Ein Meilenstein auf dem Weg zur Reformation

Heinrich Bedford-Strohm über die Bedeutung der Heidelberger Disputation von 1518

Reformatorenfenster in der Heidelberger Peterskirche

Die Reformatorenfenster in der Heidelberger Peterskirche erinnern an die Ereignisse vor 500 Jahren.

„Den Bruder Martin Augustiner Ordens grüßt Albrecht, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Administrator von Halberstadt: Verehrungswürdiger Vater, hochgelehrter Doktor, deine erleuchteten Thesen über den  Ablass, welche du mir am Vortag von Allerheiligen zugesandt hast, habe ich  gelesen und danke für deine Liebe zur Wahrheit. Auch seiner Heiligkeit, dem Bischof von Rom, Leo dem Zehnten, gefallen sie sehr wohl. Gnädig hat er erwogen, dich als Lehrer an seine Universität in der Stadt Rom zu berufen. Zu diesem Zweck bittet und ermahnt er dich, eilends zu ihm zu kommen …“

Was wäre aus dem reformatorischen Impuls geworden, wenn die damalige Kirche so auf Martin Luther reagiert hätte? Wäre es endlich zu der von so vielen geforderten Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern gekommen – ohne Verwerfungen und Hass, ohne die Spaltung der Kirche und ohne Dreißigjährigen Krieg? Kann man sich einen gezähmten Luthervorstellen, einen Reformkatholiken also, wie ihn manche Debattenbeiträge im Jubiläumsjahr 2017 in den Blick nahmen?

Wir wissen jedenfalls: Es ist so nicht gekommen. Denn schon wenige Monate nach den 95 Thesen, die ja an sich noch durchaus im Rahmen der damalig gültigen Theologie gelesen werden konnten und nicht zwingend zu einem Bruch mit seiner Kirche haben führen müssen, legt er kräftig nach. Von seinem Ordensgeneral Johann von Staupitz wird Mönch Martin eingeladen, auf dem turnusgemäß in Heidelberg stattfindenden Generalkapitel der Augustinereremiten seine Theologie zur Diskussion zu stellen. In diesen Wochen vor 500 Jahren nutzt er dann die Chance der Disputation in Heidelberg und entfaltet seine Theologie in zugespitzten Thesen – und findet Freunde und Feinde für das ganze Leben. Denn nicht nur viele spätere treue Weggefährten hören zu und diskutieren mit, sondern auch zahlreiche empörte Gegner. Dieses als „Heidelberger Disputation“ benannte Ereignis gilt als „ein theologischer Meilenstein auf dem Weg zur Reformation“ (Thomas Kaufmann).

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Gott vom Himmel auf die Erde geholt

Die 1518 ja noch in den Kinderschuhen steckende reformatorische Theologie findet hier ihren ersten radikalen Ausdruck, der sie faktisch schwer verdaulich machte für die offizielle katholische Theologie und Kirche seiner Zeit. Und man muss sich diese radikale Umwertung aller Werte in Erinnerung rufen, um auch noch 500 Jahre später nachvollziehen zu können, warum vermutlichauch keine andere Kirche oder Theologie diesen jungen Mönch ertragen konnte und warum Luther keinen freundlichen Brief aus Rom bekommen hat: „Wenn auch menschliche Werke schön aussehen und gut erscheinen mögen, so gilt dennoch, dass sie Todsünden sind“ (These 3). Luther trieb einen groben Keil in die religiöse Praxis seiner Zeit. Im Grunde trifft dieser Satz jeden Menschen, der irgendwie etwas Gutes tut, der Almosen gibt oder den Armen hilft; ganz zu schweigen von den Lebensentscheidungen ungezählter Mönche und Nonnen, die ja im Idealfall von Herzen glaubten, dass sie ein gutes Werk taten, wenn sie den evangelischen Räten Armut, Gehorsam und Enthaltsamkeit folgten. Aber mit dieser radikalen Verneinung aller guten Werke der Menschen war Luther noch nicht mal am Ziel angekommen. Denn in seinen Heidelberger Thesen ist es Gott selbst, der vom Kopf auf die Füße gestellt und vom Himmel auf die Erde geholt wird: „Der ist es nicht wert, ein Theologe zu heißen, der Gottes ‚unsichtbares Wesen durch das geschaffene erkennt und erblickt‘ (Röm 1, 20)“..., „sondern nur der, der Gottes sichtbares und (den Menschen) zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt“ (These 19 und 20). Nicht nur der Mensch, auch Gott bekommt ein neues Standbein in der Welt, nämlich das Kreuz Jesu Christi. Denn auch Gott zeigt sich nicht in erster Linie in der Macht und Schönheit seiner Schöpfungswerke, sondern im Elend und in der Verzweiflung seines Sohnes. Das ist der Beginn der sogenannten theologia crucis, der Kreuzestheologie, die für Luther kennzeichnend und prägend wird für alles, was er später an Themen und Konflikten zu bestehen hatte. Und die Folge dieser Kreuzestheologie ist so revolutionär, dass wir auch heute noch guten Grund haben, genau hinzuhören:

„Der Theologe, der Gottes unverborgene Herrlichkeit sucht, nennt das Übel gut und Gutes übel, der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim rechten Namen“ (These 21). Die theologia crucis macht sich keine Illusionen, sie erträumt sich nicht den Glauben und fantasiert sich nicht den Himmel zurecht, wie es ihre Gegenspielerin, die theologia gloriae, tut, sondern ist nüchtern und realistisch.

„Der Kern der geistlichen Revolution Luthers ist der Glaube an den gekreuzigten Gott.“

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (l.). ueberreicht die Martin-Luther-Medaille der EKD an Kardinal Karl Lehmann.
Heinrich Bedford-Strohm Vorsitzender des Rates der EKD

Dass böse Taten, die die Zehn Gebote übertreten, den Sünder sichtbar machen, ist ja im Grunde noch bis heute unstrittig. Dass aber auch die guten Werke abgrundtief böse sein sollen, das ist schon starker Tobak – bis heute. Aber Luther zaudert nicht, weil es ihm um den inneren Kern dieser guten Taten geht. Solange der Mensch versucht, durch gute Taten sich bei Gott beliebt zu machen, wendet er sich mit seinem Tun weder dem Nächsten zu noch gar Gott, sondern meint allein sich selbst und seine Verdienste. Luther hält dagegen: Erst wenn man nicht mehr berechnend auf sein Heil schielt, kann man wirklich von einer guten Tat sprechen. Diese aber geschieht nur im Glauben daran, dass Gott alle guten Werke selbst ermöglicht. Kein Mensch kann von sich aus Gutes tun. Weshalb die letzte der theologischen Thesen der Heidelberger Disputation so endet: „Die Liebe Gottes findet ihren Gegenstand nicht vor, sondern schafft ihn sich erst, menschliche Liebe entsteht an ihrem Gegenstand“ (These 28).

Luthers Thesen beinhalten weitere Zumutungen: Wer sonntags in der Kirche fromm ist, für den kann es ab Montag nicht nur business as usual geben. Die guten Werke sind als Frucht des Glaubens nicht auf die fromme Nische zu begrenzen. Davon war Luther überzeugt. Aber das Prinzip von Ursache und Wirkung verhält sich genau umgekehrt zu der damals und auch heute noch vorherrschenden Vorstellung: Nicht die guten Werke schaffen Erlösung und Freiheit. Es ist die Freude und die Dankbarkeit über die von Gott geschenkte Erlösung und Freiheit, die den Menschen zur Nächstenliebe befähigt. Dass Gottesliebe und Nächstenliebe zusammengehören, sollte sich vor 500 Jahren als Keimzelle für so manchen gesellschaftlichen Fortschritt in Bildung, Sozialfürsorge und Berufsethos erweisen.

Erlösung von der Selbsterlösung

Der Kern der geistlichen Revolution Luthers ist der Glaube an den gekreuzigten Gott, der Erlösung von der Selbsterlösung und von der Sünde der Berechnung verheißt, weil er demütig und dankbar macht. Es ist der Glaube an den dreieinigen Gott, der in Christus ganz und gar Mensch wurde, der ein gelungenes, heilendes Leben eröffnet, weil er die Grenzen des Machbaren kennt und Gott gerade an diesen Grenzen alles zutraut.

Luther durchschaut die falsche theologia gloriae, die Gott in erster Linie dort erkennen will, wo es schön, gut und stark zugeht. Der christliche Gott aber ist vor allem im Kreuz zu erkennen, seine Schönheit ist die Dornenkrone, seine Güte seine Tränen, seine Stärke sein Todesschrei. Gott selbst wird Opfer der Gewalt. Gott ist „der gekreuzigte Gott“, wie es der große evangelische Theologe Jürgen Moltmann in einem berühmten Buchtitel zugespitzt formuliert hat.

Heinrich Bedford-Strohm


Der Text ist erschienen in der EKD-Flugschrift zum Reformationstag 2018.