Die Kunst der Unterscheidung als protestantische Aufgabe

Werner Schneider-Quindeau

Die Jury der evangelischen Filmarbeit führt seit 50 Jahren einen kontinuierlichen Dialog zwischen Protestantismus und Filmkultur

Menschen interessieren sich aus unterschiedlichen Motiven für Film und Kino. Für die einen geht es um entspannte gelungene Unterhaltung, andere suchen den sensationellen Augenreiz und den spannenden Nervenkitzel und etliche lassen sich von fremden Blicken und verstörenden Perspektiven faszinieren. Eine Fülle von Filmen wird jährlich weltweit produziert, von denen wir in Deutschland nur einen Bruchteil zu sehen bekommen. Kulturelle und soziale Erfahrungen, aber auch die politischen Verhältnisse und die individuellen Erkundungen nach Sinn und Freiheit gehen in die Filme ein, die als inszenierte Form selber um tragfähigen und wirksamen kulturellen Ausdruck ringen. Eine Jury, die nach ethischen und ästhetischen Kriterien Filme zu bewerten versucht, hat es in diesem Spiegelkabinett der Illusionen und Ängste, der Phantasien und Erfahrungen von Einzelnen und Gruppen nicht leicht. Und wenn dann noch die christliche Tradition mit Bibel und Bekenntnis als Horizont der Filmrezeption dazukommt, dann wird die Aufgabe der kritischen Filmsichtung nicht einfacher. Immerhin hat es die "Jury der evangelischen Filmarbeit" in 50 Jahren trotz aller Schwierigkeiten, Kontroversen und Anfeindungen geschafft, 560 Filme zu empfehlen, die als "Filme des Monats" ausgezeichnet wurden. In der etwas über hundert Jahre alten Geschichte des Films hat sie damit eine Orientierung angeboten, die von kirchlicher Seite sich in keinem anderen Bereich der Kultur findet. Im November 1951 hat die Jury mit der Nominierung von Luigi Zampas "In Frieden leben" aus dem Jahr 1946 begonnen und mit der Auszeichnung des diesjährigen Gewinners der "Goldenen Palme" in Cannes Nanni Morettis "Das Zimmer des Sohnes" den aktuellen "Film des Monats Dezember 2001" benannt. Ein breites wahrhaft globales Spektrum an Filmen hat sich in den Jahrzehnten der Sichtung und Nominierung versammelt und die Jury ist zu einer Stimme kritischer und qualitativ ausgerichteter Filmwahrnehmung geworden. Nicht so sehr die Blockbuster Hollywoods, denen sowohl in der ethischen Vermittlung als auch in der ästhetischen Gestaltung das ökonomische Kalkül anzumerken ist, sondern die eher "kleinen" Filme der Autorinnen und Autoren der Filmkunst möchte die Jury groß machen. Achternbusch und Rohmer, Todd Solondz und Theo Angelopulos, junge Filmkünstlerinnen wie Yesim Ustaoglu aus der Türkei und Barbara Albert aus Österreich und ein Wong-Kar-Wei oder ein Lars von Trier sollten ihr Publikum finden, weil bei ihnen Tief- und Scharfblick auf unsere "condition humaine" verbunden ist mit einer kreativen Intuition und formalen Imagination, die uns neu auf die Welt blicken lassen. Die Entdeckung dieser neuen Blicke ist das Abenteuer, dem sich die Jury durch Jahrzehnte hindurch ausgesetzt hat. Dabei hat sie gelernt, zwischen den Klischees und den neuen Entwürfen, dem sentimentalen Kitsch und der überraschenden Erkenntnis und auch zwischen der gelungenen Verbindung von ethischem Anspruch und ästhetischer Form einerseits und einem gut gemeinten Entwurf zu unterscheiden. Daß dieses Bemühen der Unterscheidung immer auch strittig war, daß die selbstkritische Einsicht auch das Fehlurteil einräumt, gehört zur Offenheit und zur Debatte, denen sich die Juryarbeit immer verpflichtet weiß. Denn Unterscheiden ist eine Kunst, die viel Erfahrung, Können und Aufmerksamkeit verlangt. Aber indem die Jury bei jeder Sichtung um diese Kunst der Unterscheidung in ihrem Urteil ringt, nimmt sie meist implizit und gelegentlich auch einmal explizit ein genuin protestantisches Erbe auf.

