Einverständnis mit der Schöpfung

II. Die Herausforderung

Die Gentechnik entwickelt sich rasch. Die Orientierung über den Sachstand hat dies im einzelnen belegt. Die damit gegebene Herausforderung besteht

  1. schon darin, daß sich die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Forschung und Technik, mithin auch die Gentechnik, und für ihre öffentliche Kontrolle in den letzten Jahrzehnten einschneidend verändert haben. Auch vollzieht sich
  2. die Entwicklung der Gentechnik zu einer Zeit, wo allgemein das Bewußtsein von der Bedrohung der Biosphäre geschärft und dementsprechend eine Sensibilisierung gegenüber deren möglicher weiterer Gefährdung eingetreten ist. Vor allem ist schließlich
  3. der besondere Charakter gentechnischer Eingriffe in das Erbgut von Lebewesen und die Dimension der dadurch ermöglichten Veränderungen zu bedenken.

1. Veränderungen in den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Forschung, Technik und ihre öffentliche Kontrolle

a) Gegenseitige Durchdringung von Grundlagenforschung und Anwendung

Obwohl die neuzeitliche Wissenschaft sich selbst von allem Anfang an als technisch ausgerichtet verstand, ist heutzutage die der Moderne entstammende Auffassung weit verbreitet, daß wissenschaftliche Grundlagenforschung und technische Anwendung strikt auseinanderzuhalten seien. Dieser Ansicht hat fraglos den Erfolg der modernen Wissenschaft dadurch erheblich gefördert, daß sie die Forschung von verfrühten Anwendbarkeitsforderungen freisetzte. Sie hält überdies die der Wissenschaft gegebene prinzipielle Fähigkeit fest, die verschiedenen Möglichkeiten einer Anwendung ihrer Erkenntnisse zu reflektieren. Faktisch ist jedoch heute die Trennung von Grundlagenforschung und Anwendung weitgehend aufgehoben: Zum einen ist bereits seit längerem zu beobachten, daß der zeitliche Abstand zwischen wissenschaftlichen Entdeckungen und ihrer technischen Umsetzung immer kürzer wird. Zum anderen erleben wir sowohl in personeller wie in institutioneller Hinsicht eine Durchmischung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung. In den fortgeschrittensten wissenschaftlichen Gebieten zeigt sich schließlich überall das Phänomen der Technologisierung. Grundlagenforschung und technische Anwendung verschmelzen so eng, daß sie kaum noch unterscheidbar sind. Dabei läuft dieser Prozeß in beiden Richtungen. Der technisch-apparative Anteil der reinen Grundlagenforschung steigt ebenso an wie der Theoretisierungsgrad technischer Prozesse. Dies gilt sowohl für Mikroelektronik und Informatik als auch für Gentechnik und Molekularbiologie, und es gilt daher um so mehr auch für die Kombination beider Gebiete wie etwa für die ehrgeizigen Projekte einer rechnergestützten Genom-Sequenzierung oder der Entwicklung von "Biochips".

Entweder also ist - mit den Worten von Hans Jonas - die "Unschuld des gesonderten Experiments" dahin, oder aber die ganze Welt in ihrer räumlichen wie zeitlichen Erstreckung wird unter der Zwangsbeteiligung zukünftiger Generationen gleichsam zum "Großlabor". Im Falle der Gentechnik ist dies besonders deutlich: Zum einen ist hier jedes Experiment "in vitro", also im Labor, faktisch ein Experiment "in vivo", also an der lebendigen Natur; zum anderen aber sind gentechnische Experimente, die Eingriffe in die Keimbahn darstellen, stets Experimente unter Zwangsbeteiligung der ganzen Erblinie und - stellt man den Gang der Evolution in Rechnung - in der Größenordnung der Geschichte der Menschheit.

b) Zusammenwachsen von Wirtschaft und Wissenschaft

Mit der schrittweise erfolgenden faktischen Aufhebung der Trennung von Grundlagenforschung und technischer Anwendung fallen nun allerdings tendenziell auch die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen. War der modernen Wissenschaftsauffassung zufolge der wirtschaftliche Nutzen strikt an die technische Anwendung gebunden, während die Grundlagenforschung von der Beeinflussung durch wirtschaftliche Erwägungen weitgehend frei war, greifen nun wirtschaftliche Interessen direkt in den Bereich der Grundlagenforschung ein; bereits die sprunghaft ansteigenden apparativen Aufwendungen können dies belegen. Wirtschaftliche Ziele sind umgekehrt ohne die Nutzung wissenschaftlich-technischer Innovationen kaum mehr zu realisieren, wie die gesamte High-Tech-Entwicklung zeigt. Bis in die Organisation und die personelle Struktur hinein wirken sich die Verwissenschaftlichung der Wirtschaft und die Ökonomisierung der Wissenschaft aus. Damit aber werden Kosten-Nutzen-Überlegungen - und das heißt: Reflexionen auf mögliche wirtschaftliche Folgen wissenschaftlicher Forschung - in wachsendem Maße zum mitbestimmenden Faktor der Grundlagenforschung selbst. Dies betrifft das Anforderungsprofil ebenso wie die Verwertungsbeziehung. Die Internationalisierung der Forschung und die damit einhergehende Verkürzung der Zeit, die neue wissenschaftliche Informationen bis zu ihrer wirtschaftlichen Nutzung benötigen, tun das ihrige dazu. Der Versuch, Technikfolgen zu erforschen, entspricht daher nicht bloß einer politischen Mode, sondern ist Kennzeichen veränderter Randbedingungen von Forschung und Technik selbst.

