Auf Grenzen achten - Sicheren Ort geben

Prävention und Intervention. Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt

Teil 2: Maßnahmen zum Schutz - Prävention

I. Prävention

1. Grundlagen der präventiven Arbeit

Prävention als Schutz vor Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung in Einrichtungen der Kirche und Diakonie bedeutet eine Haltung der Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Nächstenliebe und des Respekts. Diese Haltung ist begründet im christlichen Menschenbild und im Auftrag kirchlich-diakonischer Arbeit, sich für das Wohl von Menschen zu engagieren. Sie ist Grundlage dafür, eine Kultur des Respekts, der Wertschätzung, der Achtung von Nähe und Distanz und der Wahrung persönlicher Grenzen zu schaffen, zu bewahren und zu befördern. Präventionsarbeit kann sich deshalb nicht auf eine reine Wissensvermittlung beschränken, sondern greift tiefer. Eine wirksame Prävention ist kein Programm, sondern ein Prinzip.

Prävention von sexualisierter Gewalt ist ein Thema, das alle angeht und das nur gemeinsam zu erreichen ist. Sehr gut ausgearbeitete Schutzkonzepte bewirken nichts, wenn die Mitarbeitenden nicht dahinterstehen und sich nicht mit dem Gedanken und dem Schutzauftrag identifizieren. Die Grundlagen sollten deshalb von den Mitarbeitenden gemeinsam erarbeitet und von ihnen getragen werden und bedürfen immer wieder einer neuen Diskussion. Entscheidend ist ebenfalls, dass von Beginn an die Leitungsebene der Institution den Prozess unterstützt und daran mitwirkt. Die Umsetzung innerhalb der Institution ist eine zentrale Aufgabe der Leitung ist es, in transparenter Weise dafür Sorge zu tragen, dass alle Beteiligten ihre Rechte und Pflichten, ihre Handlungsräume und Grenzen sowie die Möglichkeiten der Beteiligung und Einflussnahme kennen. Arbeitsweisen und Regeln sind so zu formulieren, dass sie nach innen und außen transparent und diskutierbar sind.

Bis Präventionsmaßnahmen fester Bestandteil des Arbeitsalltags sind, vergeht ein Zeitraum von mehreren Monaten bis zu einigen Jahren. Im Rahmen langfristig angelegter Organisationsentwicklungsprozesse müssen die umgesetzten Maßnahmen regelmäßig evaluiert, überprüft und weiter entwickelt werden.

2. Maßnahmen der Prävention

2.1 Leitbild und Verhaltenskodex
Kultur der Achtsamkeit als Bestandteil des Leitbildes

Im Leitbild werden das Selbstverständnis und die Grundprinzipien einer Organisation festgelegt, ebenso grundlegende ethische Standards für die Arbeit mit Menschen und das berufliche Handeln [60]. Im Leitbild des Diakonie Bundesverbandes steht zum Selbstverständnis folgendes: „Das Leitbild des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland will Orientierung geben, Profil zeigen, Wege in die Zukunft weisen“…“Wir verstehen das Leitbild als Selbstverpflichtung.“ [61]

Grundlage des Leitbilds ist eine „Kultur der Achtsamkeit“. Achtsamkeit beginnt damit, dass jede einzelne Person aufmerksam mit sich selbst umgeht – mit den eigenen Gefühlen, mit Ideen und Kritik, mit Transparenz und Zusammenarbeit. Dieser veränderte Umgang mit sich selbst führt gleichermaßen zu einem veränderten Umgang mit den „Anderen“, ob Kinder, Jugendliche oder auch zum Beispiel Kollegen und Kolleginnen. Eine Kultur der Achtsamkeit beinhaltet feinfühlig dafür zu werden, wie die Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihre Partizipation gewährleistet werden können. Sie hilft, Kinder- und Jugendschutz selbstverständlich zu verwirklichen.

