Die kostbare Zeit des Abschieds

Zwei Bestatterinnen in Frankfurt wollen Trauernden Zeit und Raum geben

Viele Fotos von Mohnblüten: Dieses Kunstwerk von Marrianne Jensen hießt 'Mohn und Gedächtnis'
"Mohn und Gedächtnis" von Marianne Jensen: eines der Kunstwerke in den Räumen von "Kistner + Scheidler Bestattungen"

„Alles hat seine Zeit“, dieses Zitat aus dem Prediger Salomo steht auf der Homepage der beiden Bestatterinnen Sabine Kistner und Nikolette Scheidler: „Geboren werden hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit.“ Besonders wichtig ist den beiden Frauen die „kostbare Zeit zwischen Tod und Bestattung“. Sabine Kistner hat einige Jahre als Krankenhausseelsorgerin gearbeitet und dabei häufig gedacht, dieser Übergang müsse sich besser gestalten lassen: „Dieses plötzliche Verschwinden der Verstorbenen – eben waren sie noch da, und dann steht man plötzlich vor dieser Kiste.“

Wenn ein Mensch gestorben ist, scheint die Zeit stillzustehen – einerseits. Andrerseits stürmt so vieles auf die Angehörigen und Nahestehenden ein, dass sie kaum zum Innehalten kommen. In der Regel werden Verstorbene innerhalb weniger Stunden von einem Bestattungsunternehmen abgeholt. Dort werden sie versorgt und verbleiben dann bis zur Bestattung.

Hier setzen Sabine Kistner und Nikolette Scheidler an: Sie wollen den Angehörigen so viel Beteiligung wie möglich einräumen. Bei jedem Schritt können die Angehörigen oder Freundinnen und Freunde dabei sein und auch aktiv mitmachen – sei es beim Waschen und Anziehen der oder des Verstorbenen, beim Verschließen des Sarges oder bei der Gestaltung der Trauerfeier: „Bei allem, was wir tun, sind die Angehörigen jederzeit informiert“, betont Sabine Kistner: "Sie wissen, wer ihre Verstorbenen versorgt und wo sie sich gerade befinden." In dieser Konsequenz, sagt sie, sei ihr Ansatz „nach wie vor einzigartig“.

So viel Beteiligung wie möglich

Seit fast zwanzig Jahren leiten die beiden Frauen ihr Bestattungsunternehmen in Frankfurt. Die Räume in einem Hinterhaus am Rand des Frankfurter Bahnhofsviertels, wenige Schritte vom Main entfernt, sind in freundlichen, warmen Farben gestrichen. Mit den antiken Möbeln und der dezenten Kunst an den Wänden könnten sie auch zu einem geschmackvollen Landhotel gehören. Der kleinere der beiden Abschiedsräume sieht aus wie ein Wohnzimmer: apricotfarbene Wände, Blumenschmuck, zwei gemütliche Sofas.

Das Team von Kistner + Scheidler Bestattungen
Das Team von "Kistner + Scheidler Bestattungen": Links vorne Sabine Kistner, rechts vorne Nikolette Scheidler

Hier können Menschen sich so viel Zeit für den Abschied nehmen, wie sie brauchen; können bei ihrem oder ihrer Verstorbenen sitzen und schweigen, singen, weinen oder auch lachen. Viele kommen immer wieder, und einige bleiben auch über Nacht. „Sie sollen sich wohlfühlen können“, sagt Sabine Kistner. Sie hat auch schon mal den Schlüssel dagelassen, damit die Trauernden sich etwas zu essen holen konnten.

Martin Schreiner (Name geändert) kann sich noch gut an den Abschied von seiner Mutter erinnern: Mit seiner Familie saß er einige Stunden lang in diesem Raum. Gemeinsam sangen sie Lieder, erzählten, lasen Psalmen vor, und er spielte eines seiner Lieblingsjazzstücke. Ein Enkelsohn, der erst wie versteinert wirkte, konnte plötzlich weinen. Beim Waschen und Anziehen wollten weder Martin Schreiner noch seine Frau dabei sein. Doch beide kamen mehrmals und baten, bei der Toten sitzen zu dürfen. „Diese Ruhe“, sagt seine Frau, „war tiefer als alles, was ich je erlebt habe.“

Ermutigung zum Abschiednehmen

Sabine Kistner und Nikolette Scheidler raten in der Regel dazu, den Verstorbenen noch einmal zu sehen und auch anzufassen. „Es ist dann viel leichter zu begreifen, dass der Mensch wirklich gestorben ist.“ Die Angst, Verstorbene könnten schrecklich aussehen, sei fast immer unbegründet. Im Gegenteil: Häufig seien die Angehörigen beruhigt, wenn sie sehen, „wie friedlich und entspannt Menschen – auch nach einen qualvollen Tod – im Sarg liegen“.

