Freiheit und Dienst

Freiwilligendienste als Alternative?

Die Befürworter von Freiwilligendiensten unterstreichen, dass aus evangelischer Sicht Dienst und Freiheit zusammengehören. Dieses entspricht einem Grundsatz protestantischer Ethik: Die in der Rechtfertigung von Gott wirksam zugesprochene Freiheit führt gerade nicht in die Unverbindlichkeit, sondern befreit "zu freiem, dankbarem Dienst" [7] für den Nächsten und das Gemeinwohl.

Diese Verbindung von Freiheit und Dienst kommt auch in der Freiheitsschrift Martin Luthers, "Von der Freiheit eines Christenmenschen", zum Ausdruck: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. [...] Aus dem allen folgt der Beschluss, das ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe." [8]

Die Entscheidung für einen Freiwilligendienst ist eine freie Entscheidung, mit der die Person sich selbst bindet.

  1. Diese theologische Begründung ist für die Kirche das zentrale Motiv, den Ausbau der vorhandenen Freiwilligendienste zu befürworten. Auch von römisch-katholischer Seite und von Seiten der Wohlfahrtsverbände wird dieser Ausbau präferiert.

  2. Bei diesem Ausbau setzt eine neue Entwicklung ein, in der auch generationsübergreifende Freiwilligendienste eingerichtet werden. Damit werden zur Zeit erste Erfahrungen gemacht [9]. Diese Ansätze verdienen die Unterstützung durch die Kirchen und die dafür in ihrem Bereich in Frage kommenden freien Träger.

  3. Freiwilligendienste sind sowohl von einem Pflichtdienst als auch von dem klassischen Ehrenamt grundsätzlich zu unterscheiden:

    "Freiwilligendienste stellen eine geregelte Form des bürgerschaftlichen Engagements dar, bei dem Anfang und Ende, Dauer und Umfang, Inhalt, Aufgaben, Ziel und Art der freiwilligen Tätigkeit ebenso festgelegt sind wie der finanzielle und organisatorische Rahmen, die rechtliche und soziale Absicherung sowie die infrage kommenden Orte und Träger bzw. Einsatzstellen." [10]

    Deutschland ist das einzige Land in Europa, das bereits seit 40 Jahren Erfahrungen mit einem gesetzlich geregelten Freiwilligendienst macht (Gesetz über das Freiwillige Soziale Jahr von 1964). Zur Zeit gibt es in Deutschland neben dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) auch die Möglichkeit, ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) abzuleisten. Außerdem können Freiwilligendienste nach §§ 14b/c im Rahmen des Zivildienstes abgeleistet werden, davon ca. 1.800 im europäischen Ausland. [11]

    Gegenwärtig werden durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 15.000 Plätze im FSJ bzw. FÖJ (mit 10 Prozent der entstehenden Kosten) gefördert. Einige Bundesländer stellen zusätzlich Mittel bereit [12]. Politisch wünschenswert wäre es, dass zu den Bundesmitteln noch verstärkt Landesmittel und kommunale Mittel hinzutreten.

    Zu den FSJ/FÖJ-Plätzen kommen 3.500 Plätze nach § 14c Zivildienstgesetz. Aktuell sind durch die in dem Bundesarbeitskreis Freiwilliges Soziales Jahr zusammengeschlossenen Träger 25.500 Plätze besetzt. Das Potential an Freiwilligen, die an einem FSJ interessiert sind, beläuft sich nach Angaben der Geschäftsstelle Evangelische Freiwilligendienste auf etwa 40.000 Personen. Im evangelischen Bereich ist die Zahl der Freiwilligen im FSJ bzw. FÖJ in den letzten Jahren von 3.000 auf 5.000 gestiegen [13]. Hier zeigt sich ein Potential, das gegenwärtig noch nicht hinreichend genutzt wird.

  4. Eine Überwindung der Engführung in bezug auf das Bild der Freiwilligendienste, die in der Diskussion oft allein in zeitlicher Analogie zum gegenwärtigen Zivildienst vorgestellt werden, in Richtung generationsübergreifender Freiwilligendienste erscheint als positive Veränderung. Generationsübergreifende Freiwilligendienste würden auch der demographischen Entwicklung gerecht, die durch eine Abnahme des Anteils junger Menschen bei gleichzeitig steigender Zahl Älterer gekennzeichnet ist. Die erste Altersphase wird dabei meist bei guter Gesundheit und erheblicher Aktivitätsbereitschaft erlebt.

    Für Freiwilligendienste, die im mittleren und höheren Lebensalter geleistet werden, bedarf es flexibler Konzepte, die der Pluralität der Lebenslagen Rechnung tragen: "Die Angebote müssen zeitlich wie inhaltlich bedarfsgerecht für engagementbereite Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen sein. Flexible Zeitstrukturen sind ein Aspekt der 'institutionellen Passung' zwischen engagierter Person und Trägerorganisation" [14].

  5. Freiwilligendienste müssten so organisiert sein, dass sie in bezug auf die eigene Biografie sinnvoll sind, die eigenen Interessen der Freiwilligen berücksichtigen und dem Qualifizierungsinteresse von Freiwilligen entgegenkommen. Persönliches Interesse und Engagement für das Gemeinwohl sind - schon nach bisheriger Erfahrung - keine sich ausschließenden Gegensätze.

  6. Eine spezielle Frage ist die nach Anreizen für einen Freiwilligendienst. In bezug auf die Art und Weise der Anerkennung ist zwischen "harten", d.h. monetären oder geldwerten, und "weichen" Formen der Anerkennung im Sinne der Entwicklung einer Anerkennungskultur zu unterscheiden. Außerdem sind die verschiedenen Ebenen zu differenzieren: gesamtgesellschaftliche, staatliche, betriebliche Ebene, Träger und ihre Einrichtungen.