Im Leitbild eines Trägers oder einer Einrichtung ist die Haltung gegenüber sexualisierter Gewalt zum Ausdruck zu bringen. Bereits hier sollte der Umgang mit Sexualität in der Einrichtung klar und deutlich benannt und auf das sexualpädagogische Konzept verwiesen werden [62]. Daneben sind Themen wie zum Beispiel Nähe und Distanz, Gewaltfreiheit und Kinderrechte zu behandeln.

Das Leitbild sollte allen Mitarbeitenden bekannt sein und von allen ausdrücklich mit getragen werden. Grundsätzlich sollten auch Kinder- und Jugendliche sowie Eltern über die Inhalte angemessen informiert sein. Um eine möglichst hohe Identifikation zu erreichen, sollten alle Mitarbeitenden und gegebenenfalls die Kinder und Jugendlichen bei der Erarbeitung und Weiterentwicklung des Leitbildes beteiligt sein.

Ausgehend vom Leitbild sind Verhaltenskodizes oder Selbstverpflichtungen abzuleiten beziehungsweise zu erarbeiten.

Verhaltenskodex

Verhaltenskodizes beschreiben Handlungsrichtlinien, nach denen Mitarbeitende ihr Verhalten ausrichten sollen. Im Verhaltenskodex sollten vor allem Hilfestellungen, Anregungen und / oder konkrete Verhaltensweisen für den Umgang mit sexualisierter Gewalt und Gewaltpotenzialen benannt sein. Geregelt werden sollte, wie in Verdachtsfällen der Umgang der Mitarbeitenden untereinander und das Verhalten den Kindern und Jugendlichen und gegebenenfalls deren Eltern gegenüber aussehen soll. Dies bezieht sich vor allem auf Inhalt, Tempo und Abläufe (Hierarchie) der Information.

Im Verhaltenskodex sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden:

  • das Nähe–Distanzverhältnis von Mitarbeitenden zu Schutzbefohlenen
  • die Trennung von beruflichen und privaten Kontakten
  • das Nähe–Distanzverhältnis von Mitarbeitenden untereinander
  • der respektvolle Umgang miteinander
  • der Sprachgebrauch innerhalb der Institution
  • der Schutzauftrag
  • die Raumnutzung
  • das Verhalten bei Ausflügen und Freizeiten

Die Liste der aufgeführten Themen ist nicht abschließend. Es gibt noch viele weitere Risikofaktoren. Sie gilt es einrichtungsspezifisch zu ermitteln, um ihnen durch eine überlegte, geplante und kontrollierte Konzeption entgegen zu wirken.

Wichtig ist, dass deutlich benannt wird, welche Konsequenzen eine Zuwiderhandlung gegen die oben formulierten Punkte nach sich zieht.

Im Anhang findet sich beispielhaft das Leitbild von Hochdorf, Evangelische Jugendhilfe im Kreis Ludwigsburg e. V. (Anlage 2) sowie ein Verhaltenskodex zur Verhinderung von Gewalt der Jugendkammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (Anlage 3).

Risikoanalyse

Eine Risikoanalyse in der Gemeinde, der Einrichtung oder Institution ist notwendig, um die Bereiche zu identifizieren, in denen Kinder und Jugendliche potenziell der Gefahr sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Mithilfe einer Risikoanalyse können zum einen Risiken festgestellt werde, zum anderen kann überprüft werden, ob ausreichende Maßnahmen zur Vermeidung sexualisierter Gewalt getroffen wurden.

Eine effektive Risikoanalyse besteht aus:

  • der Identifizierung des Risikos,
  • der Entwicklung von Ideen zur Risikovermeidung und Prävention,
  • einer Dokumentation der entdeckten Risiken und der Wege zur Vermeidung und Prävention sowie
  • einer regelmäßigen Überprüfung der Situation (Implementierung) [63].

Eine effektive Risikoanalyse bezieht immer alle beteiligten Akteurinnen und Akteure ein. In der Regel wissen die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, aber auch die Eltern sehr gut, an welchen Stellen Kinder und Jugendliche besonders gefährdet sind.