Der Geist des Protestantismus lebt von der klaren und distinkten Unterscheidung: zwischen Gott und Mensch, Kirche und Reich Gottes, Evangelium und Gesetz, Gnade und Werke, katholischem Anspruch und lokaler Bindung, Staat und Kirche, Christengemeinde Bürgergemeinde, Religion und Glaube gilt es zu unterscheiden. Die Reformation Luthers und Calvins wurde aus dem Widerspruch gegen einen Mangel an Unterscheidungen im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben geboren. Unterscheidung bedeutet nicht Trennung, sondern Eröffnung eines Beziehungsreichtums, eines Lebens in Fülle, das ohne die erkannte Differenz sich weder in ethischen Spiel- und Entscheidungsräumen noch in der ästhetischen Gestaltungsvielfalt gegen das Einerlei von zementierter Lehre und uniformem Leben entfalten könnte. Wer unterscheiden lernt, der gewinnt Freiheit und Kreativität. Das gilt für den christlichen Glauben wie für die säkulare Vernunft. Differenzierte Wahrnehmung bildet den Geschmack und führt zu exakter Erkenntnis. Im Widerspruch gegen eine Denken und Leben beherrschende und erdrückende katholische Weltkirche bestand der Protestantismus auf dem Recht, zwischen Kirche und Heil, zwischen der Wahrheit, die sich in Christus gezeigt hat, und ihrer Bezeugung und zwischen dem christlichen Glauben und einem allgemeinen religiösen Bewußtsein kritisch zu unterscheiden. In diesem Unterscheiden-Können und Unterscheiden-Wollen drückt sich die Fähigkeit der Kirche aus, sich selbst ständig zu reformieren. Denn die Kunst der Unterscheidung ist das Lebenselixier der Kritik, die nach der angemessenen Darstellung von Wahrheit und Wirklichkeit fragt. Insofern gehört die Reformation bei aller Kritik an ihrer eigenen kritiklosen Verfestigung unverzichtbar in die Geschichte des kritischen Denkens, ohne die moderne Wissenschaft und Kunst in ihrer völlig säkularen Ausprägung nicht zu verstehen wären. Wer auf Differenzierung in Wahrnehmung, Erkenntnis und Urteil insistiert, der möchte Fragen offen halten, Selbstverständlichkeiten neu beleuchten und scheinbar festgefügte Fronten in Bewegung bringen. Die "Jury der evangelischen Filmarbeit" ist seit 50 Jahren diesem kritischen Erbe des Protestantismus verpflichtet, indem sie Monat für Monat den Versuch unternimmt, aus der Fülle des Angebots auf dem aktuellen Filmmarkt Filme auszuwählen, "die dem Zusammenleben der Menschen dienen, zur Überprüfung eigener Positionen, zur Wahrnehmung mitmenschlicher Verantwortung und zur Orientierung an der biblischen Botschaft beitragen" (so die Selbstdarstellung der Jury auf ihrer monatlichen Begründung zum "Film des Monats"; im Internet unter: http://www.gep.de/filmav/fdm.html). Dabei hat die Jury in ihrer Entscheidung auf die Balance zwischen filmästhetischer Gestaltung, ethischem Gehalt und thematischer Bedeutsamkeit des Films zu achten. Ihre Empfehlung setzt sich einerseits den kontroversen Argumenten der Filmkritik aus und liefert selber einen Beitrag im filmkritischen Diskurs. Publizistischer Hintergrund stellt die Zeitschrift "epd-Film" dar, die als angesehene unabhängige Stimme innerhalb der Filmkritik der kirchlichen Filmarbeit die Solidität und Professionalität verleiht, ohne die Dialog und Auseinandersetzung mit Bereichen säkularer Gegenwartskultur unseriös und vereinnahmend erscheinen. Blickt man auf die Nominierungspraxis der Jury in den letzten Jahrzehnten zurück, dann werden gesellschaftliche Debatten und kulturelle Begegnungen, historische Auseinandersetzung und existentielle Sinnsuche als Horizonte der einzelnen Filme erkennbar, die seismographisch den Blick auf die Wirklichkeit schärfen. Was in den fünfziger und sechziger Jahren als "Wächteramt" und normative Beurteilung der Filmkunst durch eine kirchliche Instanz erscheint, wird in den siebziger Jahren zur Frage nach der gegenwärtigen ethischen Verantwortung und in den achtziger und neunziger Jahren zur Wahrnehmungsaufforderung in einem umfassenden ästhetischen Sinne erweitert. Konnte die "Jury" im September 1963 zur Begründung von Vittorio de Sicas "Die Eingeschlossenen" als "Film des Monats" noch formulieren: "Auf den christlichen Betrachter würde der Film noch überzeugender wirken, wenn seine berechtigte Forderung nach vorbehaltloser Wahrhaftigkeit der Gewissenserforschung