Stuttgarter Schulderklärung
Einführung zur Stuttgarter Schulderklärung

Der Anstoß zu diesem frühen Bekenntnis kirchlicher Mitverantwortung für die Verbrechen des NS- Regimes kam von der Ökumenischen Bewegung. Es sollte die Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Gemeinschaft mit den deutschen Kirchen sein, die bald darauf in Form ideeller und auch massiver materieller Hilfe erfolgte.
Die vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 19. Oktober 1945 in Stuttgart vor Ökumenevertretern abgegebene Erklärung war als Bitte an die Christenheit um Vergebung vor Gott und um Wiederherstellung zerstörter Gemeinschaft abgefasst. In dem Text bekannte sich die Kirche zur „Solidarität der Schuld“ mit dem deutschen Volk: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Bezüglich der Form der Schuld war der Text aber sehr unkonkret. In traditioneller Frömmigkeitssprache hieß es: „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Die Wurzel der Schuld sah der Rat demnach in der Schwäche des Glaubens der Kirche und des einzelnen Christen. Um Schuld nicht mit Gegenschuld aufzurechnen, unterblieb eine explizite Erwähnung der Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Stattdessen hieß es, man wolle gemeinsam mit der Ökumene „dem Geist der Gewalt und der Vergeltung“ wehren, damit „der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme.“
Kaum veröffentlicht wurde über die Stuttgarter Erklärung heftig gestritten. Die Auseinandersetzung drehte sich vor allem um die angebliche Anerkennung einer deutschen „Kriegsschuld“ sowie um das Eingeständnis von Schuld allein durch die Deutschen und nicht auch durch die Siegermächte. In den Diskussionen wurde deutlich, dass die in Stuttgart formulierten Einsichten, sofern sie in der Not der Nachkriegszeit überhaupt wahrgenommen wurden, nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit verankert waren. Die Ablehnung überwog sehr deutlich, sah man sich doch selbst in der Opferrolle. Auch Kirchenleitungen und einzelne Unterzeichner rückten nun von der Erklärung ab. Die tiefen Risse innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands waren in Stuttgart nur für einen kurzen Moment überdeckt worden. Die Kirchen der Ökumene reagierten hingegen positiv auf die Schulderklärung.
Heute gilt der Text vom Oktober 1945 als bedeutendstes Dokument des frühen Nachkriegsprotestantismus. Doch war er nur ein erster, verhaltener Schritt zur Aufarbeitung der Schuld und der Verstrickung der evangelischen Kirche mit dem NS-Regime. Denn die Erklärung hatte deutliche Leerstellen: Sie enthielt keine expliziten Aussagen zur Shoah oder zur Verfolgung und Ermordung anderer Opfergruppen. In ihrer Kritik an den Entnazifizierungsmaßnahmen der Siegermächte und in ihrer Fürsprache für die NS-Täter waren die Kirchenleitungen später dagegen sehr viel konkreter.
Das Eingestehen von durch Antijudaismus und Antisemitismus motivierter Schuld war ein langer und konfliktreicher Prozess. Schuldbekenntnis und Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden mussten zusammenkommen. Nach mehreren Zwischenetappen erfolgte dies im Rheinischen Synodalbeschluss von 1980. Anschließend kam es in den Landeskirchen zu Änderungen ihrer Ordnungen im Hinblick auf das Verhältnis zum Judentum.
Andere Opfergruppen wie „Euthanasie“-Opfer, Sinti und Roma oder Homosexuelle mussten noch sehr viel länger warten, bis seitens der evangelischen Kirche eine Mitverantwortung für deren Schicksal während der NS-Zeit anerkannt wurde.
Zu den zentralen Topoi rechten Denkens unserer Tage gehört die Herabsetzung der deutschen Erinnerungskultur als „Schuldkult“. Christinnen und Christen in der AfD sprechen davon, dass die Schuld der Deutschen beglichen sei. Angesichts dieser Entwicklungen sollte der Protestantismus eine auf Differenzierung achtende protestantische Erinnerungskultur pflegen, die Licht und Schatten in der evangelischen Kirchengeschichte klar benennt und der historischen Komplexität gerecht wird. Das gilt auch für die Stuttgarter Schulderklärung, die aus heutiger Sicht deutliche Schwächen hat und dennoch eine wichtige Etappe in Richtung Anerkennung von Schuld und notwendiger Buße war. Zudem eröffnete sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dem deutschen Protestantismus die Möglichkeit zur weltweiten ökumenischen Zusammenarbeit. Auch darin liegt ihre historische Bedeutung in einer Zeit wachsender nationaler Egoismen.
Prof. Dr. Claudia Lepp