c) Notwendigkeit der Legitimation

Es ist nicht mehr als konsequent, daß hieraus die Forderung auch von außerwissenschaftlicher Seite resultiert, wissenschaftliche Grundlagenforschung müsse sich für das, was sie tue, eigens legitimieren. In der modernen Wissenschaftsauffassung galt wissenschaftliche Forschung schon allein insofern als legitim, als sie der Wahrheitssuche diente ('theoretische Neugier'). Technologische Forschung kann in verstärktem Maße nur noch durch den Nachweis gerechtfertigt werden, daß ihre Folgen bei geringstmöglichem Schaden größtmöglichen Nutzen für die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit abwerfen. Das hat zumal unter Bedingungen einer Gesellschaft, die nicht nur pluralistisch ist, sondern in der Pluralismus selbst als Wert gilt, erhebliche Konsequenzen. Denn die gesuchte Legitimation läßt sich nicht durch Rückgriff auf ein allgemein anerkanntes Wertesystem erbringen. Das lange Zeit hindurch strapazierte Schlagwort von der 'anwachsenden Wissenschaftsfeindlichkeit' dokumentiert und illustriert den Sachverhalt der entstehenden Legitimationsprobleme vermeintlich reiner wissenschaftlicher Grundlagenforschung recht genau. Allgemein hat sich heute die Einsicht durchgesetzt, daß es nach den Erfahrungen mit der Kernenergie besser sei, die Reflexionen auf den Nutzen bzw. Schaden neuer Technologien anzustellen, bevor diese in größerem Maße eingeführt sind.

d) Reduktion der Distanz zwischen Wissenschaft/Technik und Ethik

Ein zentrales Lehrstück der modernen Auffassung, reine Forschung und technische Anwendung seien strikt zu trennen, ist das sogenannte Wertfreiheitspostulat: Danach kamen wertrelevante Gesichtspunkte allein bei der Frage zur Geltung, ob Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung technisch genutzt und gesellschaftlich realisiert werden sollten; umgekehrt wurde daraus abgeleitet, daß die wissenschaftliche Grundlagenforschung selbst von Wertreflexionen freigehalten werden müsse, wenn sie denn rein bleiben solle. Wie sehr man auch immer dieses von Max Weber theoretisch formulierte Wertfreiheitspostulat mißverstanden haben mag, die Trennung von wissenschaftlicher und ethischer Reflexion war jedenfalls integraler Bestandteil des modernen Wissenschafts-Selbstverständnisses. In den letzten Jahren ist allerdings verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht worden, daß im Zusammenhang der Technologisierung wissenschaftlicher Grundlagenforschung auch dieses Postulat aufgeweicht wird. Wenn in der Tat wissenschaftliche Grundlagenforschung und technische Anwendung immer stärker miteinander verschmelzen, dann wächst zwingend auch die Notwendigkeit, wissenschaftliche Grundlagenforschung einer ethischen Reflexion zu unterziehen.

e) Der Ruf nach der Ethik

Vielerorts wird gegenwärtig die 'Verantwortung' des Wissenschaftlers und des Ingenieurs beschworen. Wissenschafts- und Technikethik erleben geradezu eine Hochkonjunktur. Einer der wesentlichen Gründe dafür ist in der Aufweichung des Wertfreiheitspostulats beschrieben worden. Allgemein läßt sich feststellen: Immer dann, wenn die bisher geltenden Grundlagen des Handelns fraglich werden, kommt es zur Renaissance von Ethik. Die unabsehbaren Machtmöglichkeiten der neuen Techniken und ihre veränderten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen stellen einen solchen Fall dar. Der Anschein der 'Verspätung' der Ethik ist dabei nahezu unausweichlich: Erst wenn sich Brüche und Konflikte aktuell gezeigt haben, setzt eine neue Reflexion auf die Legitimität der eingetretenen

Entwicklungen und die Orientierung des zukünftigen Handelns ein. Ethik ist zu verstehen als die Wahrnehmung von Begründungspflichten für das menschliche Handeln. Sie formuliert Prüffragen und Kriterien, über die sich ein verantwortliches Handeln Rechenschaft ablegen muß. Sie gibt darin aber auch Auskunft über das, was zu tun und zu unterlassen, was zu fördern und zu verhindern ist. In einer Vielzahl von Sachverhalten, die zu einem komplexen Gegenstand wie der Gentechnik gehören, sind ethische Aspekte enthalten, ohne die eine Problembeschreibung unvollständig bliebe. Ethische Überlegungen sind nicht gewissermaßen von außen an die Gentechnik heranzutragen, sondern sie sind in die Klärung ihrer Grundlagen, Methoden, Zielsetzungen und Folgen eingeschlossen.

