„Selig sind die Friedfertigen“

Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik, EKD-Text 116, 2014

4. Die Situation der deutschen Truppen in Afghanistan und die Aufgaben der Seelsorge in der Bundeswehr

4.1 Besondere Belastungen der Soldatinnen und Soldaten

  1. Für die Truppen der Bundeswehr in Afghanistan sind Tod und Verwundung ständige Begleiter. Was früher als „das Äußerste“ ihres Berufsbildes galt, wird inzwischen vielfach als Selbstverständlichkeit dargestellt. Es sind Soldaten verwundet und getötet worden. Zu den extremen Belastungen der Soldaten gehört aber auch die Erfahrung, selbst einen anderen Menschen getötet zu haben. Seit 2009 wird der Afghanistan-Einsatz in der deutschen Öffentlichkeit als „Krieg“ wahrgenommen. Die Soldatinnen und Soldaten nehmen an Kampfhandlungen teil. Ihr Berufs- und Selbstbild bleibt davon nicht unberührt [78]. Manche tragen lange an den physischen und psychischen Folgen ihres Einsatzes. Viele fragen nach dem Sinn ihres persönlichen Engagements [79]. Sie stehen mit Leib und Leben für das Gelingen des Transitionsprozesses ein und müssen trotz der Erfahrung von Bedrohung und manchmal Ablehnung respektvoll mit den neuen Partnern zusammenarbeiten.
  2. Soldatinnen und Soldaten, die ihren Beruf verantwortlich ausüben wollen, können das nur mit dem Ziel tun, an dem riskanten Versuch mitzuwirken, durch Einsatz militärischer Gewalt einen Friedens- und Rechtszustand herzustellen, in dem Schwache und Wehrlose geschützt sind. Dieses Ziel macht Wehrdienst für Christinnen und Christen zu einer in persönlicher Gewissensentscheidung verantwortbaren Option, und diesem Ziel dient auch der verfassungsmäßige Auftrag der Bundeswehr. Nur im Falle der Notwehr und Nothilfe kann es für Christinnen und Christen eine Ausnahme vom Gebot „Du sollst nicht töten!“ (5. Mose 5,17; 2. Mose 20,13) geben. Dies ändert nichts daran, dass jeder, der das Tötungsverbot übertritt, vor Gott schuldig wird und nur auf Vergebung hoffen kann. Die Bereitschaft zur Tötung anderer Menschen erfordert die Überwindung großer innerer Hemmschwellen [80]. Was ein Mensch anderen antut, verletzt ihn auch selbst in seiner psychischen und ethischen Integrität [81]. Daraus, dass sich Soldatinnen und Soldaten immer wieder mit dem Faktum des Tötens und getötet Werdens auseinandersetzen müssen, können Gefühle existenzieller Schuld und Scham, aber auch Reflexe der Abwehr entsprechender Gefühle, Zweifel und Fragen erwachsen [82]. Beschädigungen der psychischen und ethischen Identität durch den Einsatz in Afghanistan können ebenso schwer wiegen wie körperliche Schäden. Vorgesetzte, der Staat und die Politik stehen in der Fürsorgepflicht, aber auch die zivile Gesellschaft, Kameraden und Militärgeistliche tragen Verantwortung dafür, Soldatinnen und Soldaten in diesen komplexen Problemlagen wahrzunehmen und sie darin aufmerksam zu begleiten.
  3. Traumatischer Stress in Kampfhandlungen — z.B. bei zwei Dritteln derer, die an den Gefechten in Kundus im Sommer 2011 teilgenommen hatten — kann zur Entstehung eines Posttraumatischen Belastungssyndroms führen, eines Krankheitsgeschehen, das immer mehr Soldaten und Soldatinnen erfasst und inzwischen eine immer größere öffentliche Aufmerksamkeit erhält [83]. Auch bei denen, die in erster Linie innerhalb der Feldlager tätig und mit Planungs-, Führungs- und Unterstützungsaufgaben betraut sind, schwindet angesichts der volatilen Sicherheitslage das Bedrohungsgefühl nicht. Auch sie „haben Verwundung und Tod im nahen Umfeld erlebt, fürchten Minen, Heckenschützen, Raketenbeschuss und