Demokratie braucht Tugenden

Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Gemeinsame Texte Nr. 19, November 2006

2. Die Verantwortung der Kirchen in der Demokratie

Die Kirchen in Deutschland haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Demokratie nach dem Ende des Nationalsozialismus als chancenreichste Staatsform begriffen und verwirklicht wurde und dass die Ordnung des Grundgesetzes von den Bürgerinnen und Bürgern auch als Werteordnung akzeptiert und bejaht wird. Im Bereich der ostdeutschen Länder sind die Früchte dieses Bemühens erst mit der friedlichen Revolution und der dadurch ermöglichten Wiedervereinigung voll zur Geltung gekommen. Während der kommunistischen Herrschaft stellte es für die Kirchen gemäß ihrem Verkündigungsauftrag eine besondere Herausforderung dar, öffentlich für Menschenwürde und Freiheit einzutreten und denjenigen eine Heimat zu bieten, die wegen ihres Einsatzes für die rechtsstaatliche Demokratie verfolgt wurden. Die Kirchen, insbesondere die evangelische, öffneten dann an vielen Orten in der DDR ihre Türen und beteiligten sich an der aufkeimenden demokratischen Bewegung, die im Herbst 1989 die friedliche Revolution in der DDR herbeiführte.

Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht. Das politische, ökonomische und rechtliche System in Deutschland wie in Europa insgesamt ist wesentlich geprägt von jüdisch-christlichen Wertvorstellungen. Im deutschen Grundgesetz hat das christliche Bild vom Menschen seinen Niederschlag gefunden. Dieses Bild vom Menschen ist dadurch bestimmt, dass der Mensch zu freier Entscheidung fähig ist und zugleich immer in solidarischer Verbundenheit mit anderen lebt. Er ist zu verantwortlicher Selbstbestimmung herausgefordert. Sicher können aus dem christlichen Menschenbild nicht direkt ökonomische oder politische Handlungsanweisungen hergeleitet werden. Aber mit seinen zentralen Kategorien der Freiheit, der Würde und der Selbstbestimmung zeigt es einen ethischen Mindeststandard, der in jedem Fall gewahrt bleiben muss, wenn konkrete Entscheidungen getroffen werden.

Nach christlichem Verständnis hängt das, was der Mensch ist und werden kann, von den Beziehungen ab, in denen er lebt. Diese anthropologische Grundaussage begegnet erstmals im biblischen Schöpfungsbericht, in dem die Gottebenbildlichkeit als jenes entscheidende Merkmal genannt wird, das den Menschen erst zum Menschen macht (Gen 1,26 f.). Die Gottebenbildlichkeit des Menschen beruht aber nicht auf der Ausstattung mit bestimmten Fähigkeiten wie der Vernunft oder der Sprache, sondern unabhängig davon auf seiner Beziehung zu Gott. Sie ist für die Identität des Menschen grundlegend. Der Mensch kann darauf vertrauen, dass er von Gott selbst als ein Geschöpf in dieser Welt gewollt ist und ein fundamentales Lebensrecht hat. Die Identität des Menschen wird ebenso durch die Beziehungen herangebildet, in denen er sein Leben führt und gestaltet, durch alle Formen der Interaktion also, die der Mensch zu seinen Mitmenschen, zur Gesellschaft, zur Natur und zur Geschichte aufnimmt.

Die Rede von der Würde des Menschen weist darauf hin, dass der Mensch im Vorhandenen nicht aufgeht und sein Wert in keiner innerweltlichen Beziehung umfassend definiert werden kann. Der Wert eines Menschen kann weder durch seine Eigenschaften noch durch seine Taten begründet werden. Seine einzigartige, unverlierbare Würde gewinnt er vielmehr aus der freien Zuwendung Gottes. Die Fähigkeit zum Überschreiten innerweltlicher Zusammenhänge findet für Christinnen und Christen ihren Ausdruck in der auch im Versagen und auch angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen tragenden Gottesbeziehung. Für die menschliche Freiheit kann aus dieser Beziehung ein Maß für eine ihr entsprechende Lebensform gewonnen werden. Glauben lässt sich in dieser Perspektive verstehen als eine Form und Kraft der Stellungnahme zu den Grunddimensionen des Lebens, die sich am Willen Gottes als dem Inbegriff des Guten und des gelingenden Lebens orientiert.

Für die ethische Orientierung bedeutet dies: Zwar können Christinnen und Christen von keinem menschlichen Handeln die umfassende Verwirklichung des Guten oder gleichsam die Schaffung einer vollkommenen und problemlosen Welt erwarten. Aber sie sind schon durch den Schöpfungsauftrag Gottes dazu berufen, ihrerseits schöpferisch tätig zu werden, d. h. alles Handeln und alle Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation zu stärken, durch die ein gelingendes Leben für alle Geschöpfe befördert werden kann.

Die frühere Zurückhaltung der Kirchen gegenüber der Staatsform Demokratie hat sich grundlegend gewandelt. Zwei Dokumente aus der jüngeren Zeit mögen dies exemplarisch belegen: Für die katholische Kirche ist etwa 1991 in der Sozialenzyklika „Centesimus annus“ Papst Johannes Pauls II. die Wertschätzung der Demokratie ausgedrückt worden, insoweit diese „die Beteiligung der Bürger an den politischen Prozessen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierung zu wählen und zu kontrollieren, als auch dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen“ (Nr. 46). Für die Evangelische Kirche in Deutschland ist auf der Basis der Menschenwürde die „politische Verantwortung [...] im Sinne Luthers ,Beruf‘ aller Bürger in der Demokratie“, wie es in ihrer Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ aus dem Jahr 1985 heißt (S. 16).

Gemeinsam haben 1997 der Ratsvorsitzende der EKD und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz in ihrem Vorwort zum Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ es als zentrales Anliegen der Kirchen formuliert, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen“. Das gleiche Anliegen bewegt die Kirchen, wenn sie hier auf die Sorge vieler Menschen eingehen, ob das demokratische Gemeinwesen die aktuellen Krisen und Herausforderungen tatsächlich bewältigen kann. Dabei wollen die Kirchen zur Wertschätzung der Demokratie und zur Nutzung ihrer Chancen ermutigen.

Alle Bürgerinnen und Bürger tragen – auf je ihre Weise – Verantwortung für diese Gesellschaft und das demokratische Gemeinwesen. Alle haben Handlungsverantwortlichkeiten, denen sie gerecht werden, und Handlungsspielräume, die sie nutzen können und müssen. Auch wenn Menschen in allen ihren Lebensäußerungen der Macht der Sünde unterliegen, menschliches Wirken immer unvollkommen bleibt und sich einige Probleme als unlösbar erweisen mögen, behält verantwortliches Bemühen seinen Sinn. In all ihrem politischen Handeln, also auch in Fällen von Schuld oder Scheitern, wissen Christinnen und Christen sich und die Welt von der Liebe und dem Erbarmen Gottes getragen. Wem so seine Angst genommen und Lebensmut geschenkt wird, der kann auch andere ermutigen. Der kann der Gesellschaft und dem demokratischen Gemeinwesen das geben, was sie vielleicht in der Gegenwart am meisten brauchen:
Ermutigung in kritischer Zeit, in Wort und Tat.

Nächstes Kapitel