vom Hinweis auf die Möglichkeit der göttlichen Gnade ergänzt würde, die dem Bußfertigen verheißen ist", so geht es ihr heute um die Eröffnung neuer Perspektiven, wenn es z. B. zur Begründung von Andreas Veiels "Black Box BRD" als Film des Monats August 2001" heißt: "Bloß Bruckstücke zum Verstehen kann und will der Film anbieten. Die Verantwortlichen für das Attentat auf Herrhausen ebenso wie die Umstände, die zu Grams' Erschießung führten, bleiben wie bei einer Black Box im Dunkel. Indem der Regisseur die Biographien eines mutmaßlichen Täters und eines Opfers des Terrorismus nebeneinander stellt und beide als Individuen zeichnet, eröffnet er einen neuen Zugang zur Thematik jenseits üblicher Denkmuster." Indem eine protestantische Jury die Kunst der Unterscheidung übt, gewinnt sie eine kulturelle Dialogfähigkeit, die das Gegenüber ernst nimmt und nach Möglichkeiten fragt, in denen Gottes Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit hör- und sichtbar werden kann. Filme, die an einer differenzierten Sicht der Welt inhaltlich und formal arbeiten, fordern in besonderem Maß das kritische Urteil der Jury heraus. Wo der populäre Film den Mythos feiert und wiederholt, da setzt die Filmkunst auf die "Arbeit am Mythos". Eine allgemeine Liebesreligiösität wie sie in den erfolgreichen Massenproduktionen à la "Titanic" zelebriert wird, hat mit dem Gott, der die Liebe ist, gar nichts zu tun, denn hier wird die Liebe selber Gott und Subjekt und Prädikat gerade nicht mehr unterschieden, sondern im Liebesgefühl vermengt. Die Kunst der Unterscheidung ist nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine theologische Tugend. Die "Jury" hat sich gerade den kritischen Themen wie der Darstellung von Gewalt und Sexualität immer wieder mit couragierten Nominierungen gestellt. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Politik der Massenvernichtung gegenüber den Juden gehört von Anfang an zu den Themen, bei denen es der Jury auf genaue und differenzierte Wahrnehmung angekommen ist. Die schmerzlichsten Gespräche hat es unter den Jurymitgliedern gerade zu Fragen des nach wie vor virulenten Antisemitismus und den damit verbundenen politischen und ästhetischen Inszenierungen gegeben. Interkulturelle Filmrezeption mit ihrer schwierigen Verhältnisbestimmung von Eigenem und Fremden gehört zur Arbeit der Jury im Kontext globaler Filmkultur, aber auch die Sensibilität für filmkulturelle Entwicklungen wie z.B. das Konzept der dänischen Dogmagruppe aus dem Jahr 1995 hat in entsprechenden Nominierungen (Lars v. Trier, T. Vinterberg) ihren Niederschlag gefunden. Und für bestimmte Filmkulturen ist die Jury sogar eine Art Wegbereiterin in Deutschland gewesen: zwischen 1987 und 1993 hat sie zahlreiche Filme aus Russland und den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion als "Filme des Monats" ausgezeichnet, die auf ästhetisch höchst reflektierte Weise auf die schwierige Lage der Menschen in diesen Ländern aufmerksam gemacht haben. Sergej Bodrovs "Gefangen im Kaukasus" aus dem Jahr 1997 kann heute angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan wie eine prophetische Parabel gesehen werden. Es war der letzte Film, der aus dieser ehemals reichen Filmkultur ausgezeichnet worden ist. Die kulturellen Verwüstungen haben die nationalen Filmproduktionen keineswegs verschont. Denn kulturelle Vielfalt zu erhalten angesichts einer gigantischen Filmindustrie, die in Westeuropa und Nordamerika zu Hause ist, dürfte für die Aufgabe differenzierter Wahrnehmung unverzichtbar sein. Daher ist die Jury auch ständig auf der Suche nach regionalen Filmkulturen, die den Weg in den deutschen Filmverleih finden. Mit iranischen Filmproduktionen ist dies in den letzen Jahren ausgezeichnet gelungen. Auch hier hat die Jury eine wegweisende Funktion übernommen. Filme von A. Kiarostami, M. Makmalbafh oder J. Panahi bringen uns eine Welt näher, die sich nicht auf die schlichte ideologische Alternative westliche Moderne versus islamistischer Fundamentalismus bringen läßt. Solange die Jury diesem Geist kritischer Unterscheidung und evangelischer Freiheit verbunden bleibt, wird sie eine unverwechselbare Stimme des Protestantismus sein.

Pfarrer Werner Schneider-Quindeau, Filmbeauftragter des Rates der EKD