Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen

Ein Orientierungsrahmen

4. Der Beitrag des evangelischen Berufsschulreligionsunterrichts zur allgemeinen und beruflichen Bildung

Im Rahmen seines Bildungsauftrags erschließt der Religionsunterricht die religiöse Dimension des Lebens und damit einen spezifischen Modus der Weltbegegnung, der als integraler Teil allgemeiner Bildung zu verstehen ist. Leitziel des evangelischen Religionsunterrichts ist eine differenzierte religiöse Bildung, im Berufsschulreligionsunterricht (BRU) besonders fokussiert auf die Wechselwirkungen von Religion und Beruf. Im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen daher Fragen von existenziellem Gewicht, die über den eigenen Lebensentwurf, die je eigene Deutung der beruflichen Wirklichkeit und die individuellen, gesellschaftlichen und beruflichen Handlungsoptionen entscheiden. Diesen Grundfragen und der Pluralität der religiösen Antworten in unserer Gesellschaft stellt sich der Religionsunterricht auch in der berufsbildenden Schule. Aus Sicht der evangelischen Kirche erprobt der BRU als ein Angebot an alle unter den unterrichtlichen Voraussetzungen der Schule und des beruflichen Lebensumfeldes der Auszubildenden die Sprach-, Toleranz- und Dialogfähigkeit christlichen Glaubens in Beruf und Gesellschaft. Er eröffnet damit einen eigenen Horizont des Weltverstehens, der für den individuellen Prozess der Identitätsbildung und für die Verständigung über gesellschaftliche und berufliche Grundorientierungen unverzichtbar ist. Die Schülerinnen und Schüler eignen sich im Unterricht Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen an, die für einen sachgemäßen Umgang mit sich selbst, mit dem christlichen Glauben und mit anderen Religionen und Weltanschauungen im Kontext ihrer Beruflichkeit notwendig sind.

Der evangelische Berufsschulreligionsunterricht erschließt die religiöse Dimension des Lebens und des Berufs in der besonderen Perspektive, die auf die konkrete Gestalt, Praxis und Begründung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung bezogen ist. Er ist durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet. Für dieses Verständnis ist eine Grunderfahrung konstitutiv, die in reformatorischer Tradition als Rechtfertigung allein durch den Glauben zu beschreiben ist und z. B. auch in Luthers Berufsverständnis einen spezifischen Ausdruck findet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch den Grund, den Sinn und das Ziel seiner Existenz allein Gott verdankt. Gottes unbedingte Annahme enthebt den Menschen des Zwangs zur Selbstrechtfertigung und Selbstbehauptung seines Lebens – auch im Blick auf die berufliche Tätigkeit. Sie stellt ihn in die Freiheit und befähigt zu einem Leben in Verantwortung, das Leistungen in Arbeit und Beruf positiv einschließt. Diese Freiheit und Selbständigkeit wächst im Glauben zu, insofern dieser die Würde des Menschen jenseits seiner Arbeits- und Bildungsleistungen begründet sieht. Gerade so dient der Religionsunterricht der heute notwendigen Bildung zum Beruf im Kontext sich stetig verändernder Berufsbiographien. Der BRU stärkt die Persönlichkeit junger Erwachsener, indem er sowohl für die Bedeutung von Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit als auch für den Umgang mit Scheitern im Leben eine Perspektive eröffnet, die falsche Leistungsansprüche relativiert und den Zuspruch des Evangeliums Jesu Christi zur Sprache bringt.

Der evangelische Religionsunterricht gehört an beruflichen Schulen zur Gruppe der Fächer, die je nach Bundesland als berufsübergreifende, allgemeine oder allgemeinbildende Fächer bezeichnet werden. Diese Fächer dienen der persönlichen Orientierung. In diesem Zusammenhang ist der BRU zugleich ein integrativer Bestandteil beruflicher Bildung, da er wesentliche Kompetenzen auf dem Weg zu einer umfassenden beruflichen Handlungsfähigkeit fördert und Elemente emotionaler, moralischer und sozialer Entwicklung im Bildungsprozess miteinander verbindet. Darüber hinaus hilft der BRU, in beruflichen und außerberuflichen Lebenssituationen authentisch, angemessen, kritisch, solidarisch und zukunftsoffen zu handeln, und stärkt die Achtung vor dem Leben sowie die Bereitschaft, in beruflichen Kontexten – auch strukturell – für soziale Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Toleranz einzutreten.