Und es geht nicht nur um die Angehörigen: „Ich habe immer mehr das Gefühl, die Verstorbenen kriegen mit, wie mit ihnen umgegangen wird“, sagt Sabine Kistner. Manchmal habe sie den Eindruck, „nach ein paar Tagen bei uns sehen sie besser aus als nach ihrem Tod.“

Neue Wege in der Bestattungskultur

Sabine Kistner und Nikolette Scheidler sind Quereinsteigerinnen in ihrem Beruf – wie alle Mitglieder im „BestatterInnen-Netzwerk“. Hier haben sich Bestatter und Bestatterinnen zusammen geschlossen, die vorher Buchhalter oder Eventmanagerin, Floristin oder Theologe waren. Zu ihrem gemeinsamen Leitbild gehört neben der Beteiligung der Angehörigen die Offenheit für „ganz persönliche und vielleicht auch ungewöhnliche“ Bedürfnisse und Wege in der Trauer: Wer sich hierhin wendet, soll Unterstützung finden, egal ob „Sie sich an den traditionellen religiösen Zeremonien orientieren wollen oder nach neuen Symbolen und Ritualen für den Abschied suchen“.

Die wachsende Individualisierung ist unübersehbar: Trauerfeiern und Bestattungen unterliegen längst nicht mehr alle einer starren Form. Manche feiern den Abschied in bunten Kleidern statt in traditionellem Schwarz. Statt einer Rede ist auch ein gemeinsamer Austausch im Kreis möglich; ein Sarg kann mit Herbstlaub statt mit steifen Kränzen geschmückt werden. Sabine Kistner begrüßt es, wenn Menschen einen persönlichen Ausdruck für ihre Trauer finden. Gelungen findet sie eine Feier, die zum Verstorbenen passt und „ein gutes Licht auf sein Leben wirft“.

Trend zur Privatisierung

Meist kann Sabine Kistner die Entscheidungen der Angehörigen nachvollziehen. Dennoch sieht sie einige Entwicklungen skeptisch. In Rheinland-Pfalz ist im September 2025 die Friedhofspflicht aufgehoben worden. Damit ist es nun legal möglich, eine Urne nicht beisetzen zu lassen, sondern zu Hause aufzubewahren. „Ich finde das fragwürdig“, sagt Sabine Kistner, „weil man die Urne damit einem größeren Kreis an Menschen entzieht.“ Auf den Friedhof, an ein Grab kann jeder gehen, der eines Verstorbenen gedenken möchte. „Sollen die dann alle an der Wohnung klingeln?“, fragt sie.

Noch eine Veränderung sieht sie mit Bedauern: Die Bindung an die Kirche werde immer schwächer. Sabine Kistner hat als Prädikantin (ehrenamtliche Predigerin) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau selbst regelmäßig Gottesdienste gestaltet. Wenn Angehörige nach einem freien Trauerredner fragen, schlägt sie häufig vor, sich erstmal an die Kirchengemeinde des oder der Verstorbenen zu wenden. „Sie haben doch einen ganz tollen Pfarrer“, sagt sie dann. Viele hätten immer noch das Bild, kirchliche Bestattungen würden „gar nicht von dem Verstorbenen handeln“, doch das sei längst nicht zutreffend. „Ich kenne die Pfarrer und Pfarrerinnen hier in der Umgebung fast alle – da wird das Leben gut in den Blick genommen.“

Zum Angebot der Bestatterinnen gehört auch die „Bestattungsvorsorge“. Regelmäßig bieten sie dazu Infoabende an, damit Menschen sich über Möglichkeiten der Bestattung informieren und ihre eigenen Wünsche und Ideen festlegen können. Für die Angehörigen sei es eine Erleichterung, wenn sie wüssten, was der oder die Verstorbene gewollt hat.

Wie sie selbst bestattet werden will? Sabine Kistner lacht. „Ach, wir erleben so viele tolle Bestattungen, da sagen wir ganz oft: Das will ich auch“, sagt sie. Ihr ist eine Feuerbestattung wichtig, aber welche Texte gesprochen werden, das will sie ihren Kindern überlassen: „Die kennen mich so gut, da vertraue ich, dass sie das schön machen werden.“

Andrea Teupke