Mit Spannungen leben

1. Homosexualität in der gegenwärtigen Diskussion

1.1 Homosexualität und Gesellschaft

Homosexuelle Männer und Frauen waren in der Geschichte häufig Zielscheibe von Spott, Verachtung, Ablehnung und Verfolgung bis hin zur physischen Vernichtung. Ihnen ist damit schweres Unrecht geschehen. Diese Leidensgeschichte homosexueller Menschen reicht teilweise bis in die Gegenwart. Christen und Kirchen haben sich dabei oft nicht schützend vor die Angegriffenen gestellt, sondern sind an ihnen mitschuldig geworden. Erst das Eingeständnis und die Übernahme ihres Schuldanteils befähigt die Kirchen, ihre Einstellung zu Homosexualität und ihr Verhältnis zu homosexuellen Menschen zu klären und zu einer freien, unbefangenen Meinungsbildung über die anstehenden Fragen zu kommen. Zu einer solchen freien Meinungsbildung gehört es gegebenenfalls auch, daß die Kirchen sich von ihren Glaubens- und Lehrgrundlagen her ein kritisches Urteil zu bestimmten Formen oder Aspekten homosexueller Lebensweise bilden.

Die angesprochenen Leidenserfahrungen verbinden homosexuelle Menschen miteinander. Dies führt häufig zu einer Entgegensetzung zwischen den Homosexuellen und der übrigen Gesellschaft, die den tatsächlich bestehenden Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Homosexuellen und innerhalb der Gesellschaft kaum gerecht werden kann. Es ist wichtig, solche Differenzierungen zu erkennen: z.B. zwischen Menschen, die sich mit ihrer homosexuellen Prägung voll identifizieren können, und anderen, die unter ihr leiden und auf Veränderung durch Therapie oder Seelsorge hoffen; zwischen Menschen, die ihre homosexuelle Prägung im Verborgenen leben, und anderen, die sich bewußt "outen"; oder zwischen Menschen, die eine verbindliche homosexuelle Partnerschaft leben wollen, und anderen, die den häufigen Partnerwechsel suchen. Andererseits muß im Blick auf die "übrige Gesellschaft" erkannt und anerkannt werden, daß es neben eindeutig heterosexuellen Menschen auch eine nicht geringe Zahl von Menschen mit bisexueller Neigung gibt, ja daß der Facettenreichtum und die Gestaltungsmöglichkeiten der Sexualität erheblich größer sind, als es der schlichte Dual von "heterosexuell oder homosexuell" erkennen läßt. Zu den notwendigen Differenzierungen gehört vor allem die Unterscheidung zwischen der - mehr oder weniger eindeutigen - sexuellen Prägung einerseits und ihrer (verantwortlichen) Gestaltung andererseits. Nur wenn solche Differenzierungen in die Betrachtung einbezogen werden, läßt sich ein angemessenes Bild gewinnen, von dem aus auch Schritte zur Urteilsbildung und Verhaltensorientierung getan werden können.

In unserer Gesellschaft ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer größeren Freizügigkeit und Unbefangenheit gegenüber der Sexualität im allgemeinen und in diesem Zusammenhang auch zu einer verstärkten Akzeptanz homosexueller Menschen gekommen. Daneben (und darunter) gibt es freilich in der Gesellschaft - und teilweise auch bei homosexuell geprägten Menschen selbst - viele Formen emotional, ästhetisch, ethisch oder religiös bedingter Ablehnung von Homosexualität, die auch mit einem ungeklärten Verhältnis zur eigenen Sexualität zu tun haben kann. Diese Ablehnung muß zunächst wahrgenommen werden, bevor es möglich ist, sie zu bearbeiten. Eine Verarbeitung wird nur teilweise auf dem Weg über Information und Argumentation gelingen. Entscheidend ist vor allem die Begegnung zwischen Menschen mit unterschiedlicher sexueller Prägung.

