Stuttgarter Schulderklärung

Einführung zur Stuttgarter Schulderklärung

Ausschnitt aus der Erklärung
Als der Ende August 1945 in Treysa neu gebildete Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu seiner ersten Vollsitzung am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart zusammenkam, verfaßte er die "Stuttgarter Schulderklärung". Das Dokument war an den Bischof von Chichester (England), den BonhoefferFreund George Bell, gerichtet. Foto: Reproduktion des Originaldokuments, das sich in London befindet, mit den Unterschriften der Ratsmitglieder. Die Unterzeichner bekennen darin öffentlich, nicht mutig genug gegen das NS-Regime gekämpft zu haben. Mit der "Stuttgarter Schulderklärung" öffneten sie der evangelischen Kirche den Weg für einen Neuanfang auch auf internationalem Parkett.

Der Anstoß zu diesem frühen Bekenntnis kirchlicher Mitverantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes kam von der Ökumenischen Bewegung. Es sollte die Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Gemeinschaft mit den deutschen Kirchen sein, die bald auch in Form massiver ideeller und materieller Hilfe erfolgte.

Die vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 19. Oktober 1945 in Stuttgart vor Ökumenevertretern abgegebene Erklärung war als Bitte an die Christenheit um Vergebung vor Gott und um Wiederherstellung zerstörter Gemeinschaft abgefasst. In dem maßgeblich von Hans Asmussen und Otto Dibelius formulierten Text bekannte sich die Kirche zur „Solidarität der Schuld“ mit dem deutschen Volk: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“

Bezüglich der Form der Schuld war der Text aber wenig konkret. In traditioneller Frömmigkeitssprache hieß es: „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Die Wurzel der Schuld sah der Rat demnach in der Schwäche des Glaubens der Kirche und des einzelnen Christen. Um Schuld nicht mit Gegenschuld aufzurechnen, schwieg die Erklärung zu den Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Gemeinsam mit der Ökumene wollte man „dem Geist der Gewalt und der Vergeltung“ wehren, damit „der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme.“

Kaum veröffentlicht wurde über die Erklärung heftig gestritten. Die Auseinandersetzung drehte sich vor allem um die angebliche Anerkennung einer deutschen „Kollektivschuld“ sowie um das Eingeständnis von Schuld allein durch die Deutschen und nicht auch durch die Siegermächte. In den Diskussionen wurde deutlich, dass die in Stuttgart formulierten Einsichten, sofern sie in der Not der Nachkriegszeit überhaupt wahrgenommen wurden, nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit verankert waren. Die Ablehnung überwog. Auch Kirchenleitungen und einzelne Unterzeichner rückten von ihr ab. Heute aber gilt die Stuttgarter Schulderklärung als bedeutendstes Dokument des Nachkriegsprotestantismus.

Prof. Dr. Claudia Lepp

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