„Mehrwert für die ganze Gesellschaft“
Professor Dr. Hans Michael Heinig beantwortet häufig gestellte Fragen zum Verhältnis von Kirche und Staat
Ist das Glockenläuten am Sonntag zumutbar? Warum zahlt der Staat für kirchliche Krankenhäuser oder Kindergärten? Und sind die Staatsleistungen noch zeitgemäß? Hans Michael Heinig ist Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD und beantwortet häufig gestellte Fragen zum Verhältnis von Kirche und Staat.
Die großen Kirchen erhalten staatliche Leistungen, deren Rechtsgrundlage oft mehr als 200 Jahre alt ist. Sind solche Ansprüche noch zeitgemäß?
Hans Michael Heinig: Staatsleistungen beruhen auf vorangegangenen Enteignungen der Kirchen. Sie ersetzen die Erträge, die die Kirchen sonst erwirtschaftet hätten. Das Grundgesetz gebietet eine Ablösung, also eine Aufhebung der jährlichen Zahlungen gegen Wertentschädigung. Bund und Länder sind aufgerufen, diese Ablösung in Absprache mit den betroffenen Kirchen zu betreiben.
Gelten die Rechte, die den christlichen Kirchen und dem Zentralrat der Juden gewährt werden, auch für muslimische Verbände und weitere Religionsgemeinschaften?
Heinig: Das Grundgesetz kennt nur Religionsgemeinschaften und keine Sonderrechte für Kirchen. Es gewährleistet eine umfassende Gleichbehandlung. Allerdings kann auch nur Gleiches gleich behandelt werden. Die Muslime in Deutschland müssen sich deshalb so selbst organisieren, dass sie eine mitgliedschaftliche Struktur aufweisen. Sie müssen Religionsgemeinschaften im Rechtssinne bilden. Das ist auch zumutbar. Die Rechtsordnung muss wissen, wer zu welcher Organisation dazugehört und wer für wen spricht.
Finanziert nicht der Staat auch kirchliche Einrichtungen wie kirchliche Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen und Kindergärten? Warum macht der Staat das nicht selbst?
Heinig: Der Staat unterstützt jedes Engagement, das der Gesellschaft dient – unabhängig davon, ob es sich um die Kirche oder andere gemeinnützige Träger handelt. Der Staat finanziert nicht die Kirchen damit, sondern die für die Gesellschaft gewollte inhaltliche Arbeit. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen werden auch nicht vom Staat finanziert, vielmehr bezahlen die Krankenkassen die erbrachten Leistungen. Die Kirchen stehen selbstverständlich selbst auch finanziell für diese Aufgaben ein. Dabei engagieren sich viele Ehrenamtliche, die der Staat so gar nicht aktivieren könnte.
Nach den geltenden Staatsverträgen sitzen Vertreter der Kirchen in den Kontrollgremien der öffentlich-rechtlichen Sender. Wie verträgt sich das mit der Gleichbehandlung und der Freiheit der Medien?
Heinig: Wir wollen in Deutschland aufgrund unserer historischen Erfahrungen keinen einseitigen Staatsfunk. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll Meinungspluralität gewährleisten. Deshalb sind neben Regierung und Parteien auch gesellschaftliche Gruppen in die Aufsicht des Rundfunks einbezogen. Dazu gehören Gewerkschaften, Arbeitgeber, Sportverbände und eben auch Religionsgemeinschaften.
Das Religionsverfassungsrecht gilt auch dort, wo die Mehrheit der Bevölkerung keiner christlichen Kirche angehört – etwa in den ostdeutschen Ländern. Ist das demokratisch?
Heinig: Der Schutz der Religionsfreiheit ist ja auch für diejenigen wichtig, die nicht Mitglied der Kirche sind. Diskriminierungsverbote ebenso. Auf Dauer schwieriger zu vermitteln ist, dass der Staat auch die positive Ausübung der Religionsfreiheit fördert. Aber das geschieht auf vielen gesellschaftlichen Feldern. Der Staat unterstützt den Sport, auch wenn nicht alle an Sport interessiert sind, Museen und Theater, auch wenn nicht alle diese aufsuchen. Wichtig ist, dass sich die Religionen an bestimmte Spielregeln halten und so auch einen Mehrwert für die ganze Gesellschaft erzeugen.
Der gesetzliche Schutz der Feiertage wird infrage gestellt von vielen Menschen, die gern sonntags einkaufen oder am Karfreitag tanzen gehen würden. Andere fühlen sich durch Glockengeläut gestört. Könnten die Kirchen nicht kompromissbereiter sein?
Heinig: Der Sonn-und Feiertagsschutz ist von der Verfassung vorgegeben. Er steht nicht zur kirchlichen Disposition. Das Grundgesetz geht davon aus, dass es uns allen guttut, an einigen Tagen das werktägliche Treiben hinter uns zu lassen. Die individuelle Einschränkung, die damit einhergeht, ist relativ gering. Individuelle Freiheit gibt es nicht ohne Rücksichtnahme auf andere.
Bei Grünen, Linken und in Teilen der SPD werden die geltenden Regelungen zum Verhältnis von Kirche und Staat kritisch hinterfragt. Kann es gesetzliche Veränderungen bei anderen Mehrheitsverhältnissen im Bund geben?
Heinig: Die Grundkoordinaten sind vom Grundgesetz vorgegeben. Aber Details unterliegen dem politischen Aushandlungsprozess. Das sehen wir ja auch auf der Ebene der Bundesländer. Das Recht und die Praxis in Bayern sind anders als in Berlin.
Unser Religionsverfassungsrecht unterscheidet sich deutlich von anderen EU-Staaten – etwa in Frankreich. Können die deutschen Regelungen bei einer vertieften europäischen Integration bestehen?
Heinig: Die Regeln zu Religion sind in jedem Land anders. Nicht Deutschland ist der Sonderfall – es gibt nur Sonderfälle. Deshalb ist die EU für diese Fragen nicht zuständig. Die europäischen Verträge verpflichten die Union ausdrücklich darauf, das jeweilige Religionsverfassungsrecht nicht zu beeinträchtigen.
Dr. Hans Michael Heinig ist Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, an der Universität Göttingen.