2.2 Die Mitarbeitenden - Personalmanagement

Die Auswahl der Mitarbeitenden hinsichtlich ihrer persönlichen Eignung und Fachlichkeit sowie eine nachhaltige Qualifikation durch Weiterbildungen sind wichtige Verantwortungsbereiche des Personalmanagements. Es müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die es ermöglichen, regelmäßig Raum für Fragen von sexualisierter Gewalt zu schaffen.

Die Einrichtungen oder die Träger stellen sicher, dass Prävention gegen und der Umgang mit sexualisierter Gewalt in ihren Konzepten zum Personalmanagement berücksichtigt werden. Machtstrukturen sind zu reflektieren, individuelle und geschlechtsspezifische Grenzen der Kinder und Jugendlichen sind zu achten, versehentliche Grenzüberschreitungen können ohne Angst vor emotionalen und anderen Sanktionen angesprochen werden.

Die im Leitbild beschriebene Grundhaltung wird bei der Personalauswahl, in Arbeitsverträgen und vorgelegten Arbeitszeugnissen berücksichtigt.

Personalauswahl

Eine strukturelle Bedingung, durch die sichere Orte geschaffen werden können, besteht schon bei der Personalauswahl. Potentielle Täter und Täterinnen können bereits hier abgeschreckt und aus dem Bewerberfeld ausgeschlossen werden. Aber auch dies wird nicht verhindern können, dass es zu sexuellen Übergriffen kommen kann, weil potentielle Täter und Täterinnen ihre Tatabsichten erfolgreich verbergen [64] [65].

Schon bei Stellenanzeigen können Arbeitgeberinnen oder Arbeitgeber dem Bewerbenden gegenüber ihre Haltung zu grenzverletzendem Verhalten deutlich machen, indem sie den Ausschreibungstext in entsprechender Weise formulieren.

Im Bewerbungsgespräch sollten die Haltung des Trägers oder der Einrichtung, die Offenheit und Diskussionsbereitschaft in Bezug auf das Thema sexualisierte Gewalt deutlich gemacht werden. Dass es Kodizes zum Umgang mit sexualisierter Gewalt gibt und Verstöße dagegen sanktioniert werden, sollte ausdrücklich angesprochen werden. Die für die Personalauswahl Verantwortlichen erläutern zum Beispiel, welche Regelungen sie bereits getroffen haben und weisen auf die hohe Bedeutung von Prävention und Schutz der sexuellen Selbstbestimmung / Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen hin. Sofern ausgearbeitete Schutzkonzepte vorliegen, sollten diese ausgehändigt werden. Bestandteil in Bewerbungsgesprächen sollten Haltungsfragen der Bewerberin oder des Bewerbers gegenüber grenzverletzendem Verhalten beziehungsweise Einstellungen der Bewerbenden in Bezug auf sexualisierte Gewalt sein. Ebenso sind Themen wie der Umgang mit Nähe und Distanz anzusprechen.

Erklärungen und erweitertes Führungszeugnis

Empfehlenswert ist eine Erklärung als Anlage zum Arbeitsvertrag, in der die neuen Mitarbeitenden versichern, keine einschlägigen Straftaten begangen zu haben und dass kein Ermittlungsverfahren gegen sie anhängig ist. Zudem sollten sie sich in einer Erklärung verpflichten, auch in Zukunft der Einrichtungsleitung oder dem Träger umgehend die Einleitung eines etwaigen Ermittlungsverfahrens gegen sie aufgrund der zuvor genannten Straftaten mitzuteilen. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Arbeitgeberin / der Arbeitgeber bei Verstößen mit Maßnahmen reagieren wird, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherstellen. Ein Musterformular für eine Erklärung ist im Anhang (Anlage 4) beigefügt.

Neben dieser Erklärung bei Neueinstellungen empfiehlt es sich, von allen Mitarbeitenden (auch Küsterinnen und Küster, Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker und so weiter), Praktikanten und Praktikantinnen sowie von freiwillig Engagierten Erklärungen einzufordern, in denen sie sich dazu verpflichten, in ihrem Umgang mit den betreuten Kindern das Leitbild und die erarbeiteten Verhaltenskodizes zu beachten. Dadurch wird ein arbeitsrechtlicher Schritt bei Überschreitungen vereinfacht (vgl. Kapitel 2.1). Art, Intensität und Dauer des Kontakts mit Kindern und Jugendlichen sind zu berücksichtigen.

