Einverständnis mit der Schöpfung

IV. Plädoyer für ein neues Verhältnis zur Natur

Für die Kontroverse um die Gentechnik hat die Frage des Verhältnisses von Mensch und Natur grundlegende Bedeutung. Die mit der Gentechnik verbundene Herausforderung erhält, wie wir sahen, ihre besondere Zuspitzung durch die ökologische Krise und die von ihr ausgelöste Sensibilisierung breiter Kreise der Bevölkerung: Was bedeutet der in der Gentechnik wirksame Umgang mit der Natur für die ökologische Krise? Ist er geeignet, ihr entgegenzusteuern, oder wird er sie eher noch verschärfen? Einige der falschen Alternativen, in denen sich die Diskussion der Gentechnik verfangen hat, betreffen gerade die Stellung der Menschen in der Natur und das Verhältnis, das sie sich zu ihr geben.

Ausgangspunkt aller weiterführenden Überlegungen ist die offen am Tage liegende Naturbedrohung und -zerstörung. Sie wirft einen Schatten auf das gegenwärtig weithin wie selbstverständlich praktizierte Herrschaftsverhältnis gegenüber der Natur und fordert auf, umzudenken und ein neues Verhältnis zur Natur zu gewinnen.

1. Geschichtliche Aspekte

a) Der vorherrschende Gedanke der Unterwerfung der Natur und seine Krise

Die Achtung vor der Verschiedenheit menschlicher Erfahrung und vor der Vielfalt der Kulturen läßt eine einlinige Darstellung der Geschichte des menschlichen Naturverhältnisses nicht zu. Nach weit verbreiteter Ansicht gilt die Geschichte der abendländischen Kultur als die Erfolgsgeschichte eines Schritt für Schritt erreichten Übergangs von der Auslieferung der Menschen an eine gewaltige und gewalttätige Natur zur wachsenden Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Die menschliche Befähigung zu rationaler Erkenntnis und technischer Konstruktion hat diesen Fortschritt bewirkt. Die Natur verlor dabei zunehmend ihren Subjektcharakter und wurde zum bloßen Objekt, zum Rohstoff für technische Innovationen zum Zwecke menschlicher Bedürfnisbefriedigung. Doch Wissenschaft und Technik haben nicht nur die Mitwelt der Menschen tiefgreifend verändert, sondern auch wesentlich das Bild geprägt, das sich die Menschen von sich selbst machen. Das Fortschrittsideal der neuzeitlichen Industriekultur speist sich aus unterschiedlichen Quellen oder beruft sich ausdrücklich auf sie: vom biblischen Herrschaftsauftrag über das cartesianische Denken und den emanzipatorischen Ansatz der Aufklärung bis hin zu Überlegungen aus der biologischen Evolutionstheorie und dem utilitaristischen Vertrauen in Eigennutz und Markt. Die inzwischen weltweiten Triumphe der technischen Zivilisation können freilich nicht verdecken, daß sich die Beherrschung und die Umformung der Natur vielerorts als Zerstörung erweisen. Nach einer Formulierung von Ernst Bloch steht die Technik in der Natur "wie eine Besatzungsarmee im Feindesland". Der zivilisatorische Fortschritt verschärft zudem an vielen Stellen der Erde die soziale Ungerechtigkeit und ebnet nicht nur Natur, sondern auch menschliche Kulturen ein. Darum wird zunehmend gefragt, ob solcher Natur- und Kulturzerstörung nicht ein entscheidender Fehler im vorherrschenden Natur- und Menschenbild zugrundeliegt.

b) Neubelebung gegenläufiger Elemente in der Gegenwart

Das Naturverhältnis ist in der Gegenwart in Bewegung geraten. Verschiedene Modelle stehen neben- und teilweise gegeneinander. Sie treffen sich in der Abkehr von dem zuletzt dominierenden und bis heute wirksamen Gedanken, die Natur als bloßes Objekt und verwertbare Ressource zu betrachten:

  • Im Gegenzug zu einer alles durchdringenden technischen Kultur wird Natur in zunehmendem Maße als der Bereich angesehen, in den Menschen nicht eingegriffen haben (s. oben S.00). Gerade die Menschen hochindustrialisierter Regionen wollen in der Freizeit als Ausgleich die "freie", unberührte Natur erleben: im Wald, in den Bergen, am Meer.
         
  • Die ökologische Beschreibung der Erde als eines vernetzten, verletzlichen Systems, in dem alles mit allem zusammenhängt, wird bekräftigt durch die Alltagserfahrung überraschender Fernwirkungen und Rückwirkungen des menschlichen Handelns.     
  • In der Aufnahme von Naturvorstellungen außereuropäischer Völker und nichtchristlicher Regionen wird die Natur als eine heilige Größe angesehen, der mit Scheu zu begegnen sei.
         
  • Durch die Frauenbewegung wird daran erinnert, daß auch innerhalb der eigenen Kultur andere Traditionen des Naturbezugs vorhanden sind.     
  • Erkenntnisse der modernen Physik haben Veranlassung gegeben, die landläufige Einteilung der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt aufzuheben und den Gedanken der Einheit der Natur neu zu denken.
         
  • In der Biologie werden neue Konzepte von der Natur als sich selbstorganisierendem System diskutiert.
         
  • Anknüpfend an naturrechtliche Konzepte wird der normative Charakter des Natürlichen neu betont.
         
  • Auch in der Theologie findet das Thema "Schöpfung und Natur" neue Beachtung. Dies zeigt sich schon in Bemühungen um eine "Theologie der Natur", d.h. die Ausarbeitung des Zusammenhangs von Gotteserkenntnis und Naturverständnis, und um eine Reflexion der Beziehung von Theologie und Naturwissenschaften. Hinzu kommen vor allem Entwürfe, die in der Schöpfungslehre vom Gedanken der Versöhnung der Welt und der Menschen mit Gott ausgehen.

c) Erinnerung an gegenläufige Elemente der christlichen Tradition

Der seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts bis heute weithin das Naturverhältnis beherrschende Gedanke der Unterwerfung der Natur ist auf "charakteristische Eigenarten der christlichen Lehre" (L. White) zurückgeführt und den "gnadenlosen Folgen des Christentums" (C. Amery) zugerechnet worden. Vor allem der biblische Herrschaftsauftrag an den Menschen (1.Mose 1,28) wurde dafür als Beleg angeführt. Der genuine Sinn dieses biblischen Gedankens und seine Wirkungsgeschichte können hier nicht dargelegt werden (vgl. aber unten S.00). Doch es soll daran erinnert werden, daß auch das neuzeitliche Christentum Gedanken enthält, die nicht einer Unterwerfung der Natur das Wort reden, sondern ganz anders ausgerichtet sind.

Noch bis weit in die Mitte des 19.Jahrhunderts hinein wurde im neuzeitlichen Christentum die Natur von den Menschen wahrgenommen in einer agrarisch-handwerklichen, von der Handarbeit geprägten Kultur. Natur war ihnen ihre lebendige Mitwelt, auf die sie angewiesen waren, die sie nutzten und der sie zugleich ausgesetzt waren. Sie war ihnen in ihrem Bestand vorgegeben und - in all ihrer Bedrohlichkeit - doch freundlich. Denn sie wurde als Gabe des Schöpfers angesehen, der ein Freund des Lebens ist und die Macht hat, das Bedrohliche in Schranken zu halten. So war diese Naturauffassung immer auch von Staunen, Dank und Bewunderung geprägt: Bewunderung darüber und Dank dafür, daß sie überhaupt der Arbeit der Menschen an ihr und seinem Bedarf, also ihrem "Nutzen", zugänglich und aufgeschlossen ist; Staunen und Hochachtung angesichts dessen, daß sie in ihrer unermeßlichen Größe und Vielfalt dennoch in sich geordnet und zusammenstimmend ist; und Dank vor allem, daß sie in ihrer undurchdringlich bedrohlichen Urgewalt den menschlichen Lebensraum, die Kultur nicht zerstört. Zu diesem Lebensraum der Kultur gehörten selbstverständlich immer auch Nutzpflanzen und Nutztiere. Diese zu schonen lag gerade im menschlichen "Nutzen".

