"Was ist der Mensch?" Vom Schutz des Lebens aus evangelischer Sicht

Manfred Kock

Eröffnungsvortrag zur Veranstaltungsreihe "Was ist der Mensch?" der Landeszentrale für Politische Bildung des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin

1. Der Streit um die ethische Verantwortung an den Grenzen des Lebens
Horrorszenarien und Sensationsmeldungen verzerren die Debatte um die ethischen Fragen an den Grenzen des Lebens angesichts der neuen Forschungsentwicklung im Bereich von Biologie und Medizin. Da wirft ein sonst ehrenwerter Professor in die Diskussion, für über 75jährige möchten doch wohl lebensverlängernde, kostenintensive Maßnahmen nicht mehr aus der Solidarversicherung getragen werden. Wer solche Meldung in den Medien zur Kenntnis nimmt, denkt an die Freigabe von aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden und verknüpft das mit den Bildern von an Schläuchen und Kabeln hängenden Kranken ohne eigenes Bewusstsein.

Da vermeldet eine fragwürdige Sekte die Geburt eines Klon-Kindes, und ein italienischer Arzt kündigt eine ähnliche "Großtat" an, einer der schon von sich reden machte, nachdem er eine über 60jährige Frau künstlich geschwängert hatte.

Die seriöse Wissenschaft distanziert sich von solchen Aktionen; der belesene Teil der Bevölkerung erinnert sich schaudernd an Aldous Huxley's Visionen einer "Schönen neuen Welt" - und sucht schleunigst Trost in den Heilungsversprechungen, die von Forschung und Wissenschaft mit Biotechnik und Medizin-Entwicklung verbunden werden. In der Tat warten dann die Wissenschaftler des seriösen Forschungsbetriebs mit atemberaubenden Entdeckungen auf.

Als neuestes Beispiel möchte ich auf die Forschungen des Teams um Prof. Hans Schöler von der University of Pennsylvania hinweisen , die seither weltweit viel Aufmerksamkeit erfahren haben. Ihm ist es gelungen, aus embryonalen Mäusestammzellen Eizellen zu erzeugen, aus denen wiederum „embryoähnliche Gebilde“ hervorgingen. Diese Entwicklung könnte eventuell dazu führen, einen Haupteinwand gegen das therapeutische Klonen zu entkräften: Denn wenn es möglich wird, künstlich Eizellen herzustellen, wird damit die Chance eröffnet, auf menschliche Einzellspenderinnen zu verzichten. Bisher war nämlich unklar, wie die zum Forschungs-Klonen benötigten Eizellen, gar in größerem Maßstab, bereitgestellt würden.
Vom Schutz des Lebens soll ich heute sprechen und von der Verantwortung im Blick auf die lebensbezogene Forschung.

Die Thema-Frage lautet: "Was ist der Mensch?" Sie hätte angesichts der genannten Problemlage auch lauten können: „Was darf der Mensch mit sich und seinesgleichen machen?“

In unserer Gesellschaft gibt es über die Grundlagen bioethischer Beurteilung sehr unterschiedliche Auffassungen, und auch international sind wir mit verschiedenen Ethiktraditionen konfrontiert.
Was darf der Mensch mit sich und seinesgleichen machen?

Die ethische Urteilsbildung ist nicht allein die Aufgabe der Kirchen oder der Kirchenleitungen, sondern aller Christen. Und evangelische Freiheit und evangelische Verantwortung schließen die Möglichkeit ein, dass in ethischen Fragen auf gemeinsamer Grundlage – also der Grundsicht des Lebens – unterschiedliche Positionen mit guten Gründen verantwortlich vertreten werden können.

Die evangelische Kirche hat sich über solche Unterschiede, weil sie sich auf eine gemeinsame biblisch-ethische Grundlage bezieht, verständigen können. In der letzten Publikation der EKD zu bioethischen Fragen vom vergangenen August wurde unter dem Titel „Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen“ eine Argumentationshilfe veröffentlicht, die von der Kammer für Öffentliche Verantwortung ausgearbeitet worden war. Der Rat der EKD hat der Veröffentlichung dieser teilweise von seiner eigenen Position abweichenden Schrift zugestimmt, um eine offene Debatte über bioethische Fragen zu ermöglichen.

Die Erfahrung, dass es in der Ethik keinen pragmatischen Kompromiss gibt, teilt die evangelische Kirche mit anderen Gruppen: Sprach sich z.B. der Nationale Ethikrat für den Import von humanen embryonalen Stammzellen aus, war die Mehrheit der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der Modernen Medizin“ dagegen. Im Bereich der Präimplantationsdiagnostik plädiert wiederum die Mehrheit des Nationalen Ethikrates für die Zulassung dieser umstrittenen Methode, die Mehrheit der Enquete-Kommission lehnt sie dagegen ab.

Wo ein ethischer Konsens nicht zu erzielen ist, ist es eine Aufgabe der Rechtsordnung, befriedend zu wirken. Dies ist im Bereich der Stammzelldebatte inzwischen insofern gelungen, als das Stammzellgesetz den Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbietet und nur ausnahmsweise für hochrangige Forschungsvorhaben unter engen Voraussetzungen für zulässig hält. Solche rechtliche Regelungen stehen derzeit in Deutschland noch aus für die höchst umstrittenen Themen Präimplantationsdiagnostik, genetische Tests und vielleicht auch für die Sterbehilfe.

Ich bin gebeten worden, mich heute Abend auf einen Überblick über die Themen zu konzentrieren, die gegenwärtig im Zentrum der weltweit geführten bioethischen Debatte stehen.

Ich will dies gern tun. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass die ethischen Probleme der Transplantationsmedizin, der Xenotransplantation, der Patentierung von Leben, der Gentherapie und der grünen und grauen Gentechnik – alles auch Gebiete der Bioethik – weniger wichtig wären.
Mir liegt daran, dass wir heute die gemeinsame Aufgabe im Blick behalten: es geht um die Maßstäbe, auf die sich ethische Beurteilung stützt. Deshalb ist es richtig den Fragen: „Was darf der Mensch, was darf er nicht?“ die Frage vorzuschalten: „Was ist der Mensch?“.

2. Das christliche Verständnis des Menschen
Die Bibel als Glaubensgrundlage enthält für viele Fragen keine Handlungsanweisungen. Gerade für Bereiche, die vor 2000 Jahren nicht denkbar waren, können direkte Regeln nicht abgelesen werden. Aber die Bibel liefert Orientierungen und steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen wir unsere Handlungsspielräume auszuloten haben. Insbesondere sind alle ethischen Leitlinien daran zu messen, ob sie mit dem Verständnis des Menschen übereinstimmen, das die Bibel dem christlichen Glauben vorgibt.

Die vorletzte Synode der EKD hat sich im Timmendorfer Strand im November 2002 genau mit diesem Thema beschäftigt und eine Kundgebung dazu verabschiedet. Erlauben Sie mir, daraus eine Passage zum christlichen Verständnis des Menschen zu zitieren:
„Unter allen Geschöpfen ist der Mensch das einzige, das ... nach sich selbst fragen kann – und muss. Er muss es, weil er an sich und anderen beeindruckende Fähigkeiten und Möglichkeiten wahrnimmt, aber auch Grenzen und abgründigen Gefährdungen, die ihn zutiefst erschrecken.“
So möchte ich in diesem Teil meines Vortrags über das biblische Menschenbild sprechen. Ich wähle zur Veranschaulichung einen zweieinhalb Jahrtausende alten religiösen Text. Er entstammt der Bibel, und zwar dem „Alten Testament“, und gehört zur Gattung der poetischen Texte:

Psalm 8
HERR, unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen,
der du zeigst deine Hoheit am Himmel!
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge
hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen,
dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk,
alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere,
die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer
und alles, was die Meere durchzieht.
HERR, unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

Die Würde des Menschen hat ihren Grund im Lobpreis des Gottesnamens.
Geradezu überschwänglich, im Rhythmus der Psalmdichtung ein Kehrvers am Beginn und am Ende: "Wie herrlich ist Dein Name in allen Landen".
Ein Ruf des Staunens. Gestirne, Mond, die Tiefe des Alls, das ist die gewaltige Szene göttlicher Selbstvorstellung. Zu allen Zeiten haben Menschen so gestaunt.
"Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir", so hat Immanuel Kant alle Ehrfurcht zusammengefasst und damit die tiefe Stimmung des Menschen beschrieben.
Das Staunen über den gestirnten Himmel in diesem Lobeshymnus ist aber nicht Hinweis auf Gott direkt, der alle Geheimnisse in Händen hält. Grund des Lobpreises Gottes ist vielmehr der Mensch:
"Was ist der Mensch, dass Du Dich seiner annimmst? Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?"
Angesichts des gewaltigen Kosmos ist der eigentliche Grund des Staunens, dass der Mensch, dieses winzige Staubkorn im All, von Gott wahrgenommen und angenommen ist.
Der Mensch: Geschöpf wie alle Schöpfung, und doch herausgehoben, Gegenüber, „Gottes Ebenbild“, sagt die jüdische Tradition.
Von Gott zum Du bestimmt:
Du Mensch.
Du kannst Gottes Ruf vernehmen.
Du kannst ihm zuhören und ihm folgen, denn Du bist der, dessen sich Gott annimmt.
Freilich ist der Mensch eingebunden in die Entwicklung der Arten, in die Evolution; aber er geht darin nicht auf. Nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wäre er ein Irrläufer. Denn die technische Entwicklung wächst schneller als die Fähigkeit, sie zu beherrschen.
So wird das alte Menschheitsrätsel "Wer bin ich?" beantwortet: staunend und in den Lobpreis Gottes mündend.

---
Ein zwischen zwei Ufern gespanntes Seil, sagt Nietzsche, sei der Mensch: schwach - vergänglich - grausam - brutal, und doch gepriesen und voller Würde.
"Der nackte Affe", so hat schon Heraklit den Menschen genannt, um seine Begrenzung zu markieren. "Nichts ist ungeheurer als der Mensch" hat Sophokles gesagt.

Fehlkonstruktion der biologischen Evolution - so meinen die einen - volle Erfindungskraft und Fantasie fürs Überleben der Gattung, sagen die anderen. So schwanken auch unsere Selbsteinschätzungen, die kollektiven wie die persönlichen, zwischen maßloser Überschätzung und tiefer Depression.
Viele Verhaltens- und Erscheinungsweisen des Menschen lassen nicht darauf schließen, dass er Bild Gottes sei. Dutzendware sind wir, verführbar zu jeder Art von Massenwahn und Grausamkeit - Rädchen im Räderwerk der Mächtigen, austauschbar, ersetzbar; schwach gegenüber der Angst und der Habgier; vergesslich oft, was die Wohltaten angeht, armselig und nachtragend gegen Kritik und Kränkung.
"Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?"

Die Frage ist der stammelnde Versuch, von Gottes Maßstab zu reden. Die gewaltige Schöpfung und der winzige Mensch. Gerade er ist zwar Staubkorn im All, aber beim Namen genannt. Groß und klein werden vertauscht.

Der endliche, schwache, fehlbare Mensch – ist zu Gottes Bild erschaffen, d.h. zur Gemeinschaft mit Gott in Zeit und Ewigkeit bestimmt. Ihm ist als Gottes Statthalter die Fürsorge und Verantwortung für die Erde anvertraut.

Am Bild Jesu Christi wird eine tragfähige Antwort darauf gegeben, wie das Staunen des Psalmgebets sich realisiert. Was den Menschen ausmacht und auszeichnet: „Er ist in seinen Stärken und Schwächen, im Gelingen und Scheitern, im Widerspruch und im Gehorsam, im Gericht über seine Werke und in dem Freispruch über seine Person durch Gottes heilige Liebe mit einer Würde ausgezeichnet, die nichts und niemand ihm nehmen kann, auch nicht er selbst.“ 

Der Psalm bestaunt nicht den Menschen, er staunt, dass Gott ihn annimmt. Das christliche Menschenbild unterscheidet sich fundamental von Denkrichtungen, die das Verständnis vom „Personsein“ eines Menschen an empirisch aufweisbaren Fähigkeiten festmachen. Nur wer Bewusstsein und Interessen hat, ist nach dieser Auffassung ‘Person’ und muss bei ethischen Abwägungen als Person berücksichtigt werden. In der Folge dieses Ansatzes haben Menschen, die ihre Interessen nicht äußern können – weil sie dement, appallisch oder komatös, weil sie ungeboren, schwerbehindert oder alt sind –, nicht denselben Anspruch auf den Schutz ihres Lebens wie ‚Personen‘ und damit kein Lebensrecht im Vollsinn.

Von den Befürwortern bio- und gentechnischer Verfahren werden stets ethische Ziele geltend gemacht, die über den Lebensschutz hinausgehen: Es gelte, erbkranken Nachwuchs zu vermeiden; man müsse alles daransetzen, die Geißel bisher unheilbarer Krankheiten zu heilen. Bei dieser Art biomedizinischer Argumentation geht es um Ziele, die aus christlicher Sicht ethisch legitim sind. Das Gebot der Nächstenliebe zielt darauf, Menschen in Not zu helfen.

Und noch ein anderer Gesichtspunkt ist wichtig: Die Therapieversprechen sind eindrücklich. Die Entschlüsselung des Genoms eröffnet faszinierende Möglichkeiten. Es sind nicht mehr die Wahnsinnsgestalten aus Science-Fiction-Filmen, die Dr. Mabuses, die von der Herstellung neuer Menschen reden. Seit Dolly, das Schaf, als identische Kopie eines anderen Schafes entstand, gerät auch die Einzigkeit des Menschen in Gefahr, wenn man sich anschickt, durch Kopien ununterscheidbare Folgewesen zu erzeugen. Solche prinzipiellen Möglichkeiten lassen viele geneigt sein, Verfahren von Diagnose und Therapie zu akzeptieren, die in ihren grundsätzlichen Auswirkungen Grenzen überschreiten, die lange eingehalten wurden.

Aber bei all dem sind zwei Grenzen zu beachten:
Zum einen darf menschliches Leben nicht benutzt werden wie eine Sache, um Heilungsversprechen zu erfüllen. Forscher, Politiker und finanzierende Firmen versprechen sich Fortschritt und Expansion und den Menschen die Überwindung von Krankheiten mit Hilfe gezüchteter Teil-Gewebe. Das Ziel ist hochrangig, aber die Methode ist das ethische Problem.
 Menschliches Wesen darf keine Biomasse sein. Wenn Embryonen nur erzeugt werden, um als medizinischer Rohstoff bereitzustehen, ist das ein Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen das Gebot des Lebensschutzes.

Zum anderen: Therapieversprechen in allgemeinen Formulierungen, wie etwa, dass Alzheimer und Parkinson behoben werden könnten, wecken nach Meinung der meisten Forscher und Ärzte übertriebene Hoffnungen. Sie verkennen die Realität der Welt, und suggerieren die völlig übertriebene Erwartung, das Leben könne allgemein leidfrei werden. Wir dürfen nicht der Illusion erliegen, man könne eine Welt ohne Leid oder eine behindertenfreie Gesellschaft schaffen. 

Der Vorwurf, mit dieser Position verweigere sich die Kirche dem humanitär gebotenen Kampf gegen noch unheilbare Krankheiten, trifft nicht, denn die perfekte Gesundheit ist eine Illusion. Es darf nicht um jeden Preis geforscht werden.
 
 3.  Konsens über die moralische Fragestellung
Auf der Basis des bisher aufgeführten Menschenbildes besteht trotz unterschiedlicher Argumentationen im Raum der Kirche und der evangelischen akademischen Theologie Konsens darüber, dass es bei der ethischen Bewertung vieler ethischer Problemfelder nicht vorrangig um politische Ziele oder um wirtschaftliche oder wissenschaftliche Interessen gehen darf.

 Wenn wir fragen, was Menschen dürfen und was nicht, gibt es folgende Gemeinsamkeiten:
Unstrittig ist, dass der Umgang mit menschlichen Embryonen ethisch von großer Relevanz ist. Sie sind menschliche Lebewesen und als solche schutzwürdig. Dieser Schutz schließt eine beliebige Instrumentalisierung von Embryonen für Zwecke der Forschung aus. Kein seriöser Mensch plädiert dafür, mit menschlichen Embryonen so zu experimentieren wie mit tierischen Organismen oder mit Körperzellen. Strittig ist, ob der Schutz der Embryonen deren Verbrauch verbietet, oder ob von diesem Verbot Ausnahmen erlaubt sind. Auch wer Ausnahmen zulassen will, erkennt in der Regel an, dass es Grenzen gibt, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen.

Unstrittig ist außerdem, dass es sich beim menschlichen Embryo um menschliches Leben handelt und dass menschliches Leben von seinem Beginn bei der Zeugung an zu schützen ist.
Es ist unstrittig - so ein dritter Punkt -, dass Klonen im Sinne einer Verdoppelung des menschlichen Individuums ethisch unvertretbar ist (sog. reproduktives Klonen).
Unstrittig ist auch, dass medizinische Ziele nicht rechtfertigen, Föten heranwachsen zu lassen, um sie dann für die Forschung oder für therapeutische Zwecke zu verwenden und zu vernichten. Das gilt auch für die Entwicklung in vivo: Die Abtreibung (und Tötung) eines Föten, mit dem Ziel, transplantierbare Organe zu gewinnen, ist moralisch unvertretbar.
Unstrittig ist ferner, dass wirtschaftliche Ziele keine Rechtfertigung für die Änderung der rechtlichen Verfügung über menschliche Embryonen darstellen. Standortargumente und Hinweise auf Investitionen und Arbeitsplätze dürfen in dieser Diskussion nicht Ausschlag gebend sein.

4. Dissens über den moralischen Status von Embryonen
Jenseits dieser fünf Übereinstimmungen in der theologischen Bioethik-Debatte bestehen jedoch erhebliche Unterschiede in der Bewertung der verschiedenen bioethischen Problembereiche. Denn viele Forschungen stellen insofern ethisch ein Problem dar, als sie die Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos berühren. Die Grundfrage besteht darin, wann das Leben eines Menschen beginnt und welcher moralische Status dem Embryo zuerkannt wird.

In der Diskussion um den Lebensbeginn werden heute im wesentlichen sechs verschiedene Zeitpunkte genannt, also sechs verschiedene Zuschreibungen vorgenommen:
Der erster Zeitpunkt für den Beginn menschlichen Lebens wird festgemacht mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle: Für diese Annahme werden drei Argumente angeführt: die Kontinuität der Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt, die Potentialität des Embryo, sich zu einer Person zu entwickeln und die genetische Identität zwischen der befruchteten Eizelle und dem geborenen Menschen. Allerdings werden in der ethischen Diskussion auch diese drei Argumente auf vielfache Weise bestritten und als inkonsistent destruiert. Ebenso werden diese Einwände jeweils wieder als nicht rational begründete Argumente zurückgewiesen. Ich erspare Ihnen diese Auseinandersetzung.

Ein zweiter Zeitpunkt für den Beginn des Lebens wird nach Abschluss der Einnistung in die Gebärmutter (etwa 5.-9. Tag) gesehen, da sich erst hier – so die Vertreter dieser These – der mütterliche Organismus auf die Versorgung des Embryos einstelle und die notwendigen Umgebungsbedingungen für die weitere Individuation und eigene genetische Aktivität des Embryos bestünden.

Ein dritter Zeitpunkt besteht nach dem Ende der Möglichkeit zur Mehrlingsbildung (etwa um den 14. Tag): Der Grund für diesen Ansatz ist die Überlegung, dass ein Individuum, also ein Ungeteiltes, nicht noch einmal in zwei oder noch mehr Individuen oder Personen geteilt werden könne.

Ein vierter Zeitpunkt für den Lebensbeginn wird bei der Entwicklung des Gehirns im Verlauf des dritten Monats gesehen wegen einer vermeintlichen Entsprechung von Anfang und Ende der Hirntätigkeit. Hier wird also eine Analogie zum Hirntod hergestellt.

Ein fünfter Zeitpunkt wird mit der Geburt festgelegt, wenn das Leben von der Mutter oder der Gesellschaft angenommen wird. Als Grund für diesen Zeitpunkt gilt der Gedanke, dass der Mensch sich erst durch Beziehung zu anderen verwirkliche.

Und ein sechster Zeitpunkt für den Lebensbeginn wird am Selbstbewusstsein und der Fähigkeit zu freier Entscheidung während der ersten Lebensjahre fest gemacht – ein eher seltener Standpunkt, auch wenn er in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit vom Kulturstaatsminister vertreten wurde.

Dieser Überblick verdeutlicht, dass die Frage, wann menschliches Leben beginnt, letztlich keine Frage der naturwissenschaftlichen Beobachtung, sondern eine hermeneutische Frage ist. Ob wir in einem menschlichen Achtzeller lediglich einen Zellhaufen sehen oder aber einen werdenden Menschen, ausgestattet mit der entsprechenden Menschenwürde, lässt sich nicht aus biologischen Fakten ablesen oder ableiten. Es ist eine Frage der Deutung dieser Fakten. Die Biologie kann dazu Erkenntnisse beitragen, die aber nicht schon als solche als ethische Normen in Anspruch genommen werden können. Das würde bedeuten, biologische Erkenntnisse in ontologische Aussagen umzuwandeln und sich eines biologistischen Fehlschlusses schuldig zu machen.

Da also der Anfang menschlichen Lebens nicht mit letzter Klarheit bestimmbar ist und unterschiedlichen Interpretationen unterliegt, bieten sich zwei Möglichkeiten des Umgangs an, den moralischen Status des Embryo zu bestimmen.

Es wird eine Meta- bzw. Klugheitsregel aus der ethischen Tradition hinzugezogen. Sie besagt, dass man bei Entscheidungen über Leben, bei denen es mehrere Alternativen gibt, die sicherere Variante wählen soll. Dem entspricht die 1. Auffassung: Leben beginnt mit der vollständig vollzogenen Vereinigung von Ei- und Samenzelle und ihm gebührt der volle Lebensschutz von Anfang an. Oder säkular formuliert: Die befruchtete Eizelle außerhalb des Mutterleibes hat nach dieser Auffassung Personenstatus und damit den Status eines Trägers von Grundrechten.

Diese Auffassung entspricht der Meinung der beiden großen Kirchen, die bereits in ihrer gemeinsamen Schrift „Gott ist ein Freund des Lebens“ von 1989 jede Beeinträchtigung embryonalen Lebens verworfen haben. Das entscheidende Argument für diese Auffassung ist, dass es in der Entwicklung von der Keimzellenverschmelzung bis zum Ende der irdischen Existenz eines Menschen keine andere Zäsur gibt, die sich mit guten Gründen als Beginn des Menschseins verstehen ließe.

 Die einzigen dafür theoretisch in Frage kommenden und auch gegenwärtig diskutierten Einschnitte in der menschlichen Entwicklung, die Geburt und die Einnistung in die Gebärmutter, bilden nicht den Beginn des Menschseins, sondern sind nur Einschnitte innerhalb der Entwicklung als Mensch.

In der ethischen Diskussion wird aber auch eine andere Position geltend gemacht. Nach dieser Auffassung kommt dem menschlichen Embryo in seiner frühen Entwicklungsphase nur eine Schutzwürdigkeit abgeleiteter Art zu. Hier wird faktisch unterschieden zwischen „menschlichem Leben“ und „werdenden Menschen“. Insbesondere bei Embryonen in vitro – so die These – handelt es sich nicht um werdende Menschen, da bei diesen – insbesondere überzähligen – Embryonen die äußeren Voraussetzungen dafür fehlen, dass aus ihnen ein Mensch hervorgehen kann. So wird hier differenziert zwischen dem Leben werdender Menschen, das aller Fürsorge wert ist, und menschlichem Leben, das dadurch, dass es der medizinischen Forschung zur Verfügung steht, kranken Menschen zugute kommen könnte.

Noch einmal anders gesagt: Diese Auffassung geht ebenfalls davon aus, dass mit der Kernverschmelzung menschliches Leben beginnt und der Embryo geschützt werden muss. Es sei aber zu abzuwägen, ob ein Embryo in den ersten Entwicklungstagen genauso unbedingt wie der spätere Embryo geschützt werden muss. Begründet wird dies mit Erkenntnissen der Embryonenforschung: Im Umkreis des 14. Tages verstärke sich die genetische Aktivität des Embryos und präge sich die Körperachse aus, so dass der Embryo eine individuelle Gestalt anzunehmen beginne. Auch sei eine Zwillingsbildung nicht mehr möglich. Diese Position greift also in ihrer Argumentation auf die ersten drei Zeitpunkte des Lebensbeginns – Kernverschmelzung, Nidation, Ende der Mehrlingsbildung – zu und bietet eine Kombination an.

Trotz der gemeinsamen Grundüberzeugung dieser beiden Auffassungen, dass jeder Mensch sein Personsein und seine darin liegende Würde der schöpferischen Zuwendung Gottes verdankt, lässt sich nicht mit überzeugenden Gründen ableiten, ab wann und unter welchen Voraussetzungen vom Lebensbeginn eines Menschen gesprochen werden kann. Aus diesen kontroversen Grundpositionen ergeben sich nