„Selig sind die Friedfertigen“

Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik, EKD-Text 116, 2014

5. Friedenspolitische Aufgaben im Blick auf Afghanistan

  1. Frieden in Afghanistan verlangt Verhandlungen für tragfähige Friedensstrukturen und eine friedenspolitisch kohärente Politik der internationalen Gemeinschaft. Deutschland hat daran ein Interesse in politischer und in ökonomischer Hinsicht. Über die Kosten des „nicht-internationalen bewaffneten Konflikts“ in Afghanistan für Deutschland wird wenig transparent gesprochen [94]. Unbestritten ist, dass eine tragfähige Verhandlungslösung [95] angesichts des Endes der ISAF-Mission dringlich ist.
  2. Um umfassenden diplomatischen Bemühungen zum Erfolg zu verhelfen, ist ein kohärentes Vorgehen mit hoher Lokalexpertise von größter Bedeutung. Seit dem Wechsel in der US-Administration und der neuen NATO-Strategie für Afghanistan hat sich das Interesse an Aussöhnung, Reintegration von oppositionellen Kämpfern, aber auch an Verhandlungen verstärkt [96]. Deutschland war 2010 und 2011 schon als Vermittlerin für Geheimgespräche zwischen der US-Regierung und der Vertretung der Taliban tätig geworden. Das hatte zu einem Verbindungsbüro in Doha/Qatar ge führt, welches auch künftig als neutraler Ort für Verhandlungen bedeutsam sein kann. Eine Analyse aller bisherigen Bemühungen um die Aufnahme von Verhandlungen von Seiten innerafghanischer Kräfte, Saudi Arabiens, der EU, Großbritanniens und Deutschlands macht deutlich, dass alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen des Landes einbezogen werden müssen, damit Aussicht auf Erfolg besteht: In Qatar war die afghanische Regierung zunächst nicht beteiligt gewesen. Es geht neben der afghanischen Regierung nicht nur um die drei Hauptakteure der Aufstandsbewegung (Taliban, islamische Partei/HIG und Haqqani-Netzwerk), sondern auch um die nichtmilitante politische Opposition. Gleichzeitig sollten auch Pakistan und Iran über die Initiativen informiert werden. Dabei stellt es sich als äußerst problematisch heraus, dass die von Bündnispartnern geübte Strategie gezielter Tötungen sowie die Rivalitäten der Aufständischen untereinander aktuelle oder potentielle Verhandlungspartner treffen [97]. Wie schwierig die Aufgabe ist, machen auch die Attentate auf Mitglieder des 2010 eingerichteten Hohen Friedensrats und die innerafghanische scharfe Kritik an seiner Zusammensetzung deutlich, sowie kontroverse Auffassungen über die Wahrung der Verfassung und den Abzug ausländischer Truppen [98]. Da Deutschland im Land angesehen ist, könnte es in dieser Situation möglicherweise hilfreich sein, aus der Geschichte eigener Erfahrungen heraus vertrauensbildende Maßnahmen vorzuschlagen, die Verhandlungsinitiativen für einen Waffenstillstand unterstützen und weitere Schritte hin zu Frieden und Versöhnung bzw. Mediation einleiten können.
  3. Seit 2010 ist es neben Regionalkonferenzen zu einer Abfolge von internationalen Konferenzen gekommen, in denen die Beteiligten Verpflichtungen für die Zukunft Afghanistans eingegangen sind und es um den Abzug der Kampftruppen und eine „Übergabe in Verantwortung“ geht. Das Ende der ISAF-Mission wurde für 2014 vorgesehen. Seit den Beschlüssen über einen Rückzug der Kampftruppen und ersten Konzeptionen für eine Nachfolgemission der ISAF, die sich auf Ausbildung und Beratung konzentrieren soll, [99] gibt es innerhalb und außerhalb Afghanistans eine Diskussion, auf welche Weise der Übergang verantwortlich gestaltet werden kann. Diese Diskussion ist von einer Uneinigkeit darüber gekennzeichnet, in welcher Weise die ausländischen Truppen das Geschehen in Afghanistan beeinflusst haben: Es gibt Stimmen, die die Sicherheitslage vor Ort von der Präsenz der ausländischen Truppen abhängig machen, es gibt andere, die darin umgekehrt gerade die ständige Quelle für immer erneute Aktivitäten Aufständischer sehen [100]. Entsprechend verschieden fallen die Einschätzungen der Folgen des Truppenabzugs aus. Unabhängig von Befürchtungen und Hoffnungen sind die beschlossenen Maßnahmen zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen aber in vollem Gang. Auf dem NATO-Gipfel in Chicago hat Deutschland zugesagt, sich ab 2015 mit einem jährlichen Beitrag in Höhe von rund 150 Mio. Euro an der Finanzierung der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces–ANSF) zu betei ligen [101].
  4. Folgende Gesichtspunkte im Blick auf einen verantwortlichen Abzug sind in einer friedensethischen Perspektive zu bedenken:
    • Zu einem verantwortlichen Abzug der ausländischen Truppen gehört so weit wie möglich eine Wiedergutmachung der durch sie angerichteten Schäden.
    • Da in den nächsten Jahren schon wieder ein Rückbau der jetzt noch weiter aufgebauten Sicherheitskräfte geplant ist, wäre auch ein kontrollierter Abbau von Waffenpotenzialen dringend zu prüfen. Die weitere Ausrüstung und Ausstattung der ANSF muss zwingend vom Auf- und Ausbau effektiver Rechtsstaatlichkeit begleitet werden. Milizen sollten parallel dazu möglichst entwaffnet und ihre Aufgaben von den ANSF übernommen werden. Wie die leidvolle Kriegsgeschichte Afghanistans zeigt, sind Rüstungsexporte und Militärhilfe oft von einer kurzsichtigen Politik geprägt gewesen, die nicht mit Veränderungen der Machtverhältnisse rechnet und elementare politische Voraussetzungen für nachhaltige Friedensprozesse ignoriert. Vor diesem Hintergrund ist die beabsichtigte Rückführung des militärischen Gerätes der Bundeswehr zu begrüßen.
    • Es geht auch um eine Abfederung der Folgen für die lokalen Ökonomien und die Personen, die mit den auswärtigen Truppen bzw. Organisationen zusammen gearbeitet haben, wie im Fortschrittsbericht 2012 betont. Den Einreiseanträgen lokaler afghanischer Mitarbeiter der Bundeswehr, die sich nach deren Abzug gefährdet sehen, sollte dringend stattgegeben werden. Deutschland hat zugesagt, Afghanistan zunächst bis 2016 weiterhin mit jährlich bis zu 430 Mio. Euro zu unterstützen, die in Vorhaben zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Stärkung der Regierungsführung fließen sollen. Begrüßenswert ist hier die neue Gewichtung zu Gunsten ziviler Maßnahmen. In einer friedenspolitischen Perspektive ist zum einen die Förderung der ländlichen Entwicklung von hoher Bedeutung. Der Gipfel in Tokio hat eine Konditionalisierung der Hilfe beschlossen, bei der die festgelegten Reformschritte in Afghanistan mit Indikatoren gemessen werden. Eine Analyse der International Crisis Group von 2012 macht zum anderen auf die große Gefahr aufmerksam, die dem Land droht, wenn es nicht gelingt, die verfassungsgemäß anstehenden Wahlen 2013 und 2014 in einem geklärten Feld institutioneller Zuständigkeiten abzuhalten [102]. So naheliegend angesichts dieser Situation eine Konditionalisierung der Hilfsmittel zu sein scheint, so zeigt sie doch auch den fragilen Zustand im Land und die Gratwanderung zwischen äußerer Einflussnahme und Konsolidierung des notwendigen innerafghanischen politischen Prozesses.
