Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

V. Verlasst euch nicht trotzig „auf Frevel und Mutwillen“!

Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise müssen in einer langfristigen Perspektive die ökologischen Herausforderungen und die Bekämpfung der absoluten Armut in der Welt einbeziehen. So wie die Verfechter des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft aus der Analyse der Probleme, die der Weltwirtschaftskrise der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zugrundelagen, und aus der Untersuchung ihrer politischen Auswirkungen gelernt haben, so ist es auch in dieser Krise an der Zeit, die Entwicklung weiterzudenken. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft, die einen Weg aus der Krise der freien Marktwirtschaft durch Integration des Leitbilds sozialer Gerechtigkeit suchte, muss heute um Gesichtspunkte der ökologischen Verträglichkeit und der internationalen Gerechtigkeit ergänzt werden. Eine derart erweiterte Idee einer nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft leitet uns bei unseren Überlegungen zur Beherrschung der Risiken einer globalen Wirtschaft. Eine darauf beruhende globale Rahmenordnung braucht als Ziele

- eine Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören, sowie
- eine (Welt-)Gesellschaft, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zu ihrer vorrangigen Aufgabe macht, und
- schließlich ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt.

Gerade jetzt besteht die Gefahr, in Denkmuster zurückzufallen, in denen wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung als Gegensätze begriffen wurden. Eine um Nachhaltigkeitsfaktoren erweiterte Soziale Marktwirtschaft kann verhindern, dass die erreichten Erfolge eines ökologisch orientierten Umbaus wieder preisgegeben werden und die soziale Gerechtigkeit durch eine weiter wachsende Ungleichheit zunehmend beschädigt wird.

Werden Rahmenbedingungen der Weltfinanzmärkte geschaffen, die nicht streng genug sind, um ökologisch und sozial zukunftsfähige Ordnungsstrukturen auf den Weltfinanz- und -gütermärkten zu etablieren, besteht die Gefahr, dass sich die Krisenspirale weiter dreht. Die Krise der internationalen Verschuldung in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und der Zusammenbruch der New Economy in den Jahren 2001 und 2002 bewirkten eine erhebliche Kapitalvernichtung. Sie führten dennoch zur Deregulierung statt zu einer kontrollierten Weiterentwicklung der Weltmärkte – mit ungeahnten Risiken und noch immer unsicherem Ausgang. Eine Orientierung der Politik und der Wirtschaft am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung und des qualitativen Wachstums ist deshalb langfristig die zentrale Herausforderung. Selbst wenn diese Politik zu vergleichsweise niedrigerem quantitativem Wachstum führte, wäre sie zum Nutzen der meisten Menschen auf der Erde und der Natur. Hierfür braucht es in Zukunft eine verbindliche Abstimmung im internationalen Bereich.

Wir ermutigen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, Wege zu suchen, die über die kurzfristige Stabilisierung hinaus eine langfristige Bewältigung der Krisen in der Welt ermöglichen. Dazu geben wir die folgenden Orientierungspunkte zu bedenken:

1. Die Rahmenbedingungen der globalen Finanzmärkte sind so zu ändern, dass weitere spekulative Aufblähungen flüchtiger Finanzblasen so weit wie möglich verhindert werden. Nötig sind dafür eine klare Regulierung und eine wirksame Aufsicht für alle Finanzmarktakteure und -produkte auf allen Finanzmärkten, nicht nur für die Banken. Steueroasen müssen verhindert werden.

2. Konjunkturprogramme sind vorrangig am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Gefördert werden sollten vor allem Maßnahmen zur Steigerung der Energie- und Rohstoff-Effizienz und Investitionen in Bildung als Quelle für zukünftigen gesellschaftlichen Wohlstand.

3. Das Konzept der klassischen Sozialen Marktwirtschaft bedarf der Ergänzung. Dies haben die evangelische und die katholische Kirche bereits in ihrem Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage 1997 gefordert: „Grundlegend muss die Erneuerung der wirtschaftlichen Ordnung auf ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft zielen. Wer die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht bewahrt, zieht aller wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen weg. Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten“ (Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Gemeinsame Texte 9, S. 10).

4. Nach dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft muss der Staat – in Zeiten der Globalisierung ist dies die Aufgabe supranationaler Organisationen – Rahmenordnungen für den Markt schaffen und die Rolle als Schiedsrichter einer fairen Wettbewerbsordnung übernehmen. Eine wirksame Rahmenordnung braucht mehr internationale Verständigung, mehr Distanz zwischen Politik und Wirtschaft und vor allem politische Gestaltungskraft. Globale Institutionen – wie die Vereinten Nationen sowie IWF und Weltbank – müssen auf eine verbesserte Legitimationsgrundlage gestellt und in der Effektivität ihrer Arbeit gestärkt werden.