Viele homosexuelle Menschen geben ihre sexuelle Prägung öffentlich zu erkennen und wollen damit bewußt ein "Versteckspiel" beenden, unter dem sie lange gelitten haben. Homosexuelle Menschen wählen dabei häufig zur Selbstidentifikation die Begriffe "Schwuler" und "Lesbe", die in der Vergangenheit als Ausdruck der Verachtung von anderen auf sie angewandt wurden. Sie übernehmen damit bewußt und provokativ die ihnen zugewiesene Opferrolle. Daß das "Coming-out" gelegentlich in schrillen Formen erfolgt, ist von der Situation der Betroffenen her verständlich, erleichtert die Akzeptanz in der Regel aber nicht, sondern verstärkt Vorurteile und baut oft neue Hürden auf. Zu einem Abbau von Barrieren und zu größerer Akzeptanz homosexueller Menschen wird es nur kommen, wenn alle Beteiligten Achtung voreinander walten lassen.

1.2 Homosexualität und Kirche

In dem Maße, in dem sich homosexuelle Menschen vermehrt in der Öffentlichkeit zu ihrer sexuellen Prägung bekannt haben, ist auch für die Kirchen die Frage unumgänglich geworden, welche Stellung sie zur Homosexualität einnehmen und welche Auffassung sie vor allem zu den Fragen nach kirchlichen Segenshandlungen für homosexuelle Partnerschaften und nach der Vereinbarkeit von homosexueller Lebensweise und kirchlichem Amt vertreten. Das immer schon vorhandene, häufig aber verschwiegene oder geflissentlich übersehene Problem "Homosexualität und Kirche" ist so zum unabweisbaren Thema auch innerkirchlicher Auseinandersetzungen geworden.

Über die aufgebrochenen Fragen bestehen im Verhältnis zu den ökumenischen Schwesterkirchen, aber auch innerhalb der Gliedkirchen der EKD teilweise erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Die schärfsten Auseinandersetzungen verlaufen freilich nicht zwischen den einzelnen Landeskirchen, sondern quer durch sie und damit durch die EKD hindurch. Dieser Streit wird deshalb mit solcher Schärfe geführt, weil es dabei nach Meinung vieler Beteiligter um Grundfragen des christlichen Glaubens und des kirchlichen Bekenntnisses geht.

Insbesondere stehen zur Diskussion:

  • der Umgang mit den auf homosexuelle Praxis bezogenen Aussagen der Bibel, und damit geht es um das angemessene Schriftverständnis, ja um das "sola scriptura";
          
  • die Einstellung gegenüber den Menschen, die ihre homosexuelle Prägung in Ausrichtung am Doppelgebot der Liebe verantwortlich zu gestalten und zu leben versuchen, und damit geht es um die Geltung des Liebesgebotes als Inbegriff des Willens Gottes;
          
  • die Beurteilung und Bewertung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft im Verhältnis zu Ehe und Familie, und damit geht es um deren gesellschaftliche Leitbildfunktion aus der Sicht des christlichen Glaubens.

Nur eine differenzierte Argumentation und Stellungnahme, die die damit gegebenen Spannungen aufnimmt, aushält und zu einem Ausgleich zu bringen versucht, ist theologisch verantwortbar und bietet eine Chance für einen tragfähigen Konsens.

Trotz des unbestreitbaren Gewichts, das diese Themen haben, sollten sich aber alle an der Auseinandersetzung Beteiligten immer wieder prüfen, ob sie nicht in der Gefahr stehen, den status confessionis im Blick auf eine Frage auszurufen, der diese Bedeutung von der Verkündigung Jesu und vom Gesamtzeugnis der Bibel her nicht zukommt (s. dazu unten Kapitel 2 und 3). Die christlichen Kirchen haben andere und noch wichtigere Aufgaben und Themen. Die erhoffte Entdramatisierung wird sich aber vermutlich nur in dem Maße einstellen, wie die an der Auseinandersetzung beteiligten Gruppen den Eindruck gewinnen, daß ihre theologisch berechtigten Anliegen auch von der Gegenseite und - vor allem - seitens der Kirchenleitungen bei ihrer Urteilsbildung und ihren Entscheidungen anerkannt und ernstgenommen werden.

1.3 Homosexualität und Wissenschaft

Zur Begründung der Notwendigkeit einer kirchlichen Neuorientierung im Blick auf die Beurteilung der Homosexualität wird in der Regel vor allem auf neue Forschungsergebnisse und eine veränderte Sichtweise der Humanwissenschaften verwiesen. Dieser Hinweis löst zwei Fragen aus, die klar unterschieden werden müssen und je für sich von Bedeutung sind:

  • Worin bestehen die neuen Forschungsergebnisse und die veränderten Sichtweisen?
          