Bei der Personalauswahl und -einstellung verpflichtet § 72a SGB VIII (BKischG) Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, einschlägig vorbestrafte Personen nicht zu beschäftigen oder zu vermitteln. Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe sind daher aufgefordert, in regelmäßigen Abständen ein erweitertes Führungszeugnis gemäß § 30 BZRG von Bewerberinnen oder Bewerbern sowie bereits eingestellten Mitarbeitenden einzufordern. Diese Vorschrift gilt sowohl für hauptamtliche als auch für freiwillig Engagierte mit pädagogischer Verantwortung. Ein Formulierungsvorschlag ist im Anhang (Anlage 5) beigefügt.

Personalqualität

Die Mitarbeitenden müssen befähigt werden, das eigene Verhalten zu reflektieren und selbstkritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie einen gewaltfreien und wertschätzenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen pflegen. Dies beinhaltet die Bereitschaft, sich auf die hierfür notwendigen Prozesse einzulassen und eigene Positionen weiterzuentwickeln oder zu verändern. Voraussetzung ist, dass die entsprechenden strukturellen Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu gehört, dass es stets ausreichend Gelegenheit und Ruhe für kollegiale Beratung gibt. Ebenso sollte es regelmäßige verpflichtende Angebote zur Supervision geben.

Teambesprechungen

In regelmäßigen Teambesprechungen sollte Raum für Fragen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt sein. Themen wie zum Beispiel das Respektieren von Grenzen oder der Umgang mit Nähe und Distanz können im geschützten Raum offen angesprochen werden. Dies setzt eine Atmosphäre des Vertrauens, des Respekts und der Wertschätzung voraus.

Grundlage hierfür ist eine Kommunikationskultur der Offenheit und Transparenz. In Abhängigkeit von Einrichtungsgröße und Anzahl der Mitarbeitenden kann es hilfreich sein, trägerübergreifende Möglichkeiten des fachlichen Austausches zu initiieren und / oder zu nutzen.

Fort- und Weiterbildung

Fort- und Weiterbildungen zum Thema sexualisierte Gewalt vermitteln Wissen und schaffen Handlungssicherheit.

Einrichtungen oder Träger haben sicherzustellen, dass die Mitarbeitenden regelmäßig an Fort- und Weiterbildungen teilnehmen können, insbesondere zu Themen wie Erkennen und Beurteilen von Signalen und Symptomen, die auf sexualisierte Gewalt hinweisen könnten, ebenso zu Themen wie die Psychodynamik möglicher Opfer oder klassische Täterstrategien. Fundiertes Fachwissen zu kindlicher Sexualität, zu Definitionen sexueller Grenzverletzungen, Umgang mit Eltern und Mitarbeitenden bei Verdacht auf sexuelle Grenzverletzungen sind notwendig. Ebenso erforderlich ist, dass sich Mitarbeitende in Fortbildungen zugleich mit Fragen zu ihrer eigenen emotionalen und sozialen Kompetenz auseinandersetzen sowie die Kommunikationsfähigkeit stärken. Schulungen, die über Dynamiken in Einrichtungen aufklären sowie über begünstigende institutionelle Strukturen sind hilfreich. Ebenso sollte Mitarbeitenden Basiswissen zu einschlägigen Straftatbeständen und weiteren rechtlichen Bestimmungen vermittelt werden.

Fachspezifisches Informations- und Arbeitsmaterial ist allen Mitarbeitenden zur Verfügung zu stellen.