Es wäre eine Verkürzung der ethischen Aufgabe, sie lediglich als eine nachträgliche Reflexion und Legitimation des Handelns zu begreifen oder im Sinne einer "Reparaturethik" nur auf die Lösung aktueller Konflikte zu beziehen. Ethische Urteilsbildung richtet sich auf das,

  • was die Menschen als "gut" vorfinden und annehmen können und folglich fördern und mehren wollen,
  • was von den Menschen zu gestalten und zu verantworten ist,
  • was in einem aktuellen Konflikt strittig und als Lösungsmöglichkeit erkennbar ist.

f) Patentierung gentechnischer Verfahren und Produkte

In dem Maße, in dem wissenschaftliche Grundlagenforschung technologisiert wird, werden Verfahren und Produkte dieser Forschung wirtschaftlicher Verwertung und damit auch ökonomischen Anreizen zugänglich, die sich zuvor im wesentlichen auf technische Verfahren und Produkte richteten. Seit geraumer Zeit sind nämlich, wobei die Rechtslage etwa in den USA, in der EG oder in der Bundesrepublik Deutschland im einzelnen noch sehr unterschiedlich ist, gentechnische Verfahren ebenso wie biotechnisch hergestellte neuartige Organismen patentierbar. Die Kontroverse hierüber ist nach wie vor offen und unentschieden. Während die eine Seite behauptet, die Patentierbarkeit gentechnischer Methoden und Produkte führe zur wirtschaftlichen Monopolisierung der Lebensherstellung, macht die andere Seite geltend, daß solche Verfahren und Organismen erst durch Patentierung allgemein zugänglich würden, statt priviligiertes Herrschaftswissen bestimmter Firmen zu bleiben. Darüber hinaus mehren sich besorgte Stimmen, die bereits aufgrund der Möglichkeit der Patentierung gentechnischer Verfahren und Produkte eine Verschiebung der Anreizstrukturen innerhalb von Forschung und Entwicklung befürchten: Patentierte Verfahren und Produkte könnten noch einen zusätzlichen Schub erhalten, nicht-patentierte Verfahren und Produkte dagegen auf der Strecke bleiben.

Nun ist zwar die Annahme unbestreitbar, daß die Patentierung gentechnischer Verfahren und Prozesse diese zum Gegenstand wirtschaftlicher Überlegungen im Zusammenhang von zu erhebenden bzw. zu entrichtenden Patentgebühren macht. Dagegen läßt sich wohl die weitergehende Vermutung nicht aufrechterhalten, daß sie auch ein Mittel zur Verhinderung der Transparenz wissenschaftlicher Forschung sei. Vielmehr ist darauf zu verweisen, daß die Möglichkeit (und Pflicht), gentechnische Verfahren und Produkte patentieren zu lassen, über die im Patentverfahren zu erbringende genaue Beschreibung der Prozeduren und der Produktinnovationen zwecks Einlösung des Postulats der "Nacharbeitbarkeit" die Transparenz gerade erhält.

g) Gefährdung der Forschungstransparenz

Im Gegensatz hierzu existiert allerdings eine Reihe von Gründen dafür, warum sich in der Tat die Bedingungen in Richtung einer Gefährdung oder gar Aufhebung der Forschungstransparenz verschoben haben. Diese sind nicht zuletzt im Zusammenwachsen von Wirtschaft und Wissenschaft, in der mit der Technisierung einhergehenden immer höheren Spezialisierung von Forschung und Wissenschaft sowie in der Verzerrung der Anreizstruktur durch die Patentierung bestimmter Verfahren und Produkte zu suchen. Zudem haben in Phasen der Entwicklung neuer Verfahren und Produkte die wirtschaftliche Konkurrenzsituation sowie der externe Zeitdruck häufig den Effekt, daß Forschungsprozeß wie Forschungsergebnisse relativ strikter Geheimhaltung unterliegen. Dem widerspricht jedoch das Postulat der modernen Wissenschaft, größtmögliche Durchsichtigkeit und Publizität zu garantieren, wie es sich etwa in der selbstverständlichen Forderung dokumentiert, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung müßten veröffentlicht werden.

h) Internationalisierung von Forschung und wirtschaftlicher Verwertung

Forschung ist heute ohne den intensiven internationalen Austausch von Resultaten und Personal nicht mehr vorstellbar. Die wirtschaftliche Verwertung hat sich im Handel und in der Bildung transnationaler Unternehmungen seit langem internationalisiert. Forschung und wirtschaftliche Verwertung geschehen somit gleichzeitig in einer Vielzahl von Staaten und Volkswirtschaften und dementsprechend unter unterschiedlichen rechtlichen und ökonomischen Bedingungen. Gerade die Gentechnik bietet dafür reiches Anschauungsmaterial: Während die gentechnische Herstellung von Humaninsulin in den USA seit langem im Gange ist, ist die entsprechende Genehmigung in der Bundesrepublik Deutschland bisher, unter anderem wegen des Fehlens eines Gentechnik-Gesetzes, nicht erteilt worden; ein anderes Beispiel sind die Differenzen beim Umgang mit der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen.

Die im internationalen Rahmen bestehenden Unterschiede führen ohne Zweifel für Forschung und wirtschaftliche Verwertung zu ungleichen Startbedingungen und damit zu Wettbewerbsverzerrungen. Daraus wird nicht selten die Forderung abgeleitet, diese durch Angleichung an den internationalen Standard zu beseitigen: Die Menschheit befinde sich - etwa bei der Entwicklung der Gentechnik - in einem fahrenden Zug, der nicht dadurch zum Stehen komme, daß einzelne aussteigen. Häufig wird - nach dem Muster: Wir oder die anderen - argumentiert: Wenn wir die gentechnische Forschung und Produktion nicht verantwortungsbewußt selbst betreiben, werden andere Länder - und noch dazu vielleicht in wenig vernünftiger Weise - voranschreiten.

