Die stille Gewalt
Die syrische Autorin Arwa erzählt ihre dramatische Geschichte
„Ich renne nicht mehr der Zeit hinterher, um etwas zu beweisen. Den Moment zu leben ist wichtiger, als an den Schmerz der Vergangenheit zu denken oder Angst vor der Zukunft zu haben.“ Mit diesen Worten blickt Arwa aus dem Fenster, während ich selbst in schlechter Stimmung da sitze.
Wir haben uns zufällig in diesem Café in der Nähe ihrer Wohnung in Berlin getroffen, und wie immer begrüßt sie mich mit einem warmen Lächeln. Arwa, Anfang fünfzig, hat erst vor Kurzem eine schwere Krebserkrankung überstanden – und doch verbreitet sie, wohin sie geht, ein Gefühl von Zuversicht.
Ein Körper, der kämpfen musste
„Es stört mich, dass viele Medikamente auf Männerkörper ausgelegt sind“, beginnt sie. „Wir Frauen nehmen sie ein, ungeachtet möglicher anderer Wirkungen.“
2016 erkrankte sie an Darmkrebs, 2020 an Magenkrebs. Der Tumor wuchs schnell und kehrte immer wieder zurück, bis die Ärzte schließlich entschieden, ihren Magen vollständig zu entfernen. Nach einer langen Operation kam es zu einer Milzblutung, die sie in ein mehrtägiges Koma versetzte. Drei Monate blieb sie im Krankenhaus – isoliert durch die Corona-Bestimmungen, mit nur einer Stunde Besuchszeit pro Tag.
Die Rückkehr zum Schreiben
„Ein Jahr nach der Operation wollte ich mein Zurück-ins-Leben feiern“, erzählt sie. „Ich fing an, jeden Tag etwas über meine Krankheitserfahrung zu schreiben, damit andere daraus lernen können.“ Die Reaktionen ihrer Freund*innen ermutigten sie, ihre Texte zu einem Buch zu sammeln – mit dem Titel „Wenn Grenzen bluten“. Sie ist derzeit auf der Suche nach einem Verlag in Deutschland für ihr Buch.
Arwa erzählt darin von Nächten auf Straßen verschiedener Städte nach ihrer Flucht aus Syrien, von fehlender Privatsphäre und der Sorge um ihre Kinder. Doch sie berichtet ruhig, ohne Bitterkeit, als würde sie den Schmerz von der Tischplatte wischen.
Eine alte Leidenschaft – und ein früher Akt der Gewalt
Sie lacht und erzählt, wie sie einst Journalistin werden wollte, aber abgelehnt wurde, weil sie nicht der regierenden Baath-Partei angehörte. „Zuerst war ich traurig“, sagt sie, „aber ich tröstete mich damit, dass es immer noch besser war, als irgendetwas zu schreiben, um dem Regime zu gefallen.“ Wir lachen beide; das war die Realität für viele, die unter der Herrschaft der beiden Assads, Vater und Sohn, aufgewachsen waren – es gab keinen Platz für diejenigen, die ihnen nicht treu ergeben waren.
Dann wird ihre Stimme ernster: „Als ich jung war, war ich eine hervorragende Schülerin. Doch eines Tages verbrannte ein Verwandter all meine Notizbücher – als Strafe dafür, dass ich schrieb. Danach hörte ich auf zu schreiben und verharrte lange Zeit in Stille.“ Erst nach der Krankheit fühlte sie sich frei genug, diese „stille Gewalt“, wie sie es nennt, abzustreifen. Auf meine Frage, wer das getan habe, sagt sie nur: „Das erfährst du im Buch.“
Arwa als Spiegel vieler syrischer Frauen
Arwas Geschichte ist kein Einzelfall. Sie steht für syrische Frauen, die jahrelang zum Schweigen gebracht wurden – durch familiären Druck, politische Unterdrückung oder gesellschaftliche Normen. Anlässlich des 25. November, des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen, wird ihre Geschichte Teil eines globalen Themas: der systemischen Gewalt, die Frauen am Lernen, Schreiben, Sprechen und Handeln hindert.
Für eine zukünftige Übergangsphase in Syrien hofft Arwa auf Schutzgesetze für Frauen, auf Aufarbeitung und auf Wahrheitskommissionen. „Gleichstellung ist wichtig“, sagt sie, „aber wir brauchen Gerechtigkeit – nicht nur Gleichheit.“
Im Weggehen dreht sie sich noch einmal zu mir um und sagt: „Nach der Krankheit habe ich begriffen, dass das Leben in den kleinen Dingen steckt. Atmen zu können ist ein Geschenk. In den Supermarkt zu gehen war für mich ein Traum. Eine Tasse Kaffee mit meinen Kindern erfüllt mich mit Dankbarkeit. Wir müssen uns daran erinnern zu leben – auch, um andere an dieses Recht zu erinnern“. Mit diesen Worten bricht sie auf – sie wird sich nicht aufhalten lassen.
Amloud Amir