Dafür einige Belege aus der evangelisch geprägten Kultur. Noch im gegenwärtig gebräuchlichen Gesangbuch finden sich Zeugnisse der skizzierten Naturauffassung, so für die von der bewunderungswürdigen Aufgeschlossenheit der Natur:

"Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land;
doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand";
"es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott."
(M.Claudius)

Oder für die Auffassung von dem erstaunlichen Zusammenstimmen, von der Geordnetheit der unermeßlichen Natur:

Und für die Auffassung von der Dank weckenden Bewahrung vor zerstörerischer Naturgewalt:

"Daß Feuersflammen uns nicht allzusammen
mit unsren Häusern unversehns gefressen,
das macht's, daß wir in deinem Schoß gesessen.
Lobet den Herren!"
(P. Gerhardt: EKG 347, V.4)
"Herr, gib durch deinen Segen den lieben Sonnenschein,
dazu den sanften Regen, die du uns schaffst allein.
Die Frücht im Feld vermehre, behüt vor Reif und Schloß'
und allem Unfall wehre; dein Güt und Macht ist groß."
(M. Behm: EKG 377, V.2)

Auf dem Boden eines solchen Schöpfungsglaubens kommen Schönheit und Zweckmäßigkeit zusammen. Die beiden Zwecke, die nach der traditionellen Theologie die Natur und ihre Abläufe bestimmen, nämlich Gott zur Ehre und den Menschen zum Nutzen und Gebrauch zu sein, stehen keineswegs im Widerspruch. Denn in Dank und Bewunderung beziehen die Menschen selbst das ihnen Nützliche und ihren Gebrauch des Nützlichen ein in die Ehre Gottes. Sie geben Gott die Ehre und danken ihm dafür, daß sie einen Teil der Schöpfung zu ihrem Nutzen gebrauchen können. Darin, daß die Menschen - im Unterschied zu den Tieren - bewußt Gott die Ehre zu geben vermögen, sind sie "Krone" der Schöpfung. Vermessen wäre es, die Menschen würden angesichts der Großartigkeit der Natur dies übersehen und sich in einem anderen Sinne als "Krone" der Schöpfung verstehen, gar als Alleinherrscher. Als Teil der Schöpfung sind Menschen ein Teil der Natur und tragen sie in sich.

Mit einiger historischer Vorstellungskraft dürfte deutlich geworden sein: Auf den Gedanken (oder Ungedanken), "die Natur", etwa die gesamte Pflanzenwelt, "auszubeuten", also ihr das ihr Eigene zu nehmen, sie einzig und allein zu verwerten und zu verbrauchen, kam in dieser traditionalen Naturauffassung niemand. Dieser Gedanke (oder Ungedanke) wäre ja auch völlig abwegig gewesen. Nie wurde in ihr der Schöpfungsauftrag des Menschen, sich die Natur untertan zu machen, so begriffen, als hieße das, die Natur zum bloßen "Objekt", zum bloßen verwertbaren "Material" zu machen.

In einem jahrhundertelangen, mehrschichtigen Prozeß der Industrialisierung und der damit einhergehenden Technisierung der Lebenswelt veränderte sich die Lebensauffassung. Dadurch wurde - jedenfalls im industrialisierten Norden der Welt - ein enormer Fortschritt in der Beseitigung von Hunger und Armut erreicht. Die traditionale Naturabhängigkeit (z.B. von Wind und Wetter, nicht zuletzt für die Ernte und also für die Lebensmittelversorgung) trat zurück. Der neuzeitliche technische Umgang mit der Natur kennt allein das "Machen", das "Herstellen", das Produzieren. Was Gottes Schöpfersein für eine solche Lebenswelt bedeutet, fällt der Theologie heute zu sagen schwer. Dies hängt gewiß auch damit zusammen, daß sie sich angesichts der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen und technischen Umgangs mit der Natur vom Thema "Schöpfung und Natur" mehr und mehr zurückgezogen hatte.

2. Systematische Aspekte

Von verschiedenen Ausgangspunkten her hat ein Umdenken im Blick auf das Verhältnis zur Natur eingesetzt (s. oben S.00). Der folgende Versuch, ein neues Verhältnis zur Natur zu skizzieren, geht von einem bestimmten theologischen Ansatz aus und steht exemplarisch für weitere, auch anders angelegte Bemühungen um das Thema "Schöpfung und Natur".

Die hier entfalteten Überlegungen haben ihre Spitze in der Einsicht: Gott will die Fülle des Lebens; er will, daß nicht nur der Mensch sei; darum darf der Mensch die Natur nicht auf ein menschliches Maß reduzieren und ihr in ihren verschiedenen Lebensformen nicht jeden eigenen Sinn und Wert nehmen. Sie zielen dementsprechend auf ein Verhältnis der Koexistenz, ein freies und teilnehmendes Zusammenleben mit der Natur.

a) Die Welt gut sein lassen

Es fällt nicht leicht, die Welt in einem grundsätzlichen Sinne als von Gott geschaffen zu verstehen. Einen Weg, es zu "erlernen", zeigt die folgende Überlegung: In einer elementaren, grundlegenden Hinsicht findet sich jeder Mensch, wenn er seiner selbst bewußt wird, im Leben und in der Welt immer schon vor. Er ist Kind seiner nicht selbst gewählten Eltern, geboren an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und darum aufgewachsen mit dieser oder jener Muttersprache. Es findet sich jeder Mensch in einem Land und in einer geschichtlich geprägten Lebenswelt vor, zusammen mit anderen Menschen, mit denen er so oder so sein Leben und seine Zeit teilt - aber auch zusammen mit anderem, nichtmenschlichem Leben in der Weite der Natur, ja des Universums. Diese elementare, ursprüngliche Zuordnung, in der sich jeder als schon gegeben vorfindet, betrifft die ganze Existenz jedes Menschen in all ihren Vollzügen. Denn in jedem Augenblick, in dem ein Mensch handelt, ist er schon da, ist ihm seine Lebenswelt und ist er sich selbst schon gegeben. Äußerlich gesehen ist es ganz zufällig so, wie es nun einmal ist. Wenn jedoch ein Mensch sich selbst und seine Lebenswelt bejahen kann, dann kann er gerade auch dieses Gegebensein seiner selbst und seiner Welt als grundsätzlich von Gott geschaffen und gewollt verstehen. Mit der eigenen Lebensbejahung hat er auch seine Stellung im Gegenüber zu anderen Menschen und zu anderem, nichtmenschlichem Leben auf der gemeinsamen Erde bejaht. Gott ist geglaubt als Ursprung aller Geschöpfe. Doch so wenig die anderen Menschen als mein gegebenes Gegenüber eine anonyme Masse sind, so wenig ist die nichtmenschliche Natur in dieser ursprünglichen Zuordnung nur "Objekt" und "das andere". Vielmehr ist sie mir so eine Fülle des verschiedenartig Lebendigen und immer eine unausgekannte Weite, die meine Neugier weckt.

Sich und das Menschsein überhaupt in seiner Geschöpflichkeit zu verstehen meint also: überzeugt sein, daß jene fundamentale Zuordnung von Gott so gewollt ist, einen guten Sinn hat und dem Menschen zugute ist. Es geht darum, die Welt gut sein zu lassen, sie in einer vorrangigen Hinsicht als sinnvoll in sich und als sinnvoll für den Menschen zu akzeptieren. So ist die Welt für den Menschen nicht abstoßend fremd, nicht unverständlich verschlossen und feindlich. Theologen der Anfangszeit christlicher Lehre, aber auch Martin Luther und andere haben gelehrt: Jedes Körnlein, alles in sich Lebendige und Belebte, ist nicht nur das, was an ihm greifbar, meßbar, räumlich erfaßbar ist. Sondern in allem Lebendigen ist etwas Nicht-Greifbares, Nicht-Dingliches: im Samenkorn die eigene Potentialität zur Frucht, im belebten Leib die empfindende Seele. Doch auch von der anorganischen Natur ist zu sagen: In allem Gegebenen, nicht nur im Lebendigen, ist auch Nichtmaterielles. Alle Dinge, ein Stein, das Wasser, haben je ihre Gestalt, ihre Form und innere Konsistenz. Also hat alles in der Natur je seinen Sinn - ist an sich selbst sinnvoll. Eben dies lehrt die christliche Vorstellung, daß Jesus Christus der Logos (das Wort, die Vernunft) selbst ist, daß er der Logos Gottes ist und daß in ihm und durch ihn alles geschaffen ist (Joh 1,1-3). Christus ist der eine Sinn in allem, was sinnvoll ist. Jeder Sinn, der in etwas Sinnvollem ist, stellt gleichsam ein versprengtes und doch mit anderem zusammenstimmendes Moment des einen Sinnes dar, der Christus selbst ist. Was mir aber als sinnvoll einsichtig ist, das achte ich.

b) Die zwiespältige Grundgegebenheit der Welt

Jeder Mensch, der zu sich selbst erwacht ist, findet sich vor in einem Zwiespalt mit sich selbst. Er erfährt immer auch, daß er nicht ist, wie er selbst sein will und - wie er weiß - auch sein soll. Er erfährt, daß etwas Verfehltes in seinem Leben, etwas Störendes und möglicherweise Zerstörendes in ihm ist. Jeder ahnt zumindest, daß er sein Leben führen muß im Kampf gegen solche Kräfte in ihm. Eine gleichartige Zwiespältigkeit findet jeder auch in der Welt um ihn herum. Es liegt etwas Verkehrtes in allem Endlichen, Gegebenen. Schöpferische Lebensmacht und Zerstörungskräfte sind in der Natur, in unserer geschichtlichen Lebenswelt und in uns selbst wirksam. Das ist die durch keine Erklärung aufzuhellende zwiespältige Grundgegebenheit der Welt. Diesem unerklärlichen Faktum liegt das dunkle Rätsel des Bösen zugrunde: daß in dieser zwiespältigen Welt Zerstörerisches - etwa Krankheitserreger - ist, obgleich es doch nicht sein sollte. Das ist die Not allen Lebens, und in diese Not sind wir alle verstrickt. Die Natur, alles Leben ist nicht nur von Zerstörung und Katastrophe bedroht: Sie ist immer und in all ihren Elementen selbst für das Zerstörerische anfällig. Deshalb erscheinen uns die Welt und die Natur immer auch (!) als fremd und unverständlich verschlossen.

Doch wenn Gott diese zwiespältige Welt und uns in ihr gewollt hat und tagtäglich will, dann kennt er auch das Zerstörerische in ihr und in uns. Doch er kennt es so, wie es einzig vor seiner schöpferischen Lebensmacht sein kann: als etwas, das nicht nur nicht sein soll, sondern das keinen endgültigen Bestand hat. Eben dazu hat auch der Mensch beizutragen. Das nun glaubt der Glaubende auch für die Welt und für sich: daß das Zerstörerische überwunden wird.

Was mit diesem Glauben als Bejahung des Lebens durch das Zerstörerische hindurch gemeint ist, kann am Phänomen des Leidens von Menschen deutlich werden. Zu allem Leben gehört auch das Leiden. Es beeinträchtigt das Leben, kränkt und behindert es, kann es sogar verderben. Darum ist das Leiden, so weit menschliches Können es vermag, zu bekämpfen, zu lindern und zu beseitigen: Es soll nicht sein. Doch auf keine Weise lassen sich die Welt und das Leben der Menschen von Leiden und allem Unheilvollen vollständig befreien. Die Vorstellung von einer Perfektionierung der Welt oder des menschlichen Lebens bleibt ein Wahn. Betroffene Menschen müssen das Leiden verkraften. Werden sie die Kraft haben, ihren Schmerz zuzulassen und auszuhalten in der Gewißheit, daß noch aus der Beschädigung Gutes, bejahbares Leben entstehen kann? Und werden sie so zur Bejahung ihres ganzen Lebens finden? Der Glaube an den Gott, der das Leiden kennt und es auferstehend durchstanden hat, enthält diese Gewißheit. Wer daran glaubt, findet etwas von solcher Bejahung, die das Zerstörerische und selbst den Tod nicht ausläßt, in der Natur wieder: in ihrer Übermacht des Lebens.

c) Die Übermacht des Lebens

Die Natur überwindet in ihrer Weise selbst ihre Widersprüchlichkeit. In der Natur ist alles - auch der Mensch als Naturwesen - von anderem abhängig. Nichts ist da ohne das andere. Gewiß ist das keine Harmonie, aber ein Zusammenstimmen des Unterschiedlichen, eine Verträglichkeit einfacher und komplizierter Lebewesen. Und dies in einer permanenten Erneuerung und Fortentwicklung durch den Tod der einzelnen Exemplare, durch Fressen und Gefressenwerden hindurch. So gerade ist alles aufeinander angewiesen; denn was wären die "Fangtiere" ohne die "Beutetiere", und was wären die ersteren, ließen sie nicht auch einige Beutetiere leben? Natürliches Leben ist immer um den Preis des Todes; insofern ist es brutal. Nichts in der Natur ist harmlos, ist "heil". Sie ist voll "Leiden". Die Bibel spricht im Horizont der Erlösung vom Seufzen und Stöhnen der Kreatur (Röm 8). Immer geht das eine auch durch das andere zugrunde. Alles Entstehen schließt ein Vergehen, ein Absterben und Verenden ein. Und doch ist das kein bloßes Auf und Ab. Vielmehr ist gerade so Leben, in sich lebendiges und sich entwickelndes Leben, Miteinander-Leben. Zwar ist es nur eine erkämpfte und umkämpfte Verträglichkeit und als solche weit entfernt von einer wirklichen, den anderen als diesen wollende Gemeinsamkeit. Aber es ist doch ein Auskommen in "ökologischen Gleichgewichten", die sich ständig verändern und entwickeln, also lebendig sind.

Daß nicht nur Zufälligkeit und freie spielerische Vielfältigkeit, sondern auch Vergehen und Tod Bedingungen natürlichen Lebens sind, gehört zum Gesetz der Lebendigkeit des Lebens. Durch all dies hindurch und in all diesem ist Leben der Natur in sich kreativ, in sich lebendig und entwicklungsfähig. Um der Lebendigkeit des Lebens willen sind auch Tod und Sterben, Selbstzerstörung und genetische Defekte notwendig: Es wäre sonst kein evolutionäres, kein kreatives, d.h. neues Leben schaffendes Leben.

Kreativität ist hier verstanden als die Fähigkeit, Neues, also aus dem Vorhandenen nicht Ableitbares, hervorzubringen. Sie impliziert folglich Zufälligkeit, Unvorhersehbarkeit. Man kann geradezu sagen: Kreativität ist in der Natur das Prinzip der Zufälligkeit. Die Notwendigkeit, die im Gesetz der Lebendigkeit des Lebens enthalten ist, ist eine durch die Zufälligkeit hindurch. Denn für die Evolution des Lebens ist gerade das Zufällige - insbesondere der Mutation - notwendig.

Das Gesetz der Lebendigkeit des Lebens ist folglich kein Naturgesetz im naturwissenschaftlichen Sinn, keine Gesetzmäßigkeit, die sich mathematisch erfassen ließe. Es ist das Gesetz der in der Natur verborgenen Vernünftigkeit der Natur; es drückt ihre nur von uns erkennbare Sinnhaftigkeit aus. Nur wir als bewußte Wesen sehen diese Vernünftigkeit der Natur ein. In der Lebendigkeit der Natur, die mit einer ungebändigten Gewalt und einer veschlingenden Fülle einhergeht, läßt sich keine bewußt planende, von außen einwirkende Schöpfermacht erkennen. Aber um der Übermacht des Lebens willen läßt sich ein einsehbarer, vernünftiger und bejahbarer Sinn erkennen, der alles natürliche Leben regiert. In den unendlich vielfältigen und immer sich verändernden und sich entwickelnden Formen des Lebens liegt ganz absichtslos und unverzweckt eine immense Weisheit und auch eine große Stimmigkeit. Bereits gegenüber der unausdenkbar vielfältig "vernetzten" Koexistenz und Gegenseitigkeit eines Ökosystems nimmt sich bekanntlich jeder nur vorstellbare Computer stümperhaft aus.

Es geht beim Gesetz der Lebendigkeit des Lebens nicht um einen endlichen Sachverhalt neben anderen, sondern um die alles bestimmende kreative, vernünftige, geistige Macht in allem Leben der Natur. So drückt es aus, wie Gott als Geist und Sinn von allem in der Natur wirkt und darin sich zeigt. Freilich, Gott ist in der Natur das Kreative unter der Bedingung der den Tod einschließenden Notwendigkeit. Manifestiert er sich in der Natur, so manifestiert er sich im Bereich des Unfreien, Unbewußten. Und er ist darum in der Natur, als das Gesetz des natürlichen Lebens, verborgen und wird nur von uns in ihr erkannt. Aber weil das Leben lebendig ist - so wie wir auch selbst lebendig sind - und weil darum aus vorhandenem Leben noch unerwartet neues Leben werden kann, deshalb können wir das Leben der Natur bejahen und der Fülle allen Lebens froh werden.

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