Biographien und einem gewandelten Rollenverhalten Rechnung trägt. Eine Neuregelung der Versicherungspflicht sollte deshalb auch die Einführung einer je eigenständigen sozialen Sicherung und einer persönlichen Rentenbiographie umfassen. Dies ist vom Verständnis der menschlichen Person her zu begründen. Die Person ist Ursprung, Träger und Ziel allen gesellschaftlichen Lebens, auch der Wirtschaftstätigkeit und ebenso der Vorsorge gegen die Hauptrisiken des Lebens. Männer und Frauen sind gleichberechtigt und gleichgestellt.

    Frauen haben in der Regel geringere Einkünfte als Männer und arbeiten in vielen Fällen in Teilzeitarbeit oder sind alleinerziehend. Frauen haben in solchen Fällen oftmals nicht die notwendige Ressourcen für eine eigenständige Sicherung. Auch hier wird deutlich, wie notwendig eine Verbesserung ihrer Chancen ist.

    Der sozialen Einheit in Ehe und Familie entspricht es, wenn die aus Erwerbs- und Familientätigkeit resultierenden Rentenansprüche beiden Partnern für die Dauer ihrer Ehe zu gleichen Teilen gutgeschrieben werden Bei Ehescheidungen, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen hat, werden die Versorgungsansprüche in der Regel schon heute aufgeteilt, die sich ergebende Rente liegt im Normalfall noch unter der Witwenrente.

  4. Verläßlichkeit der bisherigen Hinterbliebenenversorgung : Neuregelungen zur Hinterbliebenenversorgung müssen eheliche Lebensentwürfe unangetastet lassen, die bereits vor dem Inkrafttreten einer entsprechenden Reform und damit auch im Vertrauen auf die derzeit geltenden Bestimmungen realisiert wurden. Dies gilt insbesondere für die Hinterbliebenenversorgung. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Rechts der Hinterbliebenenrenten ist alles in allem durchaus von Augenmaß gekennzeichnet. Änderungen würden vor allem Frauen treffen, die vielfach Beiträge in Kindererziehung und gesellschaftliche Arbeit erbracht haben. Es muß vermieden werden, daß die entsprechenden Lebensentwürfe durch neue Regelungen entwertet und einer bestimmten Gruppe Sonderlasten auferlegt werden. Die Einführung einer eigenständigen Sicherung von Frauen kann daher zunächst nur für junge Frauen erfolgen. Für eine Umstellung der Hinterbliebenensicherung sind ausreichende Übergangsfristen nötig, in denen zwei Systeme gleichzeitig bestehen.

  5. Die Aufnahme eines Korrekturfaktors in die Rentenformel : Die Lasten bei der Sicherung im Alter müssen zwischen den Generationen gerecht verteilt werden. Die Tatsache, ob eine Generation viele oder wenige Kinder bekommen hat, hat Folgen für das System der Alterssicherung. Werden immer weniger Kinder geboren, entsteht ein Gerechtigkeitsproblem. Eine Generation mit einer geringeren Nachkommenschaft kann nicht die gleichen Renten in gleicher Höhe beziehen wie eine Generation mit zahlreicher Nachkommenschaft, vor allem dann nicht, wenn eben diese nachfolgende Generation nicht unverhältnismäßig hohe Beiträge zur Sicherung der nicht erwerbstätigen Generation aufbringen soll.

    Veränderungen im Verhältnis von Rentenbeziehern und Beitragszahlern erfordern einen Ausgleich, der durch einen besonderen Faktor in der Rentenformel berücksichtigt werden sollte. Das wird nicht ohne Auswirkungen auf das Rentenniveau zu erreichen sein. Dieser muß allerdings mehr umfassen als nur die Lebenserwartung. Er muß neben der Lebenserwartung auch die Geburtenentwicklung und andere relevante Faktoren einbeziehen. Die Rentenformel muß die Entwicklung der Relation von Beitragszahlern und Rentenbeziehern berücksichtigen und für eine Verteilung der Last auf Rentner, Beitragszahler und Steuerzahler sorgen. Vor dem geschilderten Hintergrund würde eine Entscheidung, die vorrangig darauf setzt, die Finanzierungsprobleme zu gegebener Zeit "irgendwie" durch eine Erhöhung der Beitragssätze aufzufangen, nicht nur eine schwere Belastung des Arbeitsmarktes darstellen und einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft ausstellen. Sie würde auch das Gebot der Generationengerechtigkeit nachhaltig verfehlen. Ebenso wenig dürfen die Beiträge festgeschrieben und die Probleme nur bei den Rentnern abgeladen werden.

