Was Familien brauchen

Familienpolitische Forderungen

Die Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit der Familie, das Familienbild der evangelischen Kirche und die Vorstellungen junger Frauen und Männer über ihr künftiges familiales Zusammenleben liegen nach jahrzehntelangen Diskrepanzen gegenwärtig so dicht beieinander wie lange nicht. Dennoch scheinen objektive und subjektive Hindernisse für eine gelingende Familiengründung und eine Realisierung der Kinderwünsche sowie für den Erhalt kontinuierlicher Familienbeziehungen derzeit so groß zu sein, dass Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Die Überwindung dieses die Zukunft unserer Gesellschaft bedrohenden Widerspruchs erfordert äußerste Anstrengungen. Vor allem bedarf es einer erheblichen gesellschaftlichen Aufwertung aller Varianten von Familientätigkeit. Unabdingbar sind in der gegenwärtigen Situation die Weiterentwicklung eines bedarfsgerechten Familienlastenausgleichs, einer familienfreundlichen Infrastruktur und Arbeitswelt sowie einer Alterssicherung, die Erziehungs- wie Pflegezeiten und Erwerbsarbeitszeiten gleichermaßen berücksichtigt.

Zur Verbesserung der Startchancen junger Frauen und Männer bei Familiengründung, Gestaltung ihrer Partnerschaft und Rollenfindung als Mütter und Väter ist es notwendig, dass Kirche und Staat den Heranwachsenden und künftigen Eltern in Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung und allgemeinbildendem Schulwesen die Möglichkeit geben, Alltagskompetenzen zu entwickeln, die familiale Lebensbezüge, Beziehungskompetenzen und Haushaltskompetenzen dezidiert einschließen.

Zur Unterstützung der Familie in den unterschiedlichen Familienphasen ist neben der Familienbildung eine angemessene und kontinuierliche Förderung von Paar- und Lebensberatung einerseits sowie Erziehungs- und Familienberatung andererseits unerlässlich; denn auch die Paarberatung in Ehen oder Partnerschaften ohne oder mit bereits erwachsenen Kindern ist notwendig und kann eine wichtige Präventionsmaßnahme, z.B. im Hinblick auf Konfliktbewältigung, darstellen. Die Kirche bietet eine breite Palette unterschiedlicher Beratungsangebote und -formen, wobei lediglich die Erziehungs- und Schwangerschaftskonfliktberatung eine staatliche Förderung erhält. Zugunsten von Familien und ihren Mitgliedern will die Kirche ihre vielfältigen Angebotsformen aufrecht erhalten und weiterentwickeln. Sie kann dies aber nur, wenn Länder und Kommunen für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen.

Zur Realisierung von gleichen Startchancen für alle Kinder und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit für beide Eltern darf der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz nicht auf wenige Stunden am Tag begrenzt werden. Es müssen ausreichend Ganztagsplätze zur Verfügung stehen. Dies gilt auch für Kinder unter drei und über sechs Jahren. Der außerfamilialen Tagesbetreuung kommt gerade unter dem Aspekt der Verwirklichung von Chancengleichheit und Integration, insbesondere für Kinder aus belasteten Familien oder Familien mit Migrationshintergrund, ein hoher Stellenwert zu. Diesen muss der Zugang zu geeigneten Einrichtungen durch Beitragsfreiheit sowie durch leicht zugängliche und verständliche Informationen erleichtert werden. Um den Eltern die großen Schwierigkeiten in ihrer Zeitorganisation zu erleichtern und allen Kindern und Jugendlichen die gleichen Lernchancen zu schaffen, ist ein bedarfsgerechtes Angebot von Ganztagesbetreuung und Ganztagesschulen in allen Schulformen notwendig.

Zur Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe von Müttern und Vätern ist neben dem Ausbau der Tagesbetreuung von Kindern und einem nachfragegerechtem Teilzeitangebot eine flexiblere Ausgestaltung der bestehenden Elternzeit mit einer funktionierenden Arbeitsplatzgarantie notwendig. Für Frauen und Männer, die wegen der Familienarbeit ihre Erwerbstätigkeit über die Elternzeit hinaus einschränken oder vorübergehend aufgeben wollen, muss es möglich sein, ins Arbeitsleben zurückzukehren sowie ihre Arbeitszeit zu verkürzen oder später zu erhöhen. Flexibilität und verschiedene Formen familiengerechter Arbeitszeit (z. B. Teilzeitarbeit) sind nicht allein gesetzlich in Aussicht zu stellen, sondern auch tariflich ausreichend zu erfassen und abzusichern. Kirche und Diakonie zählen zu den großen Arbeitgeberinnen in unserem Land. Auch sie müssen ihre Arbeitsverhältnisse auf allen Ebenen daraufhin überprüfen, ob sie familienfreundlich sind und geeignete Maßnahmen - auch zur beruflichen Förderung von Frauen - ergreifen.

Zur Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit für Familien ist neben der steuerlichen Leistungsgerechtigkeit, die in der letzten Legislaturperiode - abgesehen von der nach wie vor zu fordernden Dynamisierung von Freibeträgen und Kindergeld im Hinblick auf die Entwicklung der Lebenshaltungskosten - im Prinzip erreicht worden ist, die Berücksichtigung der Bedarfsgerechtigkeit notwendig. Ein Schwerpunkt künftiger Familienpolitik muss daher in der Vermeidung von Armut und einer gerechten Gestaltung des vertikalen Familienlastenausgleichs liegen. Mit einem einkommensabhängigen Zuschlag zum Kindergeld für Familien, deren Einkommen an oder unter der Sozialhilfeschwelle liegt, muss das Kindergeld existenzsichernd und müssen Kinder von Sozialhilfe unabhängig gemacht werden.

Die nächsten Reformschritte in der Altersicherung müssen jeder Frau und jedem Mann den Aufbau einer kontinuierlichen, eigenständigen Rentenbiographie ermöglichen. Familientätigkeit wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen sind dabei in der Bewertung der Erwerbstätigkeit gleichzustellen. Die Beiträge während der Erziehungs- und Pflegezeiten sind nicht von den Familien zu tragen. Die Finanzierung sollte aus Mitteln der Sozialversicherung und des Staates erfolgen. Bei Eheleuten müssen die aus Erwerbs- und Familienarbeit resultierenden Rentenansprüche für die Dauer der Ehe beiden Ehepartnern zu gleichen Teilen zugesprochen werden.

 

Diese Stellungnahme wurde vorbereitet durch eine Arbeitsgruppe. Ihr gehörten an:

Prof. Dr. Dr. Siegfried Keil, Marburg (Vorsitzender)
Ministerialrätin Renate Augstein, Berlin
Oberkirchenrätin Dr. Kristin Bergmann, Hannover
Rosemarie Daumüller, Stuttgart
Oberkirchenrat Dr. Joachim Gaertner, Berlin
Prof. Dr. Irene Gerlach, Münster
Hermann Gröhe MdB, Berlin
Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg, Marburg
Prof. Dr. Hans-Jürgen Krupp, Darmstadt
Sabine Mundolf, Berlin
Präsident Valentin Schmidt, Hannover
Kirchenrat Dr. Jens Kreuter, Hannover (Geschäftsführer)