  • Welche Bedeutung können (human-)wissenschaftliche Forschungsergebnisse für die theologische und ethische Urteilsbildung beanspruchen?

1.3.1 Neue Ergebnisse und Sichtweisen

Was Forschungsergebnisse anbelangt, kann von einem Konsens oder von allgemein anerkannten Theorien kaum an einem Punkt die Rede sein. Dazu einige Beispiele:

  • Im Blick auf den prozentualen Anteil homosexueller Menschen an der Gesamtbevölkerung schwanken die Angaben zwischen 1-2% und 10%.
         
  • Die Erforschung genetischer und psychischer Ursachen der Homosexualität wird hinsichtlich ihrer Ergebnisse sowie schon hinsichtlich ihrer Fragestellung kontrovers diskutiert.
         
  • Die Veränderbarkeit einer homosexuellen Prägung durch Therapie oder Seelsorge wird heute überwiegend verneint, von einer Minderheit jedoch unter Angabe von nachprüfbaren Erfolgen (nach wie vor) bejaht.
         
  • Die Frage, ob homosexuell geprägte Menschen stärker als heterosexuelle zur Promiskuität neigen, wird konträr beantwortet.

Im Blick auf diese Grundfragen gibt es nur wenige überprüfbare Forschungsergebnisse und keinen wissenschaftlichen Konsens - jedenfalls nicht zwischen den verschiedenen Gruppierungen.

Was sich aber tatsächlich weitgehend verändert hat, ist die von den Forschungsergebnissen zu unterscheidende Sichtweise und Bewertung des Phänomens "Homosexualität". Das wird insbesondere daran deutlich, daß der Hauptstrom psychologischer Forschung im Blick auf die Deutung der Homosexualität sich von ihrer Beurteilung als einer pathologischen Form der Sexualität abgewandt hat. Ein Ausdruck dieser Entwicklung ist die Tatsache, daß die WHO im Jahre 1992 Homosexualität aus der Liste der Krankheiten gestrichen hat.

1.3.2 Die Bedeutung humanwissenschaftlicher Forschungsergebnisse

Die Bedeutung humanwissenschaftlicher Forschung für die theologische oder ethische Urteilsbildung in dieser Frage ist zu beachten. Sie ist jedoch nicht so groß, wie dies häufig angenommen wird. Das sei an den oben genannten Beispielen verdeutlicht:

  • Aus dem quantitativen Anteil läßt sich keine theologische Beurteilung ableiten, er sagt jedoch möglicherweise etwas über die Dringlichkeit der Beschäftigung mit dem Thema.
         
  • Ob Homosexualität genetisch bedingt, also "angeboren" und/oder auf eine Beeinträchtigung in der Entwicklung oder auf andere lebensgeschichtliche Einflüsse zurückzuführen ist, betrifft zwar die Frage der Verantwortlichkeit und "Schuldhaftigkeit", entscheidet aber noch nicht darüber, ob Homosexualität dem Willen Gottes entspricht.1)
         
  • Die Veränderbarkeit ist zwar relevant für die Frage, ob einem Menschen geraten werden kann, sich auf einen seelsorgerlichen oder therapeutischen Veränderungsprozeß einzulassen; sie besagt aber nichts über die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit einer solchen Veränderung.
         
  • Ob homosexuell geprägte Menschen mehr als andere zur Promiskuität neigen, sagt noch nichts darüber aus, was daraus in ethischer Hinsicht folgt.

Humanwissenschaftliche Ergebnisse besitzen zweifellos eine gewisse Relevanz für die hier anstehende Urteilsbildung. Die entscheidende Argumentation muß jedoch theologisch geführt werden. Deshalb kann auch der (mehrheitlichen) Sichtweise des Phänomens "Homosexualität" in den gegenwärtigen Humanwissenschaften für die theologische Urteilsbildung keine normative Bedeutung zuerkannt werden. Wenn es gute theologische Gründe dafür gibt, muß ihr eine andere Sichtweise entgegengesetzt werden.

