Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

III. Was wahr ist“, sollt ihr schauen! Schauet nicht, „was das Herz begehrt“!

Ausgangspunkt der Finanzmarktkrise ist nach dem weithin übereinstimmenden fachlichen Urteil ein Mangel an Verantwortung, bis hin zur Verantwortungslosigkeit. Nicht mehr kontrollierbare Risiken wurden in Kauf genommen, weil man auf diese Weise Wachstumschancen und hohe Renditen erwartete. Das gilt für die Akteure auf den Finanzmärkten ebenso wie für die Aufsichts- und Regulierungsorgane und die Vergütungsanreize, die in den Unternehmen gesetzt wurden, es gilt aber auch für die politisch Verantwortlichen. Im Vordergrund steht das Versagen Einzelner und bestimmter Gruppen. Die Orientierung am schnellen Geld hat jedoch in den letzten Jahren auch weite Kreise der Bevölkerung erreicht.

Aufgrund wachsender globaler Absatzmärkte wurden die Umsätze auf den Finanz-plätzen fortwährend ausgeweitet. „Geld auf Pump“ schien unendlich zu fließen. Neue Finanzprodukte wurden erfunden, die es Banken erlaubten, ihre Kreditrisiken weiter zu verkaufen oder scheinbar effektiv zu versichern. Das sollte die Risiken weltweit verteilen und so die Finanzmärkte stabiler machen. Die staatliche Regulierung und eine effektive Aufsicht haben mit diesen Prozessen nicht Schritt gehalten; vorhandene Regulierungen wurden sogar zurückgenommen. Man verließ sich auf die Bewertungen scheinbar objektiver und unabhängiger Ratingagenturen. Sie konnten die erforderliche Transparenz aber nicht schaffen, da auch sie bestimmte Entwicklungen auf den Finanzmärkten falsch einschätzten. Krisen oder sich selbst erfüllende Prognosen wurden in die Bewertung nicht einbezogen. Interessenkolli-sionen und die zunehmende Komplexität der Produkte verhinderten letztlich eine umfassende Transparenz und damit auch eine globale, effektive und gesamtwirtschaftlich angemessene Regulierung und die entsprechende Aufsicht. Sie sind aber unabdingbar, um Fehlentwicklungen zu vermeiden, individuelle Verantwortung zuzuweisen und Verantwortliche in Haftung zu nehmen.

Dies alles trifft auf eine Weltwirtschaft mit erheblichen Ungleichgewichten. Im Zentrum steht die Verschuldung in den USA. Finanziert wurde diese Entwicklung durch große Schwellenländer und rohstoffreiche Länder, die in diesem Zusammenhang ungeheure Devisenreserven – und in manchen Ländern auch enormen privaten Reichtum – anhäuften. Steueroasen trugen dazu bei, dass Unternehmen und Wohlhabende sich der Verpflichtung entzogen, einen angemessenen Teil ihres Wohlstands dem Gemeinwohl zugute kommen zu lassen. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung wird jedoch in ihren Fundamenten beschädigt, wenn der erwirtschaftete Wohlstand nicht zum Motor des sozialen Ausgleichs wird.

Im Rückblick zeigt sich: Die Verantwortungslosigkeit im Umgang mit Risiken breitete sich auf vier Ebenen aus. Auf der politischen Ebene, das heißt insbesondere im staatlichen Handeln, haben die Regulierung der Finanzprodukte und die Aufsicht über die Finanzmärkte mit der Entwicklung nicht mitgehalten. Das war zu erheblichen Teilen von der Finanzindustrie gefordert und von den politischen Akteuren beabsichtigt. Deshalb widerstanden die Regierungen der Reduzierung staatlicher Einflussnahme nicht deutlich genug. Banken des öffentlichen Sektors wollten auf den Finanzmärkten wie private Institute agieren und ähnlich hohe Renditen erzielen. Auf diese Weise wurde die Aufsichtsfunktion des Staates durch Interessenkollisionen beeinträchtigt. Als Mitakteur am Markt setzte der Staat die Regeln für die Märkte nur noch in unzureichender Weise durch.

