Demokratie braucht Tugenden

Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Gemeinsame Texte Nr. 19, November 2006

Geleitwort

Unser demokratisches Gemeinwesen steht vor Aufgaben, die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind. Erschüttert ist die Vorstellung, alle Einzelinteressen fügten sich harmonisch zum Gemeinwohl, überließe man sie nur der unsichtbaren Hand des Marktes oder der sichtbaren Hand des Staates. Seit Jahren wird intensiv diskutiert, was zu tun ist. Aber die Wahrnehmung der Herausforderungen und die lebhafte Auseinandersetzung darüber, wie diesen zu begegnen sei, haben unser Land noch nicht wirklich in Bewegung gesetzt. Mit kleinen Schritten und gelegentlichen Appellen an den Patriotismus sind die heute notwendigen Veränderungen nicht zu erreichen. Allerdings: Etwas anderes als vergleichsweise kleine Schritte, so zeigen es Umfragen und auch Wahlergebnisse, wünscht eine Mehrheit von Wählerinnen und Wählern offenbar nicht.

Doch zugleich ist die Erkenntnis weit verbreitet, dass die Zukunft so nicht zu gewinnen ist. Die Verantwortung dafür wird freilich immer anderen zugewiesen, vorzugsweise „der Politik“. Es fehlt die Einsicht, dass für die Handlungs- und die Leistungsfähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens seiner Natur gemäß alle verantwortlich sind. Und es fehlt ebenso die Einsicht, dass die Demokratie nicht nur verlässliche Strukturen und Verfahren der politischen Entscheidungsfindung braucht, sondern zugleich auf die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung angewiesen ist. Demokratische Institutionen können auf Dauer ihre Funktion nur erfüllen, wenn die politisch Handelnden Grundhaltungen erkennen lassen, die über die Strategieregeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Einfluss hinausgehen. Demokratische Institutionen sind zugleich nur lebensfähig, wenn alle Bürgerinnen und Bürger sich für diese Institutionen mitverantwortlich wissen. Die Demokratie braucht politische Tugenden.

Der Begriff Tugend mag hier überraschen. Lange war er aus der einfachen und auch gehobenen Alltagssprache geradezu verschwunden. Die heutige Ethik hat die Bedeutung der Tugend in der großen klassischen Philosophie, aber auch in gegenwärtigen Konzeptionen verschiedener Herkunft wiederentdeckt. Diese neue Aufmerksamkeit für die Tugendethik stellt neben den ethischen Prinzipien, Normen und Pflichten auch die moralischen Akteure wieder in den Vordergrund. Die ethischen Grundhaltungen spielen auch und gerade im Bereich des politischen Handelns eine wichtige Rolle. Dies ist auch für unser Thema ein Gewinn.

Die Kirchen äußern sich zu diesen Fragen und Herausforderungen nicht, um selbst Politik zu machen oder für einzelne politische Aufgaben Lösungen anzubieten. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie vor allem darin, für eine Wertorientierung in der Politik einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stehen. Zu den Voraussetzungen einer an diesen Maßstäben ausgerichteten Politik gehören entsprechende Einstellungen und Verhaltensweisen auf Seiten aller am politischen Leben beteiligten Akteure, also politische Tugenden. Mit diesem Gemeinsamen Wort wollen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz die heute notwendigen politischen Tugenden beschreiben. Sie wollen aber vor allem zur Ausbildung dieser Tugenden ermutigen.

Unser herzlicher Dank gilt den Vorsitzenden und den Mitgliedern der im Jahr 2004 eingesetzten gemeinsamen Kommission zur Erarbeitung dieses Textes. Wir hoffen, dass die hier vorgelegte Antwort auf die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unseres demokratischen Gemeinwesens Beachtung findet und Resonanz hervorruft.

Bonn/Hannover, 20. November 2006

Karl Kardinal Lehmann 
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz   

Bischof  Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland

Nächstes Kapitel