  5. Dem Geist der Friedensdenkschrift folgend sind darüber hinaus folgende friedenspolitisch bedeutsamen Handlungsfelder und -ziele zu bedenken:
    • Im Sinn ziviler Konfliktbearbeitung wäre es wichtig, gleichzeitig und auf verschiedenen Ebenen besonderes Gewicht auf die Auslotung verhandelbarer Interessen zu legen. Zivilgesellschaftliche Akteure vor Ort aus 34 Provinzen und landeskundige NGOs sollten eine starke Stimme erhalten; das gilt insbesondere für Frauengruppen. Informelle Gespräche zwischen allen relevanten Akteuren können dazu beitragen, dass sich Allianzen für den Frieden auf allen Ebenen, vor allem auch der Orts- und der Provinzebene konstituieren können.
    • Die Konsolidierung institutioneller Grundlagen für zivil ausgetragene Konflikte bedarf großer Aufmerksamkeit, um die Betrugsvorwürfe der letzten Wahlen nicht in der Situation der geplanten „Transition“ und „Transformation“ zu wiederholen. Der Afghanistanbericht der International Crisis Group sieht hier sogar die Gefahr der Konflikteskalation bis hin zu einem Staatszusammenbruch [103].
    • Das einheimische Rechtswesen kennt nicht nur auf dem Land, sondern auch in Kabul eigentümliche Verbindungen formaler und informeller Mechanismen (tradi tionelle Schlichtungsforen), deren Berücksichtigung mit Blick auf eine tragfähige rechtsstaatliche Lösung wichtig sein könnte, auch wenn wichtige Fragen der Kohärenz damit verbunden sind [104].
    • Im Sinn der Konzepte von menschlicher Sicherheit und menschlicher Entwicklung ist die Förderung von Entwicklungschancen unabdingbar. Dazu sind von ausländischen Investoren sowie von internationalen und nationalen NGOs Beiträge zur Stärkung regionaler und lokaler Lösungen vor allem mit Blick auf Lebensmittel und die Förderung von Ernährungssouveränität (food sovereignity) zu verlangen und diesbezüglich eine öffentliche Rechenschaftspflicht einzuführen. Trotz widerstreitender Interessen und bislang eher geringen Erfolgen könnten als vertrauensbildende Maßnahmen regionale Kooperationen Afghanistans mit seinen Nachbarstaaten gefördert werden.
  6. Innerer Frieden lässt sich von außen nicht erzwingen; dies ist ein wesentliches Argument der Friedensdenkschrift (Ziffern 182 f.), das auch durch die Aussage des Fortschrittsberichts 2011 [105] bestätigt wird. Jede Intervention muss nichtintendierte Folgen reflektieren: neue soziale und politische Spannungen ebenso wie den verstärkten Zusammenschluss regierungskritischer bzw. -feindlicher Gruppen. Wie auch die Situation nach den Balkankriegen der 1990er Jahre zeigt, weisen Staats- und Wirtschaftsstrukturen, die von Interventionsmächten eingeführt werden, oft eine geringe Stabilität auf. Ohne tiefe Kenntnis und sensible Beachtung gewachsener Strukturen besteht die Gefahr, dass nicht die friedensfördernden Akteure der einheimischen Zivilgesellschaft unterstützt werden, sondern ethnopolitisch und wirtschaftlich definierte Interessengruppen. Das ist insbesondere auch mit Blick auf die bedeutenden Rohstoffe in Afghanistan zu bedenken. In Zeiten der Globalisierung benötigen friedensstabilisierende Maßnahmen einen weiten Zeithorizont in allen vier Zieldimensionen des gerechten Friedens: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not, Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Wenn die immer wieder beschworene Zuständigkeit der Afghanen und Afghaninnen für die Zukunft ihres Landes (local ownership) ernst genommen werden soll, bedarf es seitens externer Akteure eines ebenso zurückhaltenden wie stimmigen Handelns, das der Achtung der politischen, sozialen und kulturellen Menschenrechte verpflichtet ist.

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