Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen

Ein Orientierungsrahmen

1. Einleitung

Die für Deutschland ernüchternden Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien zu Beginn des Jahrtausends waren der Auslöser für umfangreiche Reform­bemühungen im Bereich des allgemeinbildenden Schulwesens. Mit der Hinwendung zu output- bzw. outcomeorientierten Strategien des Bildungsmanagements rückten die Begriffe der Bildungsstandards und Kompetenzen in den Fokus der Bildungsreform. In der Folge wurden für die Kernfächer des allgemeinbildenden Schulwesens outputorientierte Bildungsstandards formuliert und domänenspezifische Kompetenzmodelle entwickelt und zum Teil auch empirisch überprüft. Damit verbanden sich zwei Ziele: einmal die Herstellung einer größeren Transparenz hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des deutschen Schulwesens, zum anderen die Entwicklung der Qualität von Unterricht.

Auch der evangelische Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen nahm diese Impulse auf. In der Veröffentlichung „Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen“ (EKD-Texte 111, 2011) wurden dementsprechend Anforderungen an Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht benannt sowie exemplarisch Bildungsstandards formuliert.

Im Bereich der berufsbildenden Schulen hat die Beschäftigung mit Standards und Kompetenzen eine lange Tradition. Allerdings liegt ihr ein anderes Kompetenzverständnis zugrunde. Kompetenzen werden in berufsschulischen Kontexten nicht auf einzelne Unterrichtsfächer bezogen und wie im allgemeinbildenden Schulwesen domänenspezifisch konzeptualisiert, sondern auf berufliche Herausforderungen bezogen und insofern kontextspezifisch verstanden. Im Mittelpunkt des berufspädagogischen Kompetenzdiskurses steht die umfassende berufliche Handlungsfähigkeit einer Person, die sich differenziert in Fachkompetenzen, Methodenkompetenzen sowie sozialen und personalen Kompetenzen konkretisiert.

Der Berufsbezug prägt die Ansätze berufsbildender Schulpädagogik. Auch die didaktische Diskussion um den berufsbildenden Religionsunterricht nimmt diesen Horizont auf und setzt sich damit auseinander. Im Unterricht werden grundlegende theologische und religiös-ethische Themen behandelt. Dabei werden materiale Berufsbezüge hergestellt, insofern die Anforderungen eines zu erlernenden Berufes im Zentrum stehen. Genauso aber wird die biografische Übergangssituation der Schülerinnen und Schüler thematisiert, hier lässt sich von einem kategorialen Berufsbezug im Sinne allgemeiner Beruflichkeit sprechen. In jedem Fall ist eine Orientierung an den Schülerinnen und Schülern und ihrer Lebens- und Arbeitswelt unerlässlich. Schüler und Schülerinnen in der berufsbildenden Schule befinden sich in einer Lebensphase des Übergangs und der Orientierung. Sie bedürfen der Unterstützung und Begleitung nicht nur in sozialen, sondern auch in existentiellen und ethischen Fragen. Religionsunterricht an der Schule erschließt personale Ressourcen und trägt zur Ausbildung von Selbstvertrauen und Zuversicht bei.

Im berufsbildenden Schulwesen hat der evangelische Religionsunterricht ebenso wie an allgemeinbildenden Schulen die Aufgabe, einen Beitrag zur umfassenden Bildung zu leisten. Entsprechend der Vorgaben der Kultusministerkonferenz für die berufliche Bildung geschieht dies im Rahmen der Aneignung umfassender Handlungskompetenz im beruflichen, im gesellschaftlichen und im privaten Bereich. Die Ziele des berufsbildenden Religionsunterrichts (BRU) gehen in der Berufsbezogenheit und der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz nicht auf. Der BRU ist ein eigenständiges Fach im allgemeinbildenden Lernbereich an der berufsbildenden Schule und bearbeitet spezifische Lerngegenstände. Vor diesem Hintergrund stellt die Entwicklung von Kompetenzen und Standards für den BRU eine komplexe Herausforderung dar.