Die Kritik an den beschriebenen Verwerfungen im internationalen Vergleich ist berechtigt. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, die Aufrechterhaltung abweichender Verhältnisse in einzelnen Ländern sei sinnlos. Besonderheiten in einem Land können gerade helfen, den kritischen Stimmen in anderen Ländern eine Berufungsgrundlage zu verschaffen und zu erhalten. Insgesamt ist eine verstärkte Bemühung um eine Universalisierung grundlegender ethischer Überzeugungen und eine Annäherung der unterschiedlichen rechtlichen Regelungen dringlich.

i) Die Rolle der Experten und die Wiederermächtigung der Laien

Die technisch-wissenschaftliche Entwicklung zu immer weiterer Spezialisierung und Ausdifferenzierung hat den Effekt, daß weder Experten noch Laien das, was sie zum Leben brauchen, selbst herstellen können. In der Dritten Welt führt dies schon seit einiger Zeit zu einem schwerwiegenden Rückgang der Subsistenzwirtschaft. Noch tiefgreifender ist der Effekt, daß die Laien, letztlich aber auch die Experten selbst immer weniger von dem verstehen, von dem sie mit zunehmender Dynamik der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung immer stärker abhängig werden. Das gilt natürlich in besonderem Maße dort, wo es sich auch um die Abschätzung und Bewertung von Folgen handelt (s. unten S.000). Dieses Faktum zunehmender Laien-Inkompetenz läßt seinerseits den Bedarf an Experten steigen. Deren Rolle, die zunächst einmal darin bestand, ihre fachwissenschaftliche und technische Spezialkompetenz einzubringen, erweitert sich nun auch auf die Beurteilung und Bewertung möglicher Folgen technisch-wissenschaftlicher Innovationen. Die Experten, im Zusammenhang eines arbeitsteiligen Wissenschaftsbetriebes eigentlich Fachleute für weniges, werden so im gleichen zum Orakel für alles und zum Dolmetscher zwischen den Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit.

Daß die Experten durch diese ihnen zugemutete doppelte Funktion überfordert sind, versteht sich von selbst, und so kann denn auch nicht ausbleiben, daß sie sich sowohl in der Vorhersage und Bewertung von Folgen als auch in der Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse vertun. Sich widersprechende Expertenmeinungen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel - und dies, obwohl der Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit auf dem Konzept der Widerspruchsfreiheit aufbaut. Erschwerend kommt die verbreitete Unfähigkeit der Experten verschiedener 'Kulturen' hinzu, miteinander zu kommunizieren. Statt des erwünschten Effekts einer Übertragung der technisch-wissenschaftlichen Beurteilungskompetenz von Experten auf die Laien ergibt sich daher in der entstehenden Expertenkultur das genaue Gegenteil: Keiner glaubt den Experten mehr, und daher wird entweder jeder selbst zum Quasi-Experten, oder aber jeder "kauft" sich seine Experten. Die Expertenkultur führt sich auf diese Weise selbst ad absurdum: In dem Maße, in dem die Überforderung der Experten steigt, sinkt ihre Glaubwürdigkeit. Die Wiederermächtigung der Laien ist auch eine zwingende Folgerung aus der demokratischen Verfassung des Gemeinwesens: Technologiepolitische Richtungsentscheidungen dürfen nicht den Experten überlassen bleiben; die Politiker und Bürger müssen entscheidungsfähig werden und bleiben und dürfen sich diese Kompetenz nicht streitig machen lassen.

j) Politisierung und Vergesellschaftlichung

Die Notwendigkeit, steuernde Einflüsse auf technologisierte Forschungszusammenhänge geltend zu machen, wurde auch vom politischen System erkannt, und in vielen Ländern der industrialisierten Welt existieren daher bereits entsprechende staatliche Vorschriften und gesetzliche Regelungen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1984 vom Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie" eingesetzt, die 1987 ihren viel beachteten, aber von Exekutive und Legislative noch längst nicht ausgeschöpften Bericht vorgelegt hat. 1990 wurde das im Verfahren und im Inhalt umstrittene "Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik" verabschiedet. Darin werden vor allem die Bedingungen von Laborarbeiten, die Freisetzung und Inverkehrbringung von gentechnisch veränderten Organismen sowie Haftungsfragen geregelt.

Darüber hinaus sind die Gesichtspunkte von Sozial-, Umwelt- und Zukunftsverträglichkeit neuer Technologien so stark ins gesellschaftliche Bewußtsein eingedrungen, daß über Institutionen der 'neuen Öffentlichkeit' (Bürgerinitiativen u.ä.) die Idee einer Partizipation aller gesellschaftlich relevanten Kräfte an technologiepolitischen Entscheidungen reale Gestalt anzunehmen beginnt. Zunehmend ist erkannt worden, daß die Entwicklung maßgeblich davon abhängt, wie der öffentliche Diskurs geführt und wer in ihm gehört wird, welche Fragen gestellt und wie die Probleme definiert werden. Bereits auf dieser Ebene kommt es auf die Beteiligung bzw. Beteiligungschancen möglichst vieler an.

