Auf Grenzen achten - Sicheren Ort geben

Prävention und Intervention. Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt

Theologische Aspekte

Für keine Form sexualisierter Gewalt und für kein Handeln, das Menschen missbraucht, gibt es nach christlich-biblischem Verständnis eine Legitimation oder Rechtfertigung. Eine Orientierung an biblischen Gottes und Menschenbildern macht im Gegenteil deutlich, dass diese Form der Grenzverletzung im Gegensatz zu dem steht, was Gott nach biblischem Verständnis für Menschen will beziehungsweise von menschlichem Handeln erwartet.

Nach der alttestamentlichen Schöpfungserzählung gründet menschliches Dasein in der Beziehung, die Gott als Schöpfer zum Menschen aufnimmt. Dass der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen ist, drückt die besondere Würde des Menschen aus, die aus dieser Beziehung zu Gott resultiert. Jeder Mensch ist eine von Gott geliebte Person und darauf angelegt, in Entsprechung zum beziehungsreichen Gott selber auch in Beziehungen zu anderen Menschen zu leben. Dies gilt ausnahmslos für alle Menschen, insbesondere auch für Jugendliche und Kinder, die Jesus als Vorbilder des Reiches Gottes besonders würdigt (Markus 10,1316).

Mit dem Motiv der Gottebenbildlichkeit verbindet sich jedoch weniger die Frage, worin die Würde des Menschen besteht, als vielmehr der Hinweis, worauf sie zielt nämlich darauf, dass Menschen positive Beziehungen leben und Verantwortung für die Beziehungen übernehmen, in denen sie sich befinden und eine Kultur der Achtsamkeit entwickeln. Maßstab für das Handeln aller ist dabei das, was dem Leben und dem Zusammenleben dient, was Leben erhält, fördert und bereichert.

Der Realismus biblischer Erzählungen macht aber auch deutlich: Menschen handeln nicht immer konstruktiv und lebensdienlich sie können durch Gewaltanwendung Leben gefährden und zerstören. Biblische Texte schildern dies in erschreckend realistischer Weise. Auch sexualisierte Formen von Gewalt werden geschildert und thematisiert (2. Samuel 13; Genesis 34; Richter 19 oder Richter 21). Dass biblische Texte Gewalt thematisieren, ist Ausdruck und gleichzeitig auch Protest gegen das Elend. Sie bezeugen menschliche Realität und sind zugleich Zeugnis des Versuchs ihrer Überwindung. Sexualisierte Gewalt wird in der Bibel öffentlich gemacht. Biblische Rechtstexte zeigen, dass Verdrängen und Verschweigen nicht zugelassen werden.

Vielmehr bedarf es verstärkter Aufmerksamkeit und Anstrengung, Leben zu erhalten, allen lebenszerstörenden Tendenzen entgegenzutreten, Ehrfurcht vor dem Leben zu wecken und zum Leben zu ermutigen.

Dennoch bleibt der biblische Befund nicht unproblematisch. In Texten, die von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen sprechen, ist nicht von einem Gott die Rede, der eingreift. Es bleibt die Frage: Wo also ist Gott, wenn sexualisierte Gewalt ausgeübt wird?

Dass menschlicher Schmerz und Entwürdigung aber nicht nur die leidenden Menschen, sondern auch Gott selbst treffen, wird daran deutlich, dass und wie Gott sich mit menschlichem Leid identifiziert: In all dem Leid der Israeliten geschah Gott Leid (Jesaja 63,9). Das Neue Testament beschreibt Jesus Christus als den sich einmischenden, mit leidenden Gott, der „mitfühlt mit unserer Schwäche“ (Hebräer 4,15).

Auf dieser Spur geht es der Kirche in ihrer Diakonie um die Nachfolge Christi [1]. Indem sich der biblisch bezeugte Gott in seiner Identifikation mit seinem Volk und mit Jesus von Nazareth auf die Seite unter Gewalt leidender Menschen gestellt hat, wird deutlich, dass Gewalt kritisiert und überwunden werden soll. Wird die von Gott Menschen geschenkte Würde verletzt, trifft dies nach biblischer Überzeugung auch Gott selbst: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verletzt Gott selbst.

Christliche Ethik fordert dazu auf, die von Gott verliehene menschliche Würde zu achten und zu schützen. Dies gilt für den Einsatz präventiver und intervenierender Maßnahmen. Alle sind aufgefordert, die Würde und das Freiheitsrecht derer wahrzunehmen und zu achten, denen Gewalt angetan wird.

Dies bedeutet:

  • Für Täterinnen und Täter: die gewohnten Strukturen der Gewalt zu verlassen.
  • Den Einsatz präventiver und intervenierender Maßnahmen.

Sie ermutigt Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, zur Klage und zum Protest. Aus christlicher Perspektive sind auch Wissende von Gewalt dazu verpflichtet, die Betroffenen solidarisch zu unterstützen, und zur Ermöglichung von Gerechtigkeit beizutragen. Wenn das Leben trotz der Realität menschlichen Schuldigwerdens gelingen soll, müssen Taten klar erkannt und benannt werden, um dann konstruktiv nach Wegen der Bearbeitung zu suchen. So kann es Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, möglich werden, aus dem Teufelskreis der Gewalt aus und in ein neues Leben aufzubrechen.

Die kirchlich-diakonische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist im hohen Maße Beziehungsarbeit und hat von ihrem Selbstverständnis her den Anspruch, Kindern und Jugendlichen einen sicheren und geschützten Raum zu bieten, in dem sie die Gaben des Lebens entfalten und sich ausprobieren können.

Kirchlich-diakonische Einrichtungen, Dienste, Gemeinden und Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, stehen deshalb berechtigt im Fokus kritischer Beobachtung. Die Frage ist, wie sehr sie ihrem proklamierten Selbstverständnis entsprechen. Die christliche Einsicht in die Freiheit und Würde, aber auch in das Gewaltpotenzial jedes einzelnen Menschen verpflichtet zu einem konsequenten Eintreten für die Rechte und das Leben von Menschen und dazu, jedem Menschen und vor allem schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen Respekt und Achtung entgegenzubringen.

Nächstes Kapitel