    1. Zur Zeit werden nicht alle Freiwilligendienstplätze staatlich gefördert. Eine staatliche Zuwendungspauschale zugunsten der Träger von Freiwilligendiensten ist für alle anerkannten Freiwilligendienste anzustreben. Für die klassischen Dienste in der Zeit zwischen Schule und Studium bzw. Berufsausbildung sollte sichergestellt werden, dass für alle Freiwilligen Kindergeld gezahlt wird. Die Übernahme eines Freiwilligendienstes sollte bei eventuellen Wartezeiten auf eine Ausbildung oder ein Studium angerechnet werden.

      Neben die ausreichenden gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen (z.B. Aufwandsentschädigungen und Fahrtkostenerstattungen, Vergünstigungen wie Fahrtickets und Bonushefte u.Ä. für öffentliche Einrichtungen durch eine "Freiwilligencard") sollten betriebliche Freistellungsregelungen, Vorzüge und Vergünstigungen in der Berufsausbildung und Arbeit, aber auch die Bereitstellung von Möglichkeiten der beruflichen Orientierung und von Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten (mit Kostenübernahme durch die jeweiligen Träger) treten. Ein ausreichender Sozialversicherungsschutz der Freiwilligen, ebenso eine Haftpflicht- und Rechtsschutzversicherung muss sichergestellt sein. Ein geleisteter Freiwilligendienst sollte in gleicher Form wie der Wehr- und Zivildienst bei der Berechnung der Rente angerechnet werden [15]. Ebenso sollte ein Freiwilligendienst in Analogie zu den Regelungen in bezug auf den Wehr- bzw. Zivildienst als Anwartschaftszeit für den Erwerb des Anspruches auf Arbeitslosengeld behandelt werden. Entsprechend darf die Übernahme eines generationsübergreifenden Freiwilligendienstes nicht zu Lasten des Anspruchs auf Arbeitslosengeld gehen.

    2. Der nicht-monetäre Nutzen für die Absolventen von Freiwilligendiensten darf jedoch nicht unterschätzt werden. Dazu kann noch stärker an der Entwicklung einer Anerkennungskultur in zivilgesellschaftlicher Orientierung gearbeitet werden. Eine solche Anerkennungskultur ist für die Förderung freiwilligen Engagements mindestens ebenso wichtig wie monetäre (staatliche) Anerkennung. Die Kirchen können hier insofern einen Beitrag leisten, als sie selber die Entwicklung einer solchen Anerkennungskultur in ihrem eigenen Raum forcieren und dann auch glaubwürdig im gesellschaftlichen Bereich dafür werben. Schon jetzt werten nach einer Studie aus dem Jahr 2000 z.B. 60 Prozent aller Unternehmen (internationale) Erfahrungen im Rahmen von Freiwilligendiensten als positiv. Eine qualifizierte Würdigung des im Rahmen eines Freiwilligendienstes jeweils geleisteten Engagements für das Gemeinwohl trüge wesentlich zu seiner Förde-rung insgesamt bei [16].

  7. Ein wesentlicher Beitrag der Kirchen zur Entwicklung von gesellschaftlicher Solidarität und Gemeinsinn wäre es, Freiwilligendienste im eigenen Bereich noch stärker anzuerkennen und zu fördern. Die Kirchen können auf dem Weg der Stärkung von Freiwilligendiensten vorangehen, indem sie das, was sie anderen Institutionen vorschlagen, in ihren kirchlichen und diakonischen Einrichtungen selber praktizieren. Das bedeutete die Berücksichtigung von übernommenen Freiwilligendiensten bei Stellenbesetzungen in Kirche und Diakonie und bei der Vergabe von kirchlichen Stipendien sowie eine Anerkennung bei kirchlichen Ausbildungs- und Studiengängen.

    Die Kirchen sollten sich zum Anwalt eines möglichst breiten Bündnisses verschiedener gesellschaftlicher Gruppen machen, um die Idee der Freiwilligendienste noch deutlicher in die Gesellschaft zu tragen. Dies kann z.B. in einem Bündnis mit der Wirtschaft geschehen, in deren Unternehmen und Betrieben Freiwilligendienste als Qualifikationsmerkmal bei Einstellungen gewertet werden. Schulen können mit ihrer verstärkten Orientierung an Praktika vorbereitend für Freiwilligendienste tätig sein. Es muss darauf abgezielt werden, dass Freiwilligendienste als sinnvolle Ausbildungsbestandteile angerechnet werden können. Bei der Verknüpfung von Beruf und Freiwilligendiensten hat die Arbeitsvermittlung besondere Möglichkeiten. Es muss dabei auch deutlich gemacht werden, dass Freiwilligendienste wesentlich zur Erhöhung der sozialen und kulturellen Kompetenz beitragen.

  8. Es ist ein Qualitätsmerkmal für eine kirchliche bzw. diakonische Einrichtung, wenn in ihrem Bereich nicht nur Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche, sondern auch in einem Freiwilligendienst Beschäftigte ihren Dienst tun. Die gelingende Zusammenarbeit zwischen den Gruppen hängt auch davon ab, ob die beschäftigten Fachleute aus einer die Freiwilligen akzeptierenden, wertschätzenden und deshalb motivierenden Grundhaltung heraus agieren und ihnen Gestaltungsfreiräume zuerkennen. Umgekehrt werden die besten Erfahrungen mit Freiwilligen dort gemacht, wo diese sich ihren Einsatzort selbst gesucht haben und sich aus ihrem Engagement einen wie auch immer gearteten Nutzen für später versprechen.

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