1.4 Konsequenzen für die Behandlung des Themas

Aus den drei vorangehenden Abschnitten ergeben sich Konsequenzen für die weitere Behandlung des Themas "Homosexualität", und zwar in diesem Text selbst, möglicherweise aber auch darüber hinaus.

1.4.1 Die betroffenen Menschen

Es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, daß es "die Homosexualität" konkret nur gibt als homosexuelle Prägung oder Lebensweise von Menschen, und zwar von Menschen, die aufgrund dieser Prägung in aller Regel eine Fülle von demütigenden und verletzenden Erfahrungen gemacht haben. Dem soll im vorliegenden Text nach Möglichkeit schon durch die Sprache Rechnung getragen werden. So ist bewußt nicht von "Homosexuellen" die Rede, wodurch tendenziell eine Reduktion von Menschen auf ihre (homo-)sexuelle Prägung erfolgt, sondern von homosexuell geprägten oder lebenden Menschen.2)

Es wäre jedoch auch eine Form von Herablassung oder Verachtung, wenn man den schmerzlichen Erfahrungen homosexueller Menschen dadurch Rechnung tragen wollte, daß man ihnen deutlichen Widerspruch oder Kritik schuldig bleibt, wo diese aus sachlichen Gründen geboten wären.

1.4.2 Die Differenziertheit des Problems

In der Literatur gibt es zahlreiche plakative, parteiliche Positionen. Solche Texte haben eine deutliche Signalwirkung, sie provozieren zu Übernahme oder Ablehnung und haben insofern eine - gelegentlich durchaus gewollte oder in Kauf genommene - polarisierende Wirkung. Der Differenziertheit und dem Aspektreichtum des Themas werden sie jedoch nicht gerecht.

Differenziertes Reden muß gelegentlich Solidarisierungserwartungen enttäuschen. Aber es leistet damit auch einen Beitrag zum Abbau von Feindbildern.

Zu solcher Differenziertheit nötigt auch die oben beschriebene offene Forschungssituation, die nur gewaltsam im Sinne eindeutiger Ergebnisse uminterpretiert werden kann. Die Kirchen können die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen, deren Solidität und Stimmigkeit überprüfen, einen Forschungskonsens oder -dissens konstatieren, aber sie können selbst keinen solchen Konsens herbeiführen. Daraus folgt, daß eine kirchliche Stellungnahme den in dieser Frage zur Zeit bestehenden Dissens zur Kenntnis nehmen muß und in ihrer Argumentation das Strittige nicht als bereits entschieden voraussetzen darf. Das nötigt an vielen Stellen zu offenen Formulierungen.

1.4.3 Schritte der theologischen Urteilsbildung

Die für eine kirchliche Stellungnahme maßgebliche theologische Argumentation erfolgt im Kontext von gesellschaftlichen und humanwissenschaftlichen Sichtweisen, kann diese aber nicht zum Kriterium machen. Ausschlaggebendes Kriterium ist nach reformatorischem Verständnis das biblische Zeugnis, zu dem Aussagen über den Menschen, über seine Sexualität und über homosexuelle Praxis gehören. Da sich der Zusammenhang zwischen biblischer Autorität und biblischen Einzelaussagen nicht von selbst versteht, ist es erforderlich, zunächst eine Verständigung über diese hermeneutische Grundfrage anzustreben. Von da aus wird dann inhaltlich nach dem zu fragen sein, was von der Bibel her zu Sexualität und Homosexualität zu sagen ist. Dies ist aber auch zu bedenken im Zusammenhang mit den Aussagen von Schrift und Bekenntnis über die Lebensformen Familie, Ehe und Ehelosigkeit. Von diesen beiden grundlegenden Abschnitten aus soll dann die Beantwortung der anstehenden Einzelfragen in Angriff genommen werden. Dabei genügt es jedoch nicht, sich auf das kirchliche Amt und Segenshandlungen zu beschränken; vielmehr setzt die Beantwortung beider Fragen voraus, daß eine grundsätzliche Verständigung im Blick auf die miteinander im Streit liegenden Auffassungen über Homosexualität und homosexuell lebende Menschen erzielt worden ist. Damit ist der weitere Aufbau des Papiers vorgezeichnet.

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