Dieser Orientierungsrahmen entfaltet ein berufsbildungsspezifisches Kompetenz­modell für den evangelischen Religionsunterricht, das an die prozessorientierten Kompetenzen der Sekundarstufe I[1] anschließt, gleichwohl aber auch das Ziel der Ausbildung umfassender Handlungskompetenz im Blick behält. Es orientiert sich an der Darstellungsweise der verschiedenen Kompetenzbereiche, wie sie der „Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“ (DQR) vorgibt, und akzentuiert die Gegenstandsbereiche religiöser Bildung in berufspädagogischem Sinne. Hinsichtlich der im DQR beschriebenen Niveaustufen und der ihnen zugeordneten Bildungsabschlüsse konzentriert sich dieser Orientierungsrahmen im Wesentlichen auf die Bildungsgänge im Dualen System (Niveau 2-4) und die fachschulischen Ausbildungen (z. B. Erzieherinnenausbildung). Der Berufsbezug der Unterrichtsgegenstände tritt in den Klassen des Dualen Systems am deutlichsten hervor. In ihm werden ein Teil der Ausbildung im Betrieb und ein anderer in der Berufsschule wahrgenommen. Betrieb und Schule leisten Unterschiedliches, sind aber gleichzeitig in ihren Ausbildungszielen aufeinander bezogen. Die Schulart des beruflichen Gymnasiums steht in diesem Orien­tierungsrahmen nicht im Fokus.

Empirisch gesicherte Aussagen über das tatsächlich vorhandene Unterrichtsangebot im berufsbildenden Religionsunterricht lassen sich aufgrund fehlender valider statistischer Daten nur regional oder lokal treffen. Eine sichtbare Tendenz liegt darin, dass seine ausreichende Erteilung eher in den Vollzeitschulformen als in den Teilzeitschulformen gesichert ist.

Häufig wird der evangelische Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen konfessionell-kooperativ im Klassenverband erteilt.[2] Dieser Sachverhalt fordert didaktische und methodische Konsequenzen. Dies ergibt sich nicht nur durch die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern anderer christlicher Konfessionen, sondern auch von Schülerinnen und Schülern anderer Religion und Weltanschauung.

Mit ihrer jüngsten Denkschrift zum Religionsunterricht hat die Evangelische Kirche in Deutschland Pluralitätsfähigkeit und religiöse Orientierung zu zentralen Zielen religiöser Bildung an der Schule erklärt. Der Religionsunterricht „... ermöglicht den Schülerinnen und Schülern vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenserfahrung eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, seinen biblischen Grundlagen und ethischen Konsequenzen. In all dem wird erwartet, dass sich auch ein Verständnis für Menschen entwickelt, die nicht-christlichen Religionen oder keiner Religion angehören. Hier wird deutlich, wie sich das Bildungsziel der Pluralitäts­fähigkeit zu anderen Bildungszielen des Religionsunterrichts verhält: Die im Religionsunterricht ermöglichte religiöse Orientierung stellt eine Voraussetzung auch für Pluralitätsfähigkeit dar.“[3]

Gerade die Schülerschaft einer berufsbildenden Schule ist gekennzeichnet durch eine hohe kulturelle und religiöse Heterogenität. Gemeinsames Leben und Lernen unter diesen Bedingungen erfordert von allen Beteiligten ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, Toleranz und Verständigungsfähigkeit. „Ein Religionsunterricht, der dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient, sollte gleichzeitig als ein Ort verstanden und ausgestaltet werden, an dem die in der eigenen Schule vorhandene sowie mehr oder weniger bewusst gelebte Vielfalt reflexiv aufgenommen und eingeholt werden kann. Im Religionsunterricht können verschiedene Arten und Weisen, mit dieser Vielfalt umzugehen, ausdrücklich thematisiert werden.“[4]

Das Fach Evangelische Religion an der berufsbildenden Schule bewegt sich im allgemeinbildenden Lernbereich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen und Anfragen: Von den Lernenden und Lehrenden im Unterricht selbst über die Schulleitungen bis hin zu den Betrieben, Handwerkskammern und Wirtschaftsverbänden. Diese Spannung offenzuhalten und produktiv zu nutzen, ist nicht zuletzt Absicht des hier vorliegenden Orientierungsrahmens. Er wendet sich an Lehrkräfte und die interessierte Fachöffentlichkeit, besonders aber an die von den Bundesländern und Landeskirchen berufenen Lehrplankommissionen für den BRU in den verschiedenen Ausbildungsgängen. Die hier entwickelten Kompetenzen und Standards sind als Referenzrahmen zu verstehen, der für die konkrete Lehrplangestaltung Anregungen und Hilfen bietet. Die im Folgenden dargelegten Positionen und Ansätze dienen zugleich als Grundlage für das Gespräch mit Schulleitungen, Verbänden, Handwerks- und Handelskammern und anderen gesellschaftlichen Institutionen.

 

[1] Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Re-ligionsunterricht in der Sekundarstufe I. EKD-Texte 111. Hannover 2011.

[2] Vgl. Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht. Würzburg/Hannover 1998, Abs. III.1.

[3] Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsun-terricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2014, S. 55.

[4] A.a.O., S. 103.

 

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