Demokratie braucht Tugenden

Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Gemeinsame Texte Nr. 19, November 2006

5. Engagement für unser demokratisches Gemeinwesen

Das demokratische Gemeinwesen in der Bundesrepublik Deutschland steht vor einer harten Bewährungsprobe. Es verfügt über gute Voraussetzungen, sie zu bestehen. Die dafür gegebenen Chancen allerdings müssen mutig genutzt werden. Bisher sind sie bei weitem nicht ausgeschöpft. Der dringende Handlungsbedarf duldet keine weiteren Versäumnisse.

Hohe Arbeitslosigkeit und ungünstige Bevölkerungsentwicklung haben schwere Belastungen mit sich gebracht. Sie werden sich ohne ein Gegensteuern noch verschärfen. Früher denkbare Lösungswege lassen sich nicht mehr ohne weiteres beschreiten. Denn der auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten folgende Transformationsprozess, die voranschreitende Einigung Europas und die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung haben das Handlungsfeld nachhaltig verändert. Allerdings sind mit diesen Veränderungen neben Lasten auch große Vorteile verbunden. Sie lassen sich nutzen.

Die politische und rechtliche Ordnung der deutschen Demokratie hat sich bewährt. Sie bietet vorzügliche Möglichkeiten, auch schwierige politische Aufgaben kraftvoll und verantwortungsbewusst zu bewältigen. Das ist umso aussichtsreicher, als es für dieses Bemühen eine bei allen Mängeln und Hemmnissen immer noch gute Ausgangslage gibt. Drohende Gefahren sind abwendbar. Es liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern, die bestehenden Handlungsspielräume im notwendigen Umfang zu nutzen. Möglich ist das, wenn alle politisch Handelnden ihre je besondere Verantwortung erkennen und wahrnehmen: Wählerinnen und Wähler im Besonderen, aber auch Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, Verbandsvertreterinnen und Verbandsvertreter.

Nicht von Institutionen allein, nicht von der wirtschaftlichen Lage an sich hängt es ab, ob Freiheit, Sicherheit und Wohlstand auch künftig gewährleistet werden. Die Menschen sind es, die dieses Ziel erreichen können: mit ihrem Ideenreichtum und ihrer Kraft, aber vor allem mit ihren Tugenden als verantwortungsvoll für das Gemeinwohl und für die weitere Verwirklichung der Demokratie Handelnde.

Christinnen und Christen sind dazu von ihrem Glauben her besonders aufgerufen und befähigt. In allem politischen Handeln und in jeder politischen Rolle wissen sie sich angenommen und ermutigt durch Gott. Er hat die Menschen geschaffen. Er setzt Vertrauen in sie, trotz Sünde und Schuld. Er hat sie zu seinen Ebenbildern gemacht und mit Würde und Freiheit beschenkt. Daraus erwächst eine große Verantwortung – für das eigene und für das Wohl aller Menschen und damit auch für die Demokratie. Sie stellt die Menschenwürde an die erste Stelle und eröffnet Freiheits- und Handlungsspielräume, die gewahrt und genutzt werden müssen.

Für die Kirchen gehört es zu ihrer politisch-diakonischen Verantwortung und ihrem seelsorgerlichen Auftrag, die politische Gemeinschaft zur Wahrnehmung von Verantwortung in der Demokratie aufzurufen und zu ermutigen. Es ist Teil ihres Verkündigungsauftrages, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger auf das Gebot der Nächstenliebe als Grundlage der politischen Tugend des aktiven Eintretens für die Belange der einzelnen Menschen wie des Gemeinwohls verweisen. Sie verkündigen die Erwartung des Heils im Reich Gottes und damit eine unverlierbare Hoffnung, die Bestand hat, ob menschliches Bemühen gelingt oder nicht. Dass es immer wieder auch misslingt, dass das vollkommene Heil für Menschheit und Welt mit menschlicher Kraft nicht zu erreichen ist, auch durch keine noch so gute Politik, mindert nicht den Sinn und den Wert, sich so weit wie möglich für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen einzusetzen. Die Demokratie bietet dafür unter allen bekannten Staatsformen die besten Voraussetzungen. Sie können und sollten viel stärker als bisher genutzt werden. Die Orientierung, die die politischen Tugenden bieten, ist eine Hilfe und ein Beitrag für ein gutes, gelingendes Leben.

Die Entfaltung demokratischer Tugenden ist eine notwendige Bedingung dafür, Demokratie zu erhalten und lebendig zu halten. Eine andere notwendige Bedingung für eine gute Zukunft des demokratischen Gemeinwesens ist das Vorhandensein belastbarer und leistungsfähiger Institutionen. Die vielleicht wichtigste aller Ressourcen auf dem Weg in die Zukunft aber ist eine begründete Hoffnung. Gott selbst schenkt uns Hoffnung und damit Mut zur Zukunft. Und er fordert uns auf, davon Zeugnis zu geben: „Haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3, 15).

Die weit über den Tag und sogar über dieses Leben hinausreichende Hoffnung, die Christinnen und Christen miteinander teilen und von der sie anderen Menschen mitteilen können, befreit zu einer verantwortlichen Weltgestaltung. Dies gilt nicht nur, aber auch für das Leben in einem demokratischen Gemeinwesen und somit für die im weiten Sinne verstandene Berufung der Bürgerinnen und Bürger zur Politik.

 
Mitglieder der zur Vorbereitung dieses Gemeinsamen Wortes eingesetzten Kommission:

Bischof Dr. Reinhard Marx, Trier (Vorsitzender)
Dr. Jürgen Schmude, Moers (Vorsitzender)
Dr. Christoph Böhr MdL, Mainz
Birte Förster, Köln
Oberkirchenrat David Gill, Berlin (ab 1.7.2005)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt MdB, Berlin
Professor Dr. Peter Graf Kielmansegg, Heidelberg
Hermann Gröhe MdB, Berlin
Professor Dr. Hans-Joachim Höhn, Köln
Prälat Dr. Karl Jüsten, Berlin
Dr. Monika Lüke, Berlin (bis 30.6.2005)
Staatssekretär Michael Mertes, Düsseldorf
Professor D. Dr. Richard Schröder, Berlin
Professor Dr. Gesine Schwan, Frankfurt/Oder
Professor Dr. Max Wallerath, Greifswald

Oberkirchenrat Dr. Eberhard Pausch, Hannover (Geschäftsführer)
Dr. Frank Ronge, Bonn (Geschäftsführer)