5. Die Europäische Union ist der nächstliegende politische Gestaltungsraum der in ihr vereinigten Nationalstaaten. Sie muss einen gemeinsamen wirtschaftspolitischen Rahmen setzen, Wettbewerbsverzerrungen durch Regulierung begrenzen und Impulse für Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels und zur Stärkung der sozialen Sicherung in den Mitgliedsstaaten geben. In der globalen Wirtschaft muss sie den Einfluss eines kontinentaleuropäischen Verständnisses politischer Rahmensetzung für wirtschaftliche Freiheit stärken.

6. Die Ziele der Millennium Development Goals müssen durch den Abbau der Han-delsbarrieren, durch eine verbesserte finanzielle Ausstattung der Entwicklungsbanken und direkte Hilfen für die ärmsten Länder weiter verfolgt werden. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass die armen Länder, die von der aktuellen Krise besonders betroffen sind, ohne maßgeblich zu ihrem Entstehen beigetragen zu haben, massiv unterstützt werden. Bei den weiteren Schritten zu einer angemessenen Reaktion auf die Globalisierung ist darauf zu achten, dass lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe sozusagen als „Sicherungsnetz“ gegen die weltweite Übertragung von Krisen gefördert werden.

7. Die sozialstaatlichen Sicherungssysteme müssen so gestaltet werden, dass sie gerade in der Krise ihrer Aufgabe gerecht werden, Solidarität zu stabilisieren und Existenzängste zu reduzieren. Wie sich gerade in Deutschland und Mitteleuropa zeigt, haben sie zudem auch die Funktion der Stabilisierung von Kaufkraft und damit der Dämpfung von Krisenfolgen.

8. National und international müssen die Kosten der Krise vor allem von den Stärkeren getragen werden. Sie dürfen nicht über den Abbau von Sozialleistungen aufgebracht und vorrangig den nachfolgenden Generationen aufgebürdet werden. Mit der Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ bekräftigen wir: „Zur sozialen Gestaltung der fortschreitenden Globalisierung bedarf es weltweit gültiger Spielregeln. Dabei sollte das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft die globalisierten Entwicklungen auch international prägen. Es geht darum, Kriterien der gerechten Teilhabe aller bzw. der sozialen Inklusion weltweit zu verankern“ (a.a.O. S. 98). Eine nachhaltige Politik bleibt auch denen rechenschaftspflichtig, die gegenwärtig keine politische Stimme haben.

9. Vermehrte Zukunftsinvestitionen, Schuldenabbau und allgemeine Steuersenkungen stehen als politische Ziele in Spannung zueinander. Unter den Gesichtspunkten der längerfristigen Finanzierung und Inflationsvermeidung muss sorgfältig abgewogen werden, welche Maßnahmen derzeit vordringlich sind.


10. Politische Ordnungen und Regulierungen können nicht vollständig verhindern, dass Einzelne ihr Eigeninteresse absolut setzen und sich dem Gemeinwohl
gegenüber rücksichtslos verhalten. Der Erfolg des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft hängt wesentlich von der moralischen Prägung und dem ethischen Verhalten der Verantwortungsträger ab. Politische Rahmensetzungen und die Verantwortlichkeit der Einzelnen gehören zusammen. In einer globalen Wirtschaft, in der die Missbrauchsgefahren deutlich gewachsen sind, ist es wichtiger denn je, moralische Verpflichtungen und soziale Werte bewusst zu machen und die Gewissen zu schärfen. Nötig sind ethische Diskurse auf allen Ebenen der Gesellschaft wie der Unternehmen. Daher bekräftigen wir den Appell aus dem Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997: „Die Strukturen allein reichen ... nicht. Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im Allgemeinen bewusst ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur. Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen Egoismus ... Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben“ (a.a.O.).

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat – neben den zusammen mit der katholischen Kirche veröffentlichten Worten „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) und „Demokratie braucht Tugenden“ (2006) – mit ihren Denkschriften „Gemeinwohl und Eigennutz“ (1991), „Gerechte Teilhabe“ (2006) und „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ (2008) orientierende Texte für eine neue soziale und politische Kultur vorgelegt, für die insbesondere Barmherzigkeit und Solidarität, die Verantwortung für das Gemeinwohl und die gerechte Teilhabe aller in einem demokratischen Gemeinwesen wichtige Eckpfeiler bilden. Damit ist eine Aufgabe beschrieben, die jeden persönlich angeht: Die Balance zwischen persönlichem Wohlergehen und sozialer wie ökologischer Verantwortung ist nicht zuletzt eine Frage des eigenen Lebensstils.

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