Insgesamt ist der evangelische Berufsschulreligionsunterricht ein Schulfach, das in zentraler Weise die religiöse und weltanschauliche Pluralität in Schule und Berufsbildung thematisiert und einen wichtigen Beitrag zu deren Bearbeitung leisten kann. Die Fähigkeit, sich mit dieser Pluralität konstruktiv auseinanderzusetzen, beruht auf der Einsicht in Gemeinsamkeiten, die alle Menschen einschließen, aber auch auf dem Bewusstsein der bleibenden Bedeutung unterschiedlicher Lebensorientierungen und Glaubensüberzeugungen. Der doppelten Orientierung an Gemeinsamkeit und Differenz entspricht das Bildungsziel einer Pluralitätsfähigkeit (vgl. EKD-Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“), die besonders in beruflichen Kontexten gefragt ist und deshalb eine profilierte religiöse Bildung voraussetzt. Diese religiöse Bildung wird im evangelischen Berufsschulreligionsunterricht durch vielfältige Lernprozesse gefördert:

  • Evangelischer Berufsschulreligionsunterricht unterstützt durch seine konfessionelle Bestimmtheit die Identitätsbildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie in einem wechselseitigen Prozess gleichzeitig die Fähigkeit zum Dialog mit anderen religiösen und weltanschaulichen Positionen. Damit fördert der Unterricht soziales Lernen und im Ergebnis eine berufliche Teamfähigkeit in den pluralen beruflichen Anforderungssituationen.
  • Das Phänomen Religion wird in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Facetten unter besonderer Berücksichtigung beruflicher Handlungsfelder thematisiert. Durch einen offenen Dialog trägt das Fach zu einer differenzierten Urteilsfähigkeit und zu einer kritischen Toleranz gegenüber den Wahrheitsansprüchen der Religionen bei. Es unterstützt so interkulturelles und interreligiöses Lernen.
  • Im Dialog von biblischen Grundlagen und den Traditionen des christlichen Glaubens mit pluralen religiösen Lebensentwürfen und Weltdeutungen gewinnen Schülerinnen und Schüler Perspektiven für ihr eigenes Leben und die Orientierung in der Berufswelt.
  • Die Kultur, in der wir leben, verdankt sich in vielen Hinsichten christlich begründeten Überzeugungen. Daher werden im evangelischen Berufsschulreligionsunterricht zentrale Gehalte und Elemente christlicher Tradition im kulturellen Gedächtnis in Erinnerung gerufen, aufgedeckt, geklärt und besonders auch hinsichtlich der Beruflichkeit kritisch entfaltet.
  • Wie in keinem anderen Fach können die Schüler und Schülerinnen hier über die Frage nach Gott nachdenken und deren Bedeutung für Grundfragen des menschlichen Lebens ausloten. In der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Evangelium von der Menschlichkeit Gottes werden Grundstrukturen des christlichen Menschen- und Weltverständnisses – auch in ihren beruflichen Implikationen – aufgezeigt.
  • Das Fach bietet die Möglichkeit, an außerschulischen Lernorten Ausdrucksformen christlichen Glaubens und Lebens kennenzulernen und damit einen eigenen Erfahrungshorizont für die unterrichtliche Arbeit zu gewinnen. Es eröffnet damit einen Raum, in dem Schülerinnen und Schüler die Tragfähigkeit des christlichen Glaubens erproben und im Blick auf ihre beruflichen Anforderungen reflektieren können.
  • Schülerinnen und Schüler setzen sich mit ethischen Herausforderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft auseinander und lernen das evangelische Verständnis eines freien und verantwortlichen Handelns im Berufsalltag kennen. Dabei begegnen sie einem Ethos der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit und beziehen diese auf Herausforderungen, die ihnen ihr Leben und ihre Beruflichkeit stellen.
  • Die Einübung elementarer Formen theologischen Denkens und Argumentierens ermöglicht es Schülerinnen und Schülern, einerseits am gesellschaftlichen Diskurs über Glauben, Leben und Beruf argumentativ und sachkundig teilzunehmen und andererseits betriebliche Problemstellungen – z. B. bei Fragen der Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte – durch religiöse Perspektiven zu bereichern und so zu Lösungen beizutragen.
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