Sexualpädagogisches Konzept

In jeder Einrichtung sollte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ein umfassendes, angemessenes sexualpädagogisches Konzept zum Standard gehören, welches die grundlegende Haltung einer Einrichtung zu Sexualität wiedergeben sollte. Die altersgerechte Entwicklung, behindertenspezifische Gegebenheiten und der kulturelle Hintergrund der Zielgruppen aber auch der Mitarbeitenden sind dabei zu berücksichtigen. Dazu gehört auch eine fachliche und persönliche Auseinandersetzung der Mitarbeitenden mit Themen wie Sexualität und sexuelle Orientierung, Intimität und Beziehungsgestaltung sowie das Wahrnehmen und Anerkennen von Grenzen.

Das sexualpädagogische Konzept richtet sich zunächst an Kinder und Jugendliche, aber auch an die Eltern und Mitarbeitenden. Kinder und Jugendliche, die eine gute eigene Körperwahrnehmung haben und ihren Körper kennen, können zum Beispiel gute und schlechte Gefühle besser voneinander unterscheiden und haben eher gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen. Sie sind besser in der Lage, sexuelle Grenzüberschreitungen zu erkennen, sich abzugrenzen und im Fall eines Übergriffes die missbrauchende Person und den Tatvorgang zu benennen. Das Wissen um die Belange des eigenen Körpers und das Recht auf Abgrenzung stärkt die Kompetenzen und das Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen und erschwert es potentiellen Tätern und Täterinnen, ihren sexuellen Übergriff als unproblematische Normalität zu bezeichnen, darzustellen oder auszulegen.

Das sexualpädagogische Konzept sollte allen Mitarbeitenden, den Kindern und Jugendlichen sowie deren Angehörigen bekannt sein (vgl. Teil 1, II., 1. Sexualentwicklung von Kindern und Jugendlichen).

2.3 Die Kinder und Jugendlichen - Partizipation

Partizipation gilt als ein Schlüssel zum Kinderschutz. Unter Partizipation wird die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen bei allen das Zusammenleben betreffenden Ereignissen und Entscheidungsprozessen verstanden. Aktive Beteiligung durch die Verankerung verbindlicher Mitbestimmungsstrukturen ist Grundlage für die pädagogische Arbeit, die Arbeit mit den Eltern und das Miteinander im Team.

Wichtig ist eine altersgerechte Beteiligung aller. Damit Kinder und Jugendliche lernen, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu artikulieren, müssen sie im Rahmen einer wirkungsvollen Partizipation die Möglichkeit haben, sich an Diskussions- und Entscheidungsprozessen innerhalb der Einrichtungen zu beteiligen, ihre Interessen einzubringen und Gehör zu finden. Die Erfahrung, sich erfolgreich in Beteiligungsverfahren einbringen zu können, erzeugt eine offene, vertrauensvolle Atmosphäre und erleichtert es sowohl Kindern und Jugendlichen als auch Mitarbeitenden, offen Situationen anzusprechen, in denen sie Grenzüberschreitungen erlebt oder beobachtet haben. Wenn Gefühle und Bedürfnisse als grundsätzlich berechtigt akzeptiert werden, werden Grenzüberschreitungen bewusster wahrgenommen und die Verbalisierung fällt leichter.

Echte Partizipation ist anspruchsvoll. Sie ist ein Handlungsprinzip, das mit besonderen Anforderungen, Ambivalenzen und Unsicherheiten für Fachkräfte und Zielgruppen verbunden ist. Partizipation verlangt nach mehr als Methoden und Konzepten. Sie stellt herkömmliche Standards und Verfahren infrage, fordert alle Beteiligten täglich aufs Neue: Indem sie die Fachkräfte nötigt, sich zurückzunehmen, sich auch in Frage stellen (lassen) zu müssen; und weil sie Kinder und Jugendliche mit Anforderungen konfrontiert, die sie in ihrer bisherigen Biografie oftmals weder kennen noch zu bewältigen gelernt haben.

Umso erforderlicher ist es, die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte wesentlicher Bestandteil eines präventiven Konzeptes sind.

Auf Trägerebene:

  • partizipative Kommunikationsstrukturen, Mitwirkungsrechte in Entscheidungsprozessen

Auf Ebene der Mitarbeitenden:

  • Teambesprechungen, gemeinsame Absprachen, transparente Aufgabenverteilung, klare Hierarchien und Kompetenzen

Auf Ebene der Kinder und Jugendlichen:

  • partizipative Grundhaltung, Transparenz bei Entscheidungen (Gruppensprecher), Kinderkonferenzen, Vertrauenspersonen.