Selbstmordattentate“ [84]. Auch sie müssen mit Stressfaktoren leben, die aus permanenter Bedrohung, Heimatferne, klimatischen Bedingungen und den Umständen des Lebens im Lager resultieren und gerade unter ruhigeren Bedingungen besonders stark empfunden werden. Ferner teilen alle die Erfahrung, dass der tägliche vierundzwanzigstündige Verlust der Privatsphäre nur schwer zu ertragen ist. Der Mensch wird „gläsern“ und dünnhäutig [85]. ies erfordert Verständnis und den Schutz persönlicher Freiheitsräume. Ein eigenes Problem stellt die zu über neunzig Prozent männerdominierte Lagergemeinschaft dar.
  4. Viele Bundeswehrangehörige haben außerhalb des geschützten Lagers keine direkten Berührungspunkte mit der lokalen Bevölkerung in ihren Dörfern und Siedlungen. Die Kontakte beschränken sich oftmals auf einheimisches Unterstützungspersonal. Nachrichten stammen vor allem von Kameraden, die im Außeneinsatz und manchmal auch in Gefechten standen. Zur politischen Verantwortung für den deutschen Afghanistaneinsatz gehört es, die Soldaten vor Ort ebenso wie die Öffentlichkeit zuhause über die Gesamtentwicklung im Einsatzland zu informieren und so eine staatsbürgerliche Urteilsbildung zu ermöglichen. Zudem bedarf es einer verstärkten Wahrnehmung und Diskussion der Situation, in der sich die deutschen Einsatzkräfte in Afghanistan befinden. Insbesondere die Familienangehörigen der Soldatinnen und Soldaten sollten stärker in die Kommunikation über den Auftrag und dessen Durchführung einbezogen werden, damit sie verstehen, was ihre Partner und Kinder im Einsatzland tun. Fürsorge und Betreuung sollten solche Soldatenfamilien nicht aus dem Blick verlieren, deren Lebensort weit vom Dienstort und dem zuständigen milienbetreuungszentrum entfernt liegt. Aus dieser Situation ergeben sich auch für die Militärseelsorge besondere Herausforderungen in der Begleitung der daheim gebliebenen Angehörigen der Soldatinnen und Soldaten.
  5. Der Einsatz in Afghanistan dauert für die meisten Soldatinnen und Soldaten vier Monate; danach sollen sie für mindestens zwei Jahre nicht für Auslandsein sätze herangezogen werden. Die Praxis zeigt aber, dass Spezialisten häufig länger im satz bleiben müssen und auch öfter als vorgesehen zu Einsätzen herangezogen werden. Häufige Einsätze bergen die Gefahr traumatisierender Überbelastung. halb müssen zwischen den Einsätzen ausreichende Rekreationsphasen für alle und Planungssicherheit für die Familien gewährleistet werden. Gleichzeitig ist jedoch auch zu bedenken, dass unter Gesichtspunkten der interkulturellen Kompetenz ein allzu schneller und häufiger Wechsel problematisch sein kann.
  6. Das Konzept der Inneren Führung verankert die existentielle Auseinandersetzung mit militärischer Gewalt, Tod und Verwundung, Schuld und Verantwortung in der Führungskultur der Bundeswehr und in verschiedenen Ausbildungszusammenhängen [86]. In diversen Unterrichtseinheiten und -formen werden die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei der kritischen Reflexion auf Gewalt und militärische Gewaltmittel unterstützt. Sie erfahren hier, dass Gewissensfreiheit und Menschenrechte in der Bundeswehr respektiert werden müssen und dass die militärische Gehorsamspflicht begrenzt ist. Auf diese Weise sollen sie in ihrer Urteilsfähigkeit gestärkt und zum verantwortlichen Bestehen der beim Umgang mit Gewaltmitteln unausweichlichen Dilemmasituationen befähigt werden. Von besonderer Bedeutung ist auch der Unterricht in interkultureller Kompetenz, die inzwischen als militärische Schlüsselqualifikation angesehen wird [87].

