Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

I. „Wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer“

Die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise schafft Verunsicherung. Vielen wird die Wirtschafts- und Finanzwelt unheimlich, wenn sie es nicht schon war. Solange Wirtschaft und Handel florieren, finden sich viele damit ab, dass sie nicht genau wissen, wie und unter welchen Bedingungen das System funktioniert. Wenn Menschen aber um ihren Arbeitsplatz bangen, erleben sie den Verlust sozialer Sicherheit als Bedrohung der persönlichen Existenz. Fragen nach einer gerechteren Gestaltung des gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Systems kommen auf.

Zur Rettung von Finanzinstitutionen werden Summen aufgewendet, die sich bisher niemand vorstellen konnte. Banken und Firmen, die ansonsten bankrott gehen würden, werden jenseits von Schuld und Versagen mit Milliardengarantien gerettet, weil sie als „systemrelevant“ eingeschätzt werden. Solche Rettungsaktionen erzeugen Bitterkeit – nicht nur bei denen, deren soziale oder ökologische Reformvorstöße in der Vergangenheit mit dem Argument abgewehrt wurden, es sei kein Geld da. Ein besonderes Ärgernis ist, dass die Verursacher und Profiteure der Krise gegebenenfalls nicht für die Konsequenzen ihres Handelns haften werden, während die Allgemeinheit für die Bewältigung der Folgen aufkommen muss.

Alle, die in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen, stehen vor großen Herausforderungen. Krisenmanagement ist gefragt. Parteiübergreifend und international ist die Bereitschaft zu abgestimmtem Handeln erkennbar gewachsen. Das ist mit Respekt zu vermerken. Aber niemand kann heute sagen, welche Entscheidungen am Ende wirksam und erfolgreich sein werden. Jede Handlungsstrategie ist unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr als ein Versuch. Jeder Versuch aber erfordert große staatliche Aufwendungen, die nur einmal aufgebracht werden können. Und dennoch: Politisches und wirtschaftliches Handeln will und muss Vertrauen schaffen – Vertrauen in die Fähigkeit zur grundlegenden Reform des bestehenden Systems und Vertrauen in die eigenen Kräfte.

Dabei geht es nicht allein um die Organisation politischer Prozesse und wirtschaftlichen Managements. Gebraucht werden auch Antworten auf Fragen, die uns alle angehen und dennoch selten gestellt werden: Wie bildet sich Vertrauen? Auf welchem Nährboden wächst Verantwortung? Was ist nötig, damit Menschen den Mut finden, Irrtümer einzugestehen und neue Wege zu beschreiten?

Die Bewältigung der anstehenden Aufgaben ist nicht nur eine politische oder wirtschaftliche Frage. Es geht um nicht weniger als um ein tragfähiges ethisches Fundament. Die Einsicht, dass Menschen immer wieder schuldig werden und in Irrtum verstrickt sind, drängt sich auf. Sie lassen sich zum Missbrauch ihrer Freiheit verführen und brauchen die Kraft zum Neuanfang. Der Zuspruch der Vergebung gewinnt ebenso praktische Bedeutung wie der Aufruf, von der eigenen Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch zu machen. Bei der Vergewisserung über ein tragfähiges ethisches Fundament ist die gesamte Gesellschaft gefordert. Die Kirchen stehen dabei in einer besonderen Verantwortung.

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