Einverständnis mit der Schöpfung

Vorwort

Innerhalb weniger Jahrzehnte sind den Menschen auf dem Gebiet der Gentechnik ungeahnte neue Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten zugewachsen, und die Geschwindigkeit der Entwicklung in Forschung und Anwendung nimmt eher zu als ab. Um so dringlicher ist es, daß nicht allein wissenschaftliche Neugier und wirtschaftliches Kalkül, sondern im gleichen Maße, ja vorrangig ethische Überlegungen das Gesetz des Handelns bestimmen. Wir stehen bei der Gentechnik - wie im Falle anderer moderner Techniken - vor der Frage: Wie wollen wir leben? Was nötigt uns dazu, Nebenfolgen einer technischen Entwicklung in Kauf zu nehmen? Was ist das Menschliche am Menschen, das Natürliche an der Natur, das es zu bewahren gilt? Sind wir fähig, auch Verzicht zu üben?

In Öffentlichkeit und Kirche hat sich das Interesse lange, zu lange darauf gerichtet, wo und wie sich die neueren Entwicklungen in Biologie und Medizin auf den Menschen selbst auswirken. So widmeten sich auch die ersten Stellungnahmen aus der Evangelischen Kirche in Deutschland ganz ("Von der Würde werdenden Lebens", 1985) oder zum größten Teil (Kundgebung der Synode "zur Achtung vor dem Leben", 1987; beide veröffentlicht in Heft 20 der EKD-Texte) den Problemen der Fortpflanzungsmedizin und Embryonenforschung, Genomanalyse und Gentherapie beim Menschen. Diese Themen bleiben aktuell und fordern weiterhin die kritische Aufmerksamkeit. Aber ihre prinzipielle oder praktische Vorrangstellung fördert den verhängnisvollen Eindruck, die ethische Problematik begänne erst dort, wo der Mensch unmittelbar berührt ist. Der hier vorgelegte Beitrag hat es sich darum zur Aufgabe gemacht, gegenläufig zu der verbreiteten Fragerichtung gerade die Anwendung der Gentechnik bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren zu thematisieren.

In der Diskussion dieses Anwendungsfeldes der Gentechnik steht im allgemeinen der Risikoaspekt im Vordergrund. Dafür gibt es - angesichts sowohl der mit der Gentechnik einhergehenden objektiven Gefährdungspotentiale als auch der von ihr ausgelösten subjektiven Ängste - gute Gründe. Aber mit der Gentechnik ist über den Risikoaspekt hinaus die fundamentalere ethische Frage gestellt, wie das Verhältnis des Menschen zur Natur beschaffen sein und in welche Richtung es sich verändern soll. Die Ausarbeitung, die hier zur Diskussion gestellt wird, zeichnet sich dadurch aus, daß sie diese Fragestellung ins Zentrum rückt und unter der Überschrift "Einverständnis mit der Schöpfung" gerade ihre religiöse und theologische Dimension entfaltet.

Die Ausarbeitung versteht sich als Diskussionsbeitrag zur ethischen Urteilsbildung. Darin kommt zum Ausdruck, daß die Kirche auf dem Feld der Gentechnik das ethische Urteil nicht vorschreiben und vorwegnehmen, vielmehr eine Hilfe zur eigenverantwortliche Klärung geben will. Ihr Beitrag im Zeitgespräch öffentlicher Verantwortung unterliegt den allgemeinen Verständigungsregeln, zielt auf Schärfung der Gewissen und nicht Bevormundung, auf Einsicht und nicht blinde Gefolgschaft.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat die Arbeitsgruppe, die diesen Diskussionsbeitrag vorbereitet hat, 1986 berufen. Sie wurde mit Vorbedacht so zusammengesetzt, daß in ihr verschiedene Fachrichtungen und kontroverse Positionen vertreten waren. Der Rat hat das Ergebnis der Arbeitsgruppe im Herbst 1999: entgegengenommen und Wert darauf gelegt, daß es einer breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Er verbindet damit die Hoffnung, daß das Plädoyer für ein Umdenken im Verhältnis zur Natur bis hinein in die Wissenschaft und Politik aufgenommen und ein neues Einverständnis mit der Schöpfung gewonnen wird.

Hannover, im März 1991

Bischof Dr. Martin Kruse
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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