Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

Vorwort

Wieder hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Wir sprechen von der Zeit nach der Krise – wie vor zwanzig Jahren von Deutschland nach der Wende. Noch vor Jahresfrist war ein so plötzlicher Umschwung unvorstellbar. Wo eben noch Privatisierung und Deregulierung als wirtschaftliche Heilsbringer galten, war plötzlich der Ruf nach dem starken Staat zu hören. Schutzschirme für Banken wurden aufgespannt, Rettungsfonds für die Wirtschaft aufgelegt, Konjunkturprogramme entwickelt. Schuldige wurden gesucht für die sich ausbreitende Gier, die in eine unvergleichliche Vernichtung finanzieller Werte umschlug. Der Zorn richtete sich auf Verantwortliche in der Finanzbranche, in Wirtschaft und Politik, die der Sucht nach dem schnellen Geld ihren Lauf gelassen oder dem riskanten Hantieren mit vergifteten Finanzprodukten keinen Einhalt geboten haben. Doch die Suche nach dem Sündenbock hilft nicht; denn viele haben mitgemacht.

Dass es nicht mehr weiter gehen kann wie bisher, spüren viele. Für alle, die in diesen Monaten ihren Arbeitsplatz verlieren, finanzielle Verluste erleiden, weil sie ihre bescheidene Rente mit Zertifikaten aufbessern wollten, oder den Zusammenbruch eines mit großer Initiative aufgebauten Unternehmens erleben, ist das eine bittere Zeit. Für die wachsende Zahl von Armen ist es besonders hart. Wer genügend Polster hat, fällt weicher. Es ist eine große Aufgabe, die Veränderungen zu meistern, vor denen unser Land steht. Menschen, deren persönliche Lebensperspektive zerstört wird, empfinden es als zynisch, wenn schlingernde Finanzinstitute mit Steuermitteln stabilisiert werden, während man die Empfänger von Sozialleistungen zu Eigenverantwortung und Eigenvorsorge aufruft. Vertrauen ist zerstört – in Verantwortungs-träger, aber auch in die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft.

In dieser Situation erinnert der Rat der EKD mit den hier vorgelegten Überlegungen zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise an ein biblisches Bild. Im 30. Kapitel des Jesajabuches kleidet der Prophet seine Botschaft vom Verhängnis seines Volkes in das Bild eines Risses, der sich, zunächst kaum sichtbar, immer weiter in eine hohe Mauer frisst, bis der Mörtel rieselt, der die Steine hält, ja bis am Ende die ganze Mauer einstürzt. Aus der prophetischen Perspektive ist der Zusammenbruch deshalb unausweichlich, weil das Volk sich auf falsche Sicherheiten verlassen hat und den lebensdienlichen Geboten Gottes nicht gefolgt ist.

Der Titel der vorliegenden Schrift spielt auf diesen biblischen Text an. Bereits vor zwei Jahren habe ich an ihn in einem Appell zum Klimawandel („Es ist nicht zu spät für eine Antwort auf den Klimawandel“, EKD-Texte 89, 2007) angeknüpft. Nun nehmen wir diesen Abschnitt des Alten Testaments wieder auf. Denn die Erschütterungen durch die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sind von den Herausforderungen des Klimawandels nicht zu trennen. Beide fordern, über eine kurzfristige Krisenbewältigung hinaus, zu einem gründlichen Wandel des Denkens und Handelns heraus. Aus dem geforderten Umschwung muss eine Umkehr werden. Für sie lassen wir uns von der prophetischen Weisung leiten. An sie knüpfen wir nicht nur mit dem Titel dieser Veröffentlichung im Ganzen, sondern auch mit den Überschriften für ihre einzelnen Kapitel an.
Die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise darf, aus der Perspektive der nötigen Umkehr gesehen, nicht isoliert betrachtet werden. Sie rückt vielmehr in den Horizont nachhaltiger Entwicklung. Kurzfristig angelegte Maßnahmen müssen auf ihre Vereinbarkeit mit weltweiter Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit ebenso geprüft werden wie auf ihre Umweltverträglichkeit. Eine Stabilisierung der Märkte um den Preis weiter zunehmender Armut, auf Kosten nachfolgender Generationen oder verbunden mit weiteren Umweltbelastungen würde in kurzer Zeit die nächste Krise heraufbeschwören.

Solche Fragen werden in den Kirchen seit langem diskutiert. Doch die Stimmen derer wurden auch in den Kirchen nicht ernst genug genommen, die seit Jahren vor einer Fehlorientierung warnen: die Stimmen der Wissenschaftler, die für ein nachhaltiges Wirtschaften werben, und der Partner aus der weltweiten Ökumene, die auf die Folgen wirtschaftlicher Abhängigkeit und des Raubbaus an Rohstoffen und Energievorräten für die Ärmsten der Armen aufmerksam machen.

Ein neuer Dialog über ein zukunftsfähiges und nachhaltiges Wirtschaften in Zeiten der Globalisierung hat gerade erst begonnen. Unübersehbar zeigt sich die Notwendigkeit, die tragenden Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft angesichts der Herausforderungen nachhaltigen Wirtschaftens weiterzuentwickeln. Die Lösung von Einzelproblemen reicht nicht zu. Es ist an der Zeit, globale Rahmenbedingungen für ein soziales und nachhaltiges Wirtschaften weltweit zu vereinbaren und die dafür nötigen Regelungen durchzusetzen. Daran wird sich erweisen, ob diese Krise heilsam ist.

Eine soziale und nachhaltige Marktwirtschaft ist auf klare moralische Grundlagen angewiesen. Um das Bild aus dem Buch Jesaja aufzunehmen; es geht um das ethische Fundament, das die Mauer trägt, um den Mörtel des Vertrauens, der die Steine zusammenhält. Die entscheidende Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft ist Freiheit in Verantwortung. Die gegenwärtige Krise zeigt deutlich, dass nur verantwortete Freiheit wirkliche Freiheit ist. Das gilt für Wirtschaft und Politik ebenso wie für das persönliche Verhalten. Freiheit ohne Verantwortung verkommt. Wo die Achtsamkeit für die Konsequenzen des eigenen Handelns fehlt, zerfällt das Gemeinwohl. Wo es an Zuwendung zum Mitmenschen mangelt, zerbrechen tragende Gewissheiten. Der Rat der EKD will Vertrauen und Verantwortung stärken und Mut machen für eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit. Wir mahnen zur Umkehr – spät, aber hoffentlich nicht zu spät.


Hannover, im Juni 2009

Bischof Dr. Wolfgang Huber

Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

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