4.2. Der Dienst der Soldatenseelsorge

  1. Seit Gründung der Bundeswehr ist die Militärseelsorge ein unabhängiger Kooperationspartner. Die Militärgeistlichen werden durch ihre Landeskirchen für diesen Dienst in der Regel sechs bis zwölf Jahre als staatliche Beamte auf Zeit freigestellt. In ihrer seelsorglichen Tätigkeit sind sie ausschließlich kirchlichem Recht unterworfen und von staatlichen Weisungen unabhängig. Die evangelische Soldatenseelsorge in der Bundeswehr orientiert sich am Leitbild der „kritischen Solidarität“ [88]. „Das bedeutet“, so heißt es in der Friedensdenkschrift, „dass die evangelische Soldaten - als im Grundsatz ethisch verantwortbar bejaht, sich andererseits aber keineswegs unkritisch mit konkreten sicherheitspolitischen Vorgaben, militärstrategischen Doktrinen oder gruppenspezifischen Mentalitäten identifizieren darf“ (Ziffer 66). Soldaten und Militärseelsorger teilen die Lebensbedingungen im Lager und das Gefühl der Bedrohung; als waffenlose Zeugen der Friedensbotschaft Jesu stehen Seel sorgerinnen und Seelsorger in einem Spannungsverhältnis zu jeder Form des Gewaltgebrauchs. Das Leitbild des gerechten Friedens und die Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt sind Grundlage des Dienstes evangelischer Militärseel sorger.
  2. Zu den Kernaufgaben der Militärgeistlichen gehören neben der Seelsorge Gottesdienste, Andachten und Rüstzeiten. Angesprochen werden auch Soldatenfami lien. Das christliche Angebot trägt dazu bei, den Alltag zu strukturieren und Raum für seelische Rekreation zu bieten. Junge Soldatinnen und Soldaten werden in Afghanistan mit existenziellen Grenzerfahrungen konfrontiert. Militärgeistliche helfen bei der Bearbeitung und Einordnung solcher Erfahrungen. Sie sind Zuhörende und Ratgebende in vertraulichen Gesprächen, bei alltäglichen Sorgen ebenso wie in tiefer Trauer und beim Umgang mit Scham und Schuld. Daneben sind sie Ansprechpartner auch für Vorgesetzte und für die Betreuung der Truppe Zuständige [89]. Militärseelsorger können außerhalb des Dienstwegs Probleme erkennen und Lösungen suchen.
  3. Militärpfarrerinnen und -pfarrer erteilen im Auftrag des Staates Lebenskundlichen Unterricht. Er wurde 2011 neu konzipiert als berufsethischer Unterricht, als Ort freier und vertrauensvoller Aussprache. Er umfasst eine Doppelstunde im Monat. Seine Akzeptanz bei Soldatinnen, Soldaten und Dozenten ist hoch. Während des Auslandseinsatzs kann im Unterricht reagiert werden auf persönliche Probleme wie Trennung von Familie und Freunden und die Herausforderung durch den Einsatz von Gewalt. Es können Informationen über Kultur und Religion im Einsatzland vermittelt und die Sensibilität für die Menschen in Afghanistan und ihre Lebensweise gestärkt werden. Der Lebenskundliche Unterricht vermittelt neben persönlicher auch interkulturelle Kompetenz. Die selbstkritische Auseinandersetzung der Soldatinnen und Soldaten mit ihrer eigenen Gewaltfähigkeit und der jeder Gewalt innewohnenden Dynamik ist vorgesehen. Nach den einschlägigen Lehrplänen soll dies außer im Lebens kundlichen Unterricht auch in den Unterrichtseinheiten zu den „Gestaltungsfeldern“ der Inneren Führung erfolgen [90].
  4. Von den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gehört derzeit etwa die Hälfte einer christlichen Kirche an [91]. In Afghanistan waren bisher insgesamt 61 evangelische Militärgeistliche im Dienst (März 2013). Bis zum Sommer 2013 waren drei evangelische Militärgeistliche für jeweils vier Monate an den deutschen Standorten in Afghanistan tätig und für nahezu 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zuständig. In Mazar-e-Sharif und in Kunduz wirkten neben dem evange lischen jeweils ein katholischer Militärgeistlicher. Die Militärgeistlichen betreuten von ihren Standorten aus weitere Lager und Unterkünfte deutscher Soldaten in der Nähe.
  5. Zusammen mit Ärzten, Sanitätspersonal und Truppenpsychologen gehören die Militärseelsorger zum „psychosozialen Netzwerk“, das die Bundeswehr zur Unterstützung der Truppenangehörigen eingerichtet hat. Die Akzeptanz der Militärseelsorgerinnen und -seelsorger ist generell hoch. Im ISAF-Einsatz geben „(n)eun von zehn Befragten [...] an, es gut zu finden, dass Truppenpsychologen und Militärseelsorger vor Ort sind.“ [92] Das Angebot der Militärgeistlichen wird intensiv genutzt. Auch nicht der Kirche angehörende Soldatinnen und Soldaten suchen Gespräch und Austausch mit ihnen [93]. Neben ihrer seelsorglichen ist die rituell-liturgische Kompetenz gefragt. Militärgeistliche stehen Soldaten und Soldatinnen im Einsatz zur Seite. Sie überbringen Todesnachrichten, trösten und stärken die Hinterbliebenen und diejenigen, die einen Kameraden verloren haben. Sie betreuen die „Zentrale Trauerfeier“ des Dienstherrn.
  6. Auch deutsche oder internationale Polizisten und Entwicklungshelfer finden in den Militärseelsorgern verlässliche Ansprechpartner. Seit 2009 ist die Betreuung deutscher Polizisten im Auslandseinsatz durch Militärgeistliche vertraglich geregelt. Auf Wunsch kümmern sich die Seelsorgerinnen und Seelsorger auch um Mitarbeitende des Auswärtigen Amtes, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit oder kirchlicher Entwicklungshilfeorganisationen. Häufig kommen diese Zivilisten zu Gottesdiensten und Andachten oder zu anderen Anlässen ins Feldlager. Obwohl es zu begrüßen ist, dass Militärgeistliche diese Aufgabe übernehmen, könnte überlegt werden, ob eine von der Militärseelsorge unabhängige seelsorgliche Begleitung für die zivilen Angehörigen der Hilfswerke sinnvoll ist.
  7. Evangelische Militärseelsorgerinnen und -seelsorger aus Deutschland arbeiten mit ihren katholischen Kollegen und mit der Military Chaplaincy aus anderen Ländern eng zusammen. Im Unterschied zu den Militärgeistlichen vieler Länder sind die deutschen nicht in die militärische Hierarchie eingebunden. Trotz verschiedener nationaler Militärkulturen ist die Zusammenarbeit in der Regel unproblematisch. Auf Bitten der militärischen Führung führen die Militärgeistlichen im Feldlager Gesprächs- und Informationsveranstaltungen mit islamischen Geistlichen durch.
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