Beschwerdeverfahren
Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten innerhalb von Einrichtungen

Ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen sowie zur Stärkung ihrer Rechte sind altersgerechte Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten [66]. Träger der Kinder- und Jugendhilfe müssen für die Erteilung einer Betriebserlaubnis geeignete Verfahren der Beteiligung sowie Möglichkeiten der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten einrichten (§ 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII). Auch für Eltern sollten Möglichkeiten geschaffen werden, sich zu beschweren.

Ein wirkungsvolles Beschwerdemanagement beinhaltet eine entsprechende Konzeption, Umsetzung und Durchführung sowie Prüfung und Auswertung [67]. Es ist eine positive Beschwerdekultur zu entwickeln, so dass eine Verbesserung und Weiterentwicklung der inhaltlichen Arbeit etabliert wird. Dazu gehört selbstverständlich, dass Beschwerden ernst genommen werden und Vorwürfen nachgegangen wird, damit es zu einer Klärung beziehungsweise Aufdeckung von Missständen kommen kann, die dann Veränderungen möglich machen. Beschwerden sind zu versachlichen und professionell zu bearbeiten. Es darf zu keiner Bagatellisierung von Meldungen kommen. Der konstruktive Umgang mit Beschwerden ermöglicht ein verantwortliches Handeln und gibt den Beteiligten einen festgelegten Rahmen, innerhalb dessen sie Probleme unter Wahrung der Vertraulichkeit ansprechen können.

Systematische Beschwerdeverfahren regeln die Art und Weise des Umgangs mit Beschwerden in einer Einrichtung oder Gemeinde und schaffen klare und sichere Arbeitsstrukturen. Festgelegt werden unter anderem folgende Aspekte [68]:

  • Geltungsbereich (zum Beispiel: Ziele des Verfahrens)
  • Abläufe bei der Beschwerdebearbeitung wie zum Beispiel ein Erstgespräch zur Klärung des Anliegens sowie die Festlegung von Ansprechpersonen [69]
  • Dokumentation (inklusive Beschwerdeformulare) und Evaluation von Beschwerden
  • Einleitung von Veränderungsmaßnahmen
  • Instrumente zur Information

Je nach strukturellen, konzeptionellen und regionalen Gegebenheiten sind die benannten Aspekte auf jede Einrichtung oder Gemeinde individuell zuzuschneiden.

Voraussetzungen für eine gelingende Implementierung von Beschwerdeverfahren sind die Kultur einer Einrichtung und die Haltung der Mitarbeitenden. Das Vorhandensein formell festgeschriebener Beschwerdeverfahren allein reicht nicht aus, um zu sichern, dass Kinder und Jugendliche diese auch in Anspruch nehmen. Eine beschwerdefreundliche Einrichtungskultur ist geprägt durch einen wertschätzenden Umgang aller Beteiligten und ein professionelles Selbstverständnis, das Fehler als Bestandteil der alltäglichen Berufspraxis begreift und als Auslöser der Veränderung wertschätzt [70].

Bedeutsam für das Gelingen ist auch hier die Beteiligung aller Akteurinnen und Akteure an dem Entwicklungsprozess. Um eine Akzeptanz für die entwickelten Verfahren zu erhalten, müssen Vorbehalte und Ängste von Fachkräften ernst genommen und abgebaut werden [71].

Beschwerdemöglichkeiten außerhalb von Einrichtungen

Neben den internen Beschwerdeverfahren sind externe Ansprechpersonen zu benennen, an die sich sowohl Kinder und Jugendliche als auch Eltern und Erziehungsberechtigte sowie Mitarbeitende wenden können. Diese Ansprechpersonen außerhalb der Einrichtung haben eine ausreichende Distanz zur Einrichtung, sind neutral, unabhängig, das heißt, nicht weisungsbefugt gegenüber der Einrichtungsleitung und leicht erreichbar. Es muss gewährleistet sein, dass diese Ansprechpersonen allen Beteiligten bekannt sind.