Durch die Vermittlung des Instruments der Ethik-Kommission schließlich kommen in zahlreichen Organisationen (von Ministerien und Hochschulen bis zu Kliniken und privatwirtschaftlichen Unternehmen) Legitimationsfragen zu institutioneller Geltung.

k) Technikbewertung als Aufgabe

Seit 1972 in den USA der "Technology Assessment Act" verabschiedet und 1973 in Washington das O.T.A. (Office of Technology Assessment) gegründet wurde, ist auch in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte um die Technikfolgenabschätzung (TA) im Gange. Die erste Enquete-Kommission "Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen - Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung" (1985-1987) sah eine organisatorische Lösung vor, deren Struktur und Lokalisierung - nämlich die Bereitstellung einer Beratungskapazität für das Parlament - dem amerikanischen Vorbild glich. Nachdem dieser Vorschlag nicht realisiert worden war, setzte der Deutsche Bundestag 1987 eine zweite Enquete-Kommission "Gestaltung der technischen Entwicklung - Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" ein. Neben der 1990 erfolgten Einrichtung einer kleinen TA-Forschungsinstitution ("Technikfolgenabschätzungsbüro") beim Deutschen Bundestag stehen jetzt die Dezentralisierung und breite gesellschaftliche Verteilung der TA im Vordergrund der Überlegungen. Dabei kommt den Verbänden und technisch-wissenschaftlichen Vereinigungen sowie der erwähnten 'neuen Öffentlichkeit' (s. oben S.00) eine zentrale Rolle zu.

Methodisch gesehen hat die Entwicklung der TA gezeigt, daß die wissenschaftsgläubige Illusion einer "objektiven" Prognosetechnik der Folgenabschätzung preisgegeben werden muß. An ihre Stelle tritt verstärkt das Element der Rückbeziehung erwünschter bzw. zu vermeidender Zukunftsalternativen ("Szenario"-Verfahren) auf das gegenwärtig in pluralistischen Gesellschaften zu findende Spektrum von Wertungen. Daher beginnt sich auch der Terminus "Technikbewertung" gegenüber "Technikfolgenabschätzung" stärker durchzusetzen. Im Zusammenhang dieser Aufgabenstellung kommt der ethischen Dimension ein ungleich größeres Gewicht zu.

Die Technikbewertung steht allerdings vor einer erheblichen Schwierigkeit. Denn eine sorgfältige und differenzierte Urteilsbildung braucht Zeit. Die Schere zwischen der wachsenden Geschwindigkeit der Technikentwicklung einerseits und der notwendigen Langsamkeit der demokratischen und ethischen Urteilsbildung andererseits geht immer weiter auseinander. Diese sich verschärfende Situation, die der Technikentwicklung einen strukturellen Vorteil gegenüber der Technikbewertung verschafft, stellt ein grundsätzliches Problem dar, das seinen Schatten auf alle Bemühungen des gesellschaftlich verantwortlichen Umgangs mit den Folgen neuer technologischer Entwicklungen wirft.

2. Das Bewußtsein von der Bedrohung der Biosphäre

In der heutigen wissenschaftlich-technischen Zivilisation steht die Ausnutzung der Ressourcen der Erde im Vordergrund. Die Folgen beeinflussen und stören die Biosphäre nachhaltig. Diese Bedrohung wird für viele Menschen zunehmend sichtbar und spürbar. Kranke Wälder, der Treibhauseffekt, eine sich verringernde Ozonschicht sowie das Ansteigen der zivilisationsbedingten Krankheiten legen beispielhaft Zeugnis ab von der möglichen Zerstörungskraft moderner Techniken und ihrer Produkte.

Die Umweltprobleme beschränken sich nicht auf ein Land oder eine Region. Nicht zuletzt der Reaktorunfall von Tschernobyl hat gezeigt, daß die Schäden von außer Kontrolle geratenen Großtechniken katastrophale Ausmaße annehmen können. Dabei bezeichnen die unmittelbaren Schäden nur die Mindestausmaße solcher Katastrophen. Die langfristigen Konsequenzen bleiben großteils verborgen. Die Veränderungen der Biosphäre und die damit zusammenhängenden Auswirkungen auf die Gesundheit nicht nur der Menschen, sondern auch der nichtmenschlichen Lebewesen haben das Bewußtsein für die Abhängigkeit der Menschen von der Beschaffenheit ihrer natürlichen Mitwelt geschärft. Dieses Bewußtsein wächst mit dem Verständnis für die Vernetzungen in der Natur und der eigenen Eingebundenheit in diese Netze. Es hat dazu geführt, daß heute auch die globalen Zusammenhänge in das wissenschaftliche Denken einbezogen werden und die Aufgabe des Schutzes der Biosphäre als Aufgabe der gesamten Menschheit begriffen wird.

Kennzeichnend für das veränderte Bewußtsein sind die weltweiten Proteste gegen bekannt werdende Umweltverschmutzungen. Dieser Protest ist ein Hinweis auf die wachsende Sensibilität im Umgang mit dem vorgefundenen mineralischen und biologischen Reichtum der Erde. Das Augenmerk richtet sich aber auch auf zukünftige Entwicklungen. Die Qualität neuer Techniken wird zunehmend danach beurteilt, wie weit sie in der Lage sind, einen schonenden Umgang mit den verbleibenden Ressourcen zu ermöglichen oder die Entwicklungsmöglichkeiten positiv zu beeinflussen.