  6. Renteneintrittsalter : Die Rentenbezugsdauer spielt für die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung eine nicht unbedeutende Rolle. Aus diesem Grunde darf das Renteneintrittsalter kein Tabu sein. Der Trend eines ständig sinkenden Durchschnittsalters beim Renteneintritt darf sich - bei aller Rücksichtnahme auf den Arbeitsmarkt - keinesfalls fortsetzen. Versicherungsmathematische Abschläge bei einem früheren Rentenbezug sind ebenso ein Gebot von Vorleistungsgerechtigkeit wie von rentenpolitischer Weitsicht.

  7. Gewährleistung einer Mindestsicherung : In ihrem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (1997) haben die beiden Kirchen betont, der Sozialstaat sei "verpflichtet, jedem Menschen in Deutschland ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen." (Ziff. 179) Die vorhandenen Systeme der sozialen Sicherung müßten deshalb ihren Aufgaben so weit nachkommen, daß die in ihnen gesicherten Menschen nicht der Armut anheim fallen. Sie müssen "armutsfest" sein. Eine ausreichende Sicherung zu erreichen wird in einer Zeit, in der das erzielbare Einkommen während der Erwerbstätigkeit in nicht wenigen Fällen unzureichend ist, immer wichtiger.

  8. In der gegenwärtigen Diskussion werden im Wesentlichen vier unterschiedliche Wege genannt, die darauf abzielen, Altersarmut zu vermeiden:

    • die "Grundrente": Eine "Grundrente", die voll aus Steuermitteln finanziert wird, ist grundsätzlich zu unterscheiden von einer Kernsicherung im hier gebrauchten Sinn. Eine "Grundrente" ist kein geeigneter Weg zur ausreichenden Sicherung im Alter. Sie verfehlt den Grundsatz der Vorleistungsgerechtigkeit. Ihre Finanzierbarkeit ist labil, denn es besteht die Gefahr, daß ihre Höhe von der jeweiligen Kassenlage der öffentlichen Haushalte abhängig gemacht wird.
    • die Sozialhilfe als letztes Netz: Die Sozialhilfe ist sicherlich ein geeignetes Mittel zur Vermeidung von Altersarmut. Gegenwärtig nimmt sie diese Rolle auch wahr. Allerdings entsteht dann, wenn eine obligatorische Sicherung für alle gefordert wird, ein Problem: Menschen, die zur Teilnahme an einem System sozialer Sicherung gezwungen werden, erhalten in bestimmten Fällen bei Eintritt des Versicherungsfalls keine ausreichende Rente und werden auf die Sozialhilfe verwiesen. Es kommt hinzu: Die Sozialhilfe würde als erklärte Mindestsicherung gegen Altersarmut zur Regelsicherung.
    • das Auffüllen von Renten in den Fällen, in denen mit den erworbenen Rentenanwartschaften kein ausreichendes Rentenniveau erreicht wurde: Dies ist ebenfalls ein geeigneter Weg. Allerdings ist hier in jedem Fall auf die Bedürftigkeit im Einzelfall zu achten, damit am Schluß nicht doch eine zu geringe (oder auch zu hohe) Rente steht.
    • das Auffüllen von Beiträgen: Hier wird davon ausgegangen, daß jeder und jede bei Einzahlung der vollen Beiträge im Alter eine auskömmliche Rente erhält, die zumindest über Sozialhilfeniveau liegt. In den Fällen, in denen Menschen mit sehr geringem Einkommen, schicksalhaft unterbrochenen Versicherungsbiographien, Arbeitslose und Kindererziehende zeitweise keine Beiträge in ausreichender Höhe einzahlen können, hilft der Staatshaushalt durch das Auffüllen der Beiträge. Dieser Weg ist der wohl sinnvollste. Er ist geeignet, Altersarmut zu vermeiden. Allerdings muß auch hier der Gesichtspunkt der Bedürftigkeit in geeigneter Weise Beachtung finden.
    Bei einer Mindestsicherung ist zu beachten, daß sie keine falschen Anreize setzt und die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Vorsorge für das Alter nicht relativiert. Es darf nicht übersehen werden, daß ein Element des Gerechtigkeitsproblems darin besteht, ob die gesetzlich geregelte Altersvorsorge auch geeignet ist, aufs Ganze betrachtet zumindest eine bedarfsgerechte Mindestsicherung bereitzustellen: So wie bei der Reform die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht ausgeblendet werden darf, darf die des Ausgleichs zwischen den Leistungsfähigeren und den sozial Schwachen nicht ausgeklammert werden.
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