Auf der Homepage der EKD findet sich eine Liste aller Ansprechpersonen, an die sich Betroffene oder deren Angehörige wenden können, um unabhängige Beratung und Hilfe zu bekommen.

Als Beschwerdemöglichkeit außerhalb von Einrichtungen können ebenfalls Mitarbeitende von spezialisierten Fachberatungsstellen oder die Bekanntgabe der „Nummer gegen Kummer“ als anonymes und kostenloses Kinder- und Jugendtelefon [72] in Betracht gezogen werden.

In diesem Zusammenhang ist der derzeitige Aufbau von Ombudsstellen [73] zu erwähnen. Ombudschaftliche Beschwerdestrukturen in der Jugendhilfe wurden zunächst überwiegend im Rahmen der Unterstützung junger Menschen und ihrer Familien bei der Durchsetzung ihrer Jugendhilfeansprüche diskutiert und in verschiedenen Initiativen ab 2002 in der Bundesrepublik gegründet. Ziel ist es, durch das Instrument der Ombudschaft strukturelle Machtgefüge auszugleichen und Einigung zwischen den Parteien zu erzielen. Im Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe haben sich diese vernetzt ([http://www.ombudschaft-jugendhilfe.de/]).

Eine flächendeckende Struktur trägerunabhängiger Ombudsstellen gibt es noch nicht. In einigen Bundesländern wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen ([http://www.ombudschaftnrw.de/]) oder Hessen ([http://www.dicv-limburg.de/]) sind modellhaft Ombudsstellen eingerichtet worden.

2.4 Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit

Vernetzung

Im Kontext von sexualisierter Gewalt dient Vernetzung dem Austausch, der Information und der Weiterbildung sowie der gegenseitigen Unterstützung mit dem Ziel, sexualisierte Gewalt zu verhindern und zu beenden. Die Vernetzung mit anderen Einrichtungen und Fachkräften sollte frühzeitig, unabhängig von Verdachtsfällen und als regelmäßiger Bestandteil der Arbeit etabliert werden. Eine gute Vernetzung mit anderen Einrichtungen und Fachstellen sowie die Mitarbeit in entsprechenden Fachgruppen ist wesentlicher Bestandteil einer konsequenten Umsetzung des Präventionsauftrages der einzelnen Einrichtung oder Institution.

Verschiedene, ähnlich strukturierte Einrichtungen sollten mit ihren Handlungskonzepten im Austausch stehen und deren Wirksamkeit überprüfen als auch Erfahrungen abgleichen und sich kollegial beraten. Die verbindlichen Netzwerkstrukturen nach § 3 KKG auf regionaler Ebene sind eine Möglichkeit, fachlichen Austausch und kollegiale Beratung trägerübergreifend zu institutionalisieren.

Öffentlichkeitsarbeit

Es sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden, regelmäßige Veröffentlichungen zu den Themen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und Prävention zum Beispiel in Gemeindebriefen, Infoschriften, Homepages und Schaukästen sicherzustellen. Infoveranstaltungen sollten turnusmäßig stattfinden, damit alle Nutzerinnen und Nutzer der Institutionen auf demselben Wissensstand sind und die Haltung des Trägers, seine Vorhaben in puncto Prävention sowie deren Umsetzung nachvollziehbar sind.

Eine gut strukturierte und transparent gestaltete sowie nach Möglichkeit öffentlichkeitswirksame Präventionsarbeit ist für jeden Träger und jede Institution ein Ausweis hoher Qualität.

Um ein Präventionskonzept so zu gestalten, dass es gut umsetzbar ist, ist es wichtig, alle beteiligten Personen aktiv mit einzubeziehen. Institutionen sollten Informationsveranstaltungen für Träger und Eltern anbieten, so dass alle Erwachsenen die Möglichkeit haben, sich in die Problematik einzuarbeiten um sich austauschen und Vorgehensweisen gemeinsam entwickeln zu können.

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