Neue Techniken kommen nicht in ein technologisches oder gesellschaftliches Vakuum. Darum können sie auch nur begrenzt mit anderen verglichen werden, die unter historisch und ökologisch unterschiedlichen Bedingungen eingeführt wurden. Jede neue Technik und ihre Produkte sind mit den Produkten und strukturellen Rahmenbedingungen konfrontiert, die durch bereits existierende Techniken mitgeprägt wurden.

Angesichts ungelöster Probleme, die zwar nicht ausschließlich, aber doch auch durch technologische Entwicklungen hervorgerufen wurden, können deshalb neue wissenschaftlich-technische Errungenschaften nicht mehr mit der gleichen Euphorie begrüßt werden, wie das vor einigen Jahren oder Jahrzehnten noch der Fall war. Das gilt auch für die Gentechnik - unbeschadet der Option, daß sie auch zum Umweltschutz eingesetzt werden soll. Erfahrungen mit dem Katastrophenpotential z.B. der Kernspaltungstechnik sollten lehren, das Augenmerk auf die Suche nach schon primär umwelt- und sozialverträglichen Methoden zur Bearbeitung existierender Probleme zu richten.

Wir sind Nutznießer, aber eben auch Bedrohte unserer eigenen Erfindungen. Nicht überraschend ist es darum, wenn viele Menschen nicht nur auf die Ziele und Verwendungszusammenhänge neuer Techniken blicken, sondern mit kritischer Skepsis auch die theoretischen und methodischen Grundlagen der Erkenntnisse, die solche Entwicklungen erst ermöglicht haben, in die Beurteilung einbeziehen.

3. Der Charakter gentechnischer Eingriffe

Mit Hilfe gentechnischer Methoden können erstmals definierte Stücke des Erbmaterials isoliert und in neue Wirtszellen übertragen werden. Unter anderem durch diese Möglichkeit unterscheiden sich gentechnische Methoden von den Mechanismen natürlicher Genveränderungen, aber auch von denen der konventionellen Züchtung. "Definiert" bedeutet hier vor allem, daß Größe und/oder Nukleinsäuresequenz des isolierten Fragments bekannt sind. In vielen Fällen stehen darüber hinaus Informationen über die biochemischen Eigenschaften und die physiologische Funktion zur Verfügung, die das Genprodukt im Spenderorganismus hat. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche Bedrohungen das neue technische Potential mit sich bringt. Dazu ist es notwendig den Charakter gentechnischer Eingriffe und ihre möglichen Konsequenzen zu klären.

a) Die Ebenen der Wirkung gentechnischer Eingriffe

Gentechnische Eingriffe in das Erbmaterial von Lebewesen zielen entweder darauf, die Funktion des übertragenen DNA-Stückes zu untersuchen, bestehende Eigenschaften eines Organismus zu verändern oder ihn mit zusätzlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten auszustatten. Wenn von einer Veränderung der Eigenschaften die Rede ist, bezieht sich dies häufig nur auf die zusätzlichen Leistungen, die ein genmanipulierter Organismus vollbringen kann, z.B. die Herstellung von Insulin oder bestimmter Wachstumshormone. Ebenso entscheidend ist jedoch, ob gentechnische Eingriffe die betreffenden Viren, Zellen oder Organismen nur in der gewünschten und angestrebten Weise verändern oder ob es darüber hinausgehende Wirkungen gibt, die ein Gefahrenpotential für Menschen und Umwelt darstellen und die darüber hinaus durch Laboruntersuchungen nur schwer oder gar nicht zu erfassen sind. Das schließt die Frage ein, ob der gentechnische Eingriff die Fähigkeit des betroffenen Organismus, mit seiner Umwelt in Wechselwirkung zu treten, verändert.

(1) Der innere - molekulare und zelluläre - Kontext

Durch den Einbau eines Gens in ein vorhandenes Genom wird nicht nur die Information für eine bestimmte Anordnung von Aminosäuren in einem Protein übertragen. Vielmehr werden auch die strukturellen Zusammenhänge des Wirtsgenoms verändert. Hier stellt sich die Frage, ob diese Strukturveränderungen des Genoms (Genotyp) auch die Eigenschaften und das Verhalten (Phänotyp) der betroffenen Zellen oder Lebewesen beeinflussen können. Positionswechsel ganzer Genom- bzw. Chromosomenabschnitte, durch die die räumliche Beziehung der Gene untereinander verändert wird, kommen auch unter natürlichen Bedingungen vor. Bei verschiedenen Pflanzen können sie beispielsweise zu gesteigertem Wachstum und besseren Erträgen führen. Erfolgen sie jedoch etwa in den Zellen des Immunsystems einer Maus, kann die betroffene Zelle dadurch in eine Leukämiezelle, d.h. eine Krebszelle umgewandelt werden. In bestimmten Bakterien führt die Änderung der Richtung eines Gens zur dramatischen Erhöhung ihrer Pathogenität, also ihrer Fähigkeit, Krankheiten auszulösen. Solche Beobachtungen lassen erkennen, daß die Erbanlagen ihre Wirkung in der Zelle nicht unabhängig voneinander entfalten, sondern daß sie sich gegenseitig beeinflussen. Diese Beeinflussung findet auf der Ebene der Genexpression, also des Ablesens der genetischen Information, aber auch auf der Ebene der Genprodukte statt. Durch den Einbau einer zusätzlichen Erbinformation können demzufolge auch die ursprünglichen Gene der Wirtszelle eine Strukturveränderung erfahren oder in ihrer Expression beeinflußt werden. Dies kann sich wiederum auf Physiologie und Entwicklungsvorgänge der Wirtszelle auswirken.

