Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

Das Ganze im Überblick

1. Worum geht es in der Krise? Die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise verlangt auf allen Seiten ein umsichtiges Krisenmanagement. Die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln in der nationalen und internationalen Politik und zwischen Politik und Wirtschaft ist erkennbar gewachsen. Es geht aber nicht allein um die Organisation politischer Abstimmungsprozesse. Gebraucht werden auch Antworten auf tiefer liegende Fragen: Wie bildet sich Vertrauen? Auf welchem Nährboden wächst Verantwortung? Was ist nötig, damit Menschen den Mut finden, Schuld und Irrtümer einzugestehen und neue Wege zu beschreiten? Es geht um nicht weniger als um ein tragfähiges ethisches Fundament. Hier ist die gesamte Gesellschaft gefordert. Die Kirchen stehen dabei in einer besonderen Verantwortung.

2. Was ist die Aufgabe eines kirchlichen Wortes? Der Leitsatz für die kirchliche Einmischung in die Politik lautet: Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen. Die Erschütterungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise fordern genauso wie Umweltkrise und Klimawandel jenseits der kurzfristigen Bewältigung zu einem grundlegenden Wandel heraus. Orientierung für ein neues Denken und Handeln finden Christen in der biblischen Botschaft. Aus der Gewissheit des Glaubens wächst die Zuversicht, dass diese Neuorientierung nicht zu spät kommt.

3. Was sind die Ursachen der Krise? Ausgangspunkt der Finanzmarktkrise ist ein Mangel an Verantwortung im Umgang mit Risiken. Dieser Mangel zeigte sich in Finanzmarkt- und Wirtschaftsunternehmen, im staatlichen Handeln und im individuellen Verhalten: Auf allen Ebenen griff eine Mentalität des „schnellen Geldes“ um sich.

4. Wie geht es weiter? Für die Bewältigung der Krise sind konjunkturpolitische Maßnahmen und eine wirksame Regulierung der globalen Finanzmärkte nötig. Zu unterscheiden sind kurzfristig, mittelfristig und langfristig angelegte Konzepte: Kurzfristig wird der Krise in den meisten Ländern durch Konjunkturprogramme begegnet. Die Kosten werden von der Allgemeinheit getragen; letzten Endes müssen sie von den künftigen Generationen aufgebracht werden. Nicht zu leugnen ist die Gefahr, dass sich mit der Bewältigung der Krise die soziale Ungleichheit weiter verschärft, weil nach der Überbrückung durch staatliche Bürgschaften und Steuergelder zukünftige Unternehmensgewinne wieder privatisiert werden. Mittelfristig ist es erforderlich, die Finanzmärkte einer stärkeren, effizienten und globalen Regulierung zu unterwerfen. Langfristig kommt es darauf an, die Risiken für die zukünftigen Generationen, für die armen Länder und für die natürlichen Grundlagen des Lebens als den Kern künftiger Krisen zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern.

5. Woran sollen wir uns langfristig orientieren? Es ist dringend geboten, über das Krisenmanagement hinaus zu denken. Die Idee einer nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft leitet uns bei unseren Überlegungen zur Beherrschung der Risiken einer globalen Wirtschaft. Dies lässt sich in zehn Orientierungspunkten entfalten:

(1) Notwendig sind eine klare Regulierung und eine wirksame Aufsicht für alle Finanzmarktakteure und -produkte auf allen Finanzmärkten sowie die Verhinderung von Steueroasen.
(2) Konjunkturprogramme sind vorrangig am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auszurichten.
(3) Das Konzept der klassischen Sozialen Marktwirtschaft bedarf der Erweiterung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft.
(4) Der Staat bzw. supranationale Organisationen haben die unvertretbare Aufgabe, wirksame Rahmenordnungen für die Märkte zu etablieren. Globale Institutionen wie die Vereinten Nationen sowie IWF und Weltbank müssen auf eine verbesserte Legitimationsgrundlage gestellt und in der Effektivität ihrer Arbeit gestärkt werden.
(5) Die EU ist der politische Gestaltungsraum für eine ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft der in ihr vereinigten Nationalstaaten.
(6) Die Ziele der Millennium Development Goals müssen politisch verfolgt und durchgesetzt werden.
(7) Die sozialen Sicherungssysteme müssen gestärkt und auch für die kommenden Generationen funktionsfähig erhalten werden.
(8) Die Kosten der Krise müssen vor allem von den Stärkeren getragen und dürfen nicht nur den nachfolgenden Generationen aufgebürdet werden.
(9) Vermehrte Zukunftsinvestitionen, Schuldenabbau und allgemeine Steuersenkungen stehen als politische Ziele in Spannung zueinander. Unter den Gesichtspunkten der längerfristigen Finanzierung und Inflationsvermeidung muss sorgfältig abgewogen werden, welche Maßnahmen derzeit vordringlich sind.
(10) Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch weit anspruchsvoller, als im Allgemeinen bewusst ist. Der individuelle Eigen-nutz, der ein tragendes Strukturelement der Marktwirtschaft ist, kann isoliert zum zerstörerischen Egoismus verkommen. Über die politische und wirtschaftliche Rahmensetzung hinaus ist es eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben. Die Balance zwischen persönlichem Wohlergehen und sozialer und ökologischer Verantwortung geht jeden an. Sie ist nicht zuletzt eine Frage des Lebensstils.

6. Was gibt Zuversicht? Niemand weiß, was die gegenwärtige Krise noch bringen wird und was jedem Einzelnen an Zumutungen bevorsteht. In dem Glauben, dass Gott aus allem Gutes entstehen lassen kann und will, kann alle Angst vor der Zukunft überwunden werden.

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