Demokratie braucht Tugenden

Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Gemeinsame Texte Nr. 19, November 2006

3. Zur Notwendigkeit politischer Tugenden für die Demokratie

Als Bürgerinnen und Bürger haben wir in wenigstens einer Hinsicht ein eigentümlich naives Verhältnis zur Demokratie. Wir wissen zwar, dass in der modernen Welt der demokratische Verfassungsstaat die humanste und leistungsfähigste politische Ordnung ist. Wir bejahen diese Ordnung aus Überzeugung. Aber wir weichen der Frage aus, was die Demokratie denn uns, den Bürgerinnen und Bürgern, abverlangt, um erfolgreich sein, ja, auch nur überleben zu können. Wir verhalten uns oft so, als sei die Demokratie eine Regierungsform, die die Garantie ihres Erfolges in sich trägt. So ist es aber nicht. Dass es zur Demokratie keine akzeptable Alternative gibt, bedeutet keineswegs, dass wir uns einfach darauf verlassen können, die Demokratie werde es schon schaffen, wie auch immer wir mit ihr umgehen.

Vielmehr sind in einer demokratischen Ordnung bestimmte Erwartungen an die politisch Handelnden angelegt. Die Vorstellung, in einer Ordnung der Freiheit könne jeder ohne Rücksicht auf das Ganze seinen Interessen nachgehen, weil die Regeln aus eigener Kraft im Stande seien, einen vernünftigen Ausgleich zu bewirken, ist zwar weit verbreitet und in bestimmten Strängen des politischen Denkens fest verwurzelt. Aber sie ist illusionär. Freiheitliche Institutionen, so klug sie auch entworfen sein mögen, können nicht aus sich heraus das notwendige Minimum an Gemeinwohlorientierung demokratischer Politik gewährleisten. In Wahrheit sind in ihnen immer auch Verhaltensanforderungen an die politisch Handelnden festgeschrieben. Denn erst im Zusammenspiel zwischen bestimmten Regeln und bestimmten Verhaltensmustern können freiheitliche Institutionen ihrer Bestimmung gemäß funktionieren.

Die ältere politische Theorie hat von Tugenden gesprochen. Auch der Tradition der Kirchen ist der Begriff wohlvertraut. Er macht in unserem Zusammenhang deutlich: In einem freiheitlichen Gemeinwesen können die Institutionen den Akteuren die Verantwortung für das Gemeinwohl nicht abnehmen. Die Demokratie rechnet mit einer auf die demokratischen Institutionen ausgerichteten Ethik des politischen Handelns. Die Verhaltensstandards, die das demokratische Gemeinwesen von den politisch Handelnden einfordern muss, ergeben sich aus der Logik seiner Institutionen und finden in dieser Zuordnung ihre Begründung. In der Idee des gemeinwohlverpflichteten öffentlichen Amtes oder eines moralischen Maßstäben verpflichteten „Berufs zur Politik“ ist dieser Gedanke noch am ehesten lebendig. Der Begriff des Amtes wird dabei im Allgemeinen eng verstanden. Die jeder freiheitlichen Ordnung eingeschriebene Erwartung geht aber viel weiter. Sie richtet sich an die ganze Bürgergesellschaft. Im angelsächsischen Raum wird in diesem Zusammenhang über Begriffe wie „civil society“ debattiert. Jede Bürgerin, jeder Bürger ist mitverantwortlich für das Wohl des Ganzen.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Eine Ethik politischen Handelns in der Demokratie nimmt den Institutionen nichts von ihrer überragenden Bedeutung für eine freiheitliche Ordnung. Im Besonderen gilt: Wenn Menschen Macht anvertraut wird, kann man sich nicht lediglich auf ihre Tugend verlassen. Gerade das christliche Verständnis vom Menschen nimmt seine Fehlbarkeit im Hinblick auf den Gebrauch von Freiheit und Macht ernst. Diesem Verständnis entspricht es, dass freiheitliche Ordnungen die Begrenzung und die Kontrollierbarkeit von Macht institutionell gewährleisten. Auch Sanktionen bei Fehlverhalten sind mit dem öffentlichen Amt notwendig verbunden. Darin äußert sich kein besonderes Misstrauen gegen Politikerinnen und Politiker, sondern Einsicht in die besonderen Versuchungen, die mit Macht einhergehen. Freilich ist auch die Wirkung von Sanktionsdrohungen wie die aller institutionellen Vorkehrungen begrenzt.

Es sind also rechtlich bestimmte Institutionen einerseits und nicht rechtlich regulierte Verhaltensmuster andererseits, die gemeinsam „die Verfassung“ der Demokratie ausmachen. Der institutionellen Ordnung der deutschen Nachkriegsdemokratie galt von ihren Anfängen an bis heute viel Aufmerksamkeit. Ihre Stärken und Schwächen sind bekannt. Auch die Kirchen haben sich hierzu verschiedentlich geäußert.(1)  Die für die Demokratie grundlegenden ethischen Standards politischen Verhaltens hingegen haben bisher zu wenig Beachtung gefunden. Eine pauschale Parteien- und Politikerschelte, wie wir sie bisweilen erleben, ist dafür kein Ersatz. Sie ist das Gegenteil eines solchen Nachdenkens. Politische Tugenden verlangen mindestens die gleiche Beachtung wie demokratische Institutionen.

Fußnote:

(1) So etwa in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ aus dem Jahr 1985 oder auf katholischer Seite im Impulstext „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“ vom Dezember 2003.

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