Bei dem durch gentechnische Methoden vermittelten Transfer von Erbmaterial kommen die betreffenden Gene in eine neue Umgebung, die sich in der Regel von derjenigen unterscheidet, in die sie in ihrem angestammten Organismus eingebettet waren. Verpflanzte Gene können strukturelle Veränderungen bedingen, die zunächst einmal nichts mit den Eigenschaften des neuen Gens selber zu tun haben. Allein schon durch die strukturellen Veränderungen innerhalb eines Genoms wird die genetische und somit auch die physiologische Konstitution einer Zelle oder eines Organismus beeinflußt. Die Reichweite der Folgen kann unmerkbar gering bis dramatisch sein. Die beschriebenen Phänomene entstehen dadurch, daß durch den Einbau zusätzlicher Gene die Konstitution des Erbmaterials, der innere Kontext der Gene, also ihr Verhältnis zueinander beeinflußt wird.

Allerdings wird eine Maus, die durch die Verlagerung bestimmter Gene Entwicklungsstörungen zeigt, nicht so sehr ein Risiko für die Umwelt darstellen als vielmehr durch die einprogrammierten Fehlschaltungen selbst gefährdet werden. Anders ist die Situation, wenn beispielsweise die Gene eines Virus verändert werden. Durch diese Eingriffe kann das Virus in seiner Vermehrungsfähigkeit beeinträchtigt werden. In Einzelfällen kommt es aber auch zu einer Veränderung der Pathogenität eines solchen Erregers. In einem solchen Fall wären von den Folgen der gentechnischen Veränderung auch die Lebewesen betroffen, die nach der Infektion mit einem solchen Virus erkranken.

(2) Der äußere - ökologische - Kontext

Veränderungen im Genom bringen Konsequenzen für die Wechselwirkungen des betroffenen Virus oder Organismus mit seiner Umwelt mit sich. Dies gilt schon für solche Veränderungen, die durch natürliche Mechanismen hervorgerufen werden. Durch gentechnische Methoden werden jedoch die Möglichkeiten der Neukombination und des Austauschs von Erbmaterial zwischen verschiedenen Lebewesen erweitert; es kann nunmehr auch zwischen solchen Organismen übertragen werden, die sich normalerweise nicht miteinander kreuzen. Die langfristigen Folgen gentechnischer Eingriffe sind weniger gut einschätzbar als die Auswirkungen von Genveränderungen auf der Grundlage natürlich vorkommender Mechanismen, mit denen Menschen und andere Lebewesen im Laufe der Naturgeschichte Erfahrungen sammeln konnten. Auch können durch die technische Übertragung neuer Erbanlagen und ihr Zusammenwirken mit dem Genom der Wirtszelle Eigenschaften entstehen, die der betreffende Organismus bisher nicht hatte und auf der Grundlage natürlicher Mechanismen vermutlich auch nicht entwickelt hätte.

Ein Bakterium, das nach gentechnischen Eingriffen etwa in der Lage ist, sich durch die Verwertung einer größeren Zahl organischer Substanzen neue Lebensräume zu erschließen, hat gegenüber dem Ausgangstyp auch ein anderes Umweltverhalten. Ein genetisch manipuliertes Virus kann andere Wirte befallen, eine trockenheitsresistentere Pflanze neue Lebensräume besiedeln. Hier werden gentechnische Eingriffe also im Bezug auf die ökologischen Zusammenhänge, den äußeren Kontext eines Lebewesens oder einer Zelle wirksam. Während die Vielfalt der Strukturveränderungen und genetischen Wechselwirkungen innerhalb einer Zelle grundsätzlich als endlich und somit allenfalls noch als berechenbar gelten kann, ist äußerst fraglich, ob eine solche Berechenbarkeit auf der Ebene der Wechselwirkungen mit der Umwelt aufgrund der Zufallsabhängigkeit der dort stattfindenden Prozesse überhaupt gegeben ist.

Dies trifft zwar im Prinzip auch auf jeden anderen, durch natürliche Genveränderungen entstandenen Organismus zu. Im Falle eines gentechnischen Eingriffs sind jedoch weitere Faktoren (wie die Aufhebung der Begrenzung durch Lebensraum und Art oder die Geschwindigkeit der Veränderungen) zu berücksichtigen, die zu der "biologischen Neuartigkeit" eines derartigen Organismus beitragen.

b) Das additive und das synergistische Modell der Risikobewertung

Kommt es bei der Beschreibung der Wirkung gentechnischer Eingriffe in besonderer Weise auf den neu entstehenden inneren und äußeren Kontext an, so hat dies Konsequenzen für die Risikobewertung solcher Eingriffe. Dafür sind heute zwei Modelle im Gebrauch. Beim additiven Modell ergeben sich die Eigenschaften eines gentechnisch veränderten Organismus und somit auch sein Risikopotential im Prinzip aus der Addition der Eigenschaften des Wirtsorganismus und der übertragenen Gene. Beim synergistischen oder Kontext-Modell wird davon ausgegangen, daß zwar die biochemischen Eigenschaften der Gene bzw. der davon abgeleiteten Produkte eindeutig beschreibbar sind, daß aber ihre biologische Funktion, d.h. der Einfluß, den sie auf den Zellstoffwechsel, die Stabilität oder das Verhalten des Organismus haben, auch davon beeinflußt wird, in welchen genetischen, zellulären und ökologischen Zusammenhang sie eingebunden sind. Im ersten Fall erscheinen die Eigenschaften des gentechnisch veränderten Organismus und somit auch das von ihm ausgehende Risiko eindeutig bestimmbar. Risiken werden nur dann erwartet, wenn bekanntermaßen pathogene Wirtsorganismen oder Gene verwendet werden. Demgegenüber ist aus einer am Kontext der Gene und Organismen orientierten Sichtweise der Einfluß eines übertragenen Gens auf die Stabilität, die Eigenschaften und das Verhalten der neuen Wirtszelle oder des neuen Wirts nicht eindeutig vorhersagbar, sondern nur durch empirische Untersuchungen bestimmbar. Bis zum Nachweis, daß die gentechnisch manipulierten Organismen sicher zu handhaben sind und auch bei einer Freisetzung in die Umwelt keine Schäden verursachen, werden zur Vorbeugung Sicherheitsmaßnahmen gefordert, die verhindern, daß sie in die Umwelt freigesetzt werden oder das Personal mit ihnen in Kontakt kommt.

Die derzeitige Praxis der Risikoeinstufung orientiert sich vorwiegend am additiven Modell. Die Rekombinationsprodukte werden in Orientierung an den Charakteristika der Genspender und Genempfänger in verschiedene Risikogruppen eingeordnet. Für den letztlich nicht auszuschließenden Fall, daß die veränderten Organismen wider Erwarten doch problematische Eigenschaften zeigen, sollen biologische und physikalische Eingrenzungsmaßnahmen dafür sorgen, daß die problematischen Eigenschaften beherrscht und kontrolliert werden können. Das additive Modell ermöglicht eine schnelle Einstufung gentechnischer Experimente, jedoch treffen seine Annahmen nur in bestimmten, nicht aber allen Fällen zu. Es reicht besonders dann nicht aus, wenn Gene transferiert werden, die in komplexe Stoffwechselzusammenhänge eingreifen und/oder die Wechselwirkungen des Organismus mit seiner Umwelt verändern. Auch werden die Folgen eines möglichen Transfers solcher Gene auf andere Organismen und deren Vermehrungsfähigkeit nicht erfaßt.

c) Zur Unterscheidung zwischen Gentechnik und konventioneller Züchtung

Gentechnische Methoden machen es in weit höherem Maße als bei der konventionellen Züchtung möglich, Artgrenzen zu überschreiten; dadurch werden die biologischen Grenzen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt und zu der uns bekannten Vielfalt von Lebensformen geführt haben, durchlässiger gemacht oder überwunden. Darüber hinaus können auf gentechnischem Wege viele genetische Veränderungen gleichzeitig in das Genom eines Lebewesens einprogrammiert werden; Veränderungen, zu denen eine Art in der Umwelt möglicherweise viele Generationen benötigte, können im Labor innerhalb kurzer Zeit herbeigeführt werden. Der zeitliche Ablauf der natürlichen Evolution wird beschleunigt. Auch wird daran gearbeitet, künstliche Gene (s. oben S.00) herzustellen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Lebewesen ganz neue Eigenschaften vermitteln oder es ihnen ermöglichen, Produkte herzustellen, die bisher in der Umwelt noch nicht vorfindbar waren. Grundlage für die Konstruktion solcher neuartigen Gene sind nicht so sehr vorhandene Gene als vielmehr Strukturmodelle, die auf der Grundlage theoretischer Entwürfe entwickelt wurden. Beim Vergleich der uns heute als natürlich bekannten Mechanismen der Veränderung des Erbmaterials und der Möglichkeiten, die durch die traditionellen Züchtungsmethoden gegeben sind, mit der Reichweite gentechnischer Eingriffe werden somit vier Unterschiede deutlich. Gentechnische Eingriffe

  • führen zu Veränderungen der räumlichen Beziehungen zwischen den Erbanlagen,
  • ermöglichen einen weit über das Vorfindbare hinausgehenden, Artgrenzen überschreitenden Genaustausch,
  • verkürzen die Zeitspannen, die in der natürlichen Evolution für vergleichbare Veränderungen benötigt würden, und
  • erlauben es - möglicherweise zum ersten Mal in der Naturgeschichte -, daß neue Erbinformationen entstehen, ohne sie aus vorhandenen Genen entwickeln zu müssen.

Damit entfallen Sicherungsmechanismen, über die die natürliche Evolution verfügt: In ihr ist jede Mutation zunächst nur in wenigen Individuen vorhanden. Für jeden Schritt der Veränderung sind diese der Umwelt ausgesetzt und müssen in ihr überleben.

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