Auf der Ebene der Finanzmarkt- und Wirtschaftsunternehmen griff eine Orientierung an Geschäftszielen um sich, die einseitig an den Kapitalinteressen und deshalb auf schnelle und hohe Gewinne ausgerichtet waren. Man glaubte, den Umfang und die Struktur der Risiken im eigenen Einflussbereich berechnen und beherrschen zu können. Die global und gesamtwirtschaftlich sich entwickelnden Risiken aber nahm man sehenden Auges in Kauf oder maß ihnen keine Bedeutung bei. Im Weltmarkt agierende Unternehmen mussten ungeachtet der damit einhergehenden Risiken die höchsten Renditen erzielen, die in ihrer Branche erreichbar waren. Diese Ausrichtung wurde dadurch verstärkt, dass die Gehälter der Führungskräfte über Anreize, wie z.B. hohe Boni, daran gekoppelt waren, möglichst kurzfristig hohe Erträge zu erwirtschaften. Solche Strukturen untergraben ein unternehmerisches Ethos, das sich an einer langfristigen Unternehmensentwicklung orientiert.

Die Ursachen der Krise haben auch eine individualethische Dimension: Die Handelnden haben ihre Freiheit allein zur unmittelbaren Verwirklichung von Einzelinteressen genutzt. Verantwortlich handelt aber nur derjenige, der die eigenen Entscheidungen auf ihre Folgen hin ansieht und darauf prüft, dass sie anderen keinen Schaden zufügen. Dies gilt angesichts der globalen Verflechtungen und Abhängigkeiten heute auch weltweit.

Zu den ursächlichen Faktoren der Krise gehört schließlich eine allgemeine Mentalität des schnellen Geldes. Wie selbstverständlich wurden auch von Verbrauchern kurzfristig hohe Renditen erwartet, ohne sie ins Verhältnis zu den damit verbundenen hohen Risiken zu setzen. Spekulative Geschäfte wurden durch eine verbreitete Gier genährt, ein Laster, das nicht auf Manager beschränkt, sondern in der gesamten Gesellschaft anzutreffen ist.

Auch die Wirtschaftstheorie wird nach dieser Krise nicht unverändert bleiben können. Die Vorstellung von durchweg effizient funktionierenden Finanzmärkten ist durch die Krise widerlegt worden. In der vorherrschenden Wirtschaftstheorie gilt das Risiko einer umfassenden globalen Krise deswegen als so gut wie ausgeschlossen, weil sie auf der Annahme beruht, dass im idealtypischen Markt aufgrund der Markttransparenz alle Marktteilnehmer jederzeit umfassend informiert seien. In besonderer Weise wurde das für die Finanzmärkte angenommen, die mit der von den Ratingagenturen erzeugten scheinbaren Transparenz die Risiken sozusagen von selbst vermindern würden. Es ist jetzt nur zu deutlich geworden, dass es solche idealen Märkte – auch im Finanzbereich – nicht gibt. In der Wirklichkeit der Märkte ist mit Ungleichgewichten in der Information und der Kompetenz der Marktteilnehmer zu rechnen. Umso höhere Bedeutung kommt dem gegenseitigen Vertrauen zu. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern im nationalen wie internationalen Rahmen. Mehr denn je ist deutlich geworden, dass das gegenseitige Vertrauen aller Beteiligten von grundlegender Bedeutung für den nachhaltigen Erfolg des heutigen Wirtschaftens ist. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung ist darauf angewiesen, dass politische Rahmensetzungen für Transparenz, Verantwortung und Haftung sorgen und dass die Führungs- und Anreizsysteme in den Unternehmen keine Einladung zum Missbrauch darstellen.

Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da, sie ist kein Selbstzweck. Wo das Geld zum Mittelpunkt wird, wird das Wirtschaften unmenschlich. In Zukunft bedarf es sowohl einer robusten Regulierung der Weltfinanzmärkte als auch einer wirksamen Regelung für die Haftung der „Verantwortlichen“. Freiheit, die von der Verantwortung entkoppelt ist, zerstört sich am Ende selbst.

Mit der Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“, die wir 2008 noch vor der Finanzmarktkrise veröffentlicht haben, bekräftigen wir:

Durch die Globalisierung „ist auch die Verantwortung der Politik gewachsen, der Wirtschaft Rahmenbedingungen vorzugeben und ihre Einhaltung zu prüfen – eine Verantwortung, der die nationale Politik insbesondere mit internationalen Vereinbarungen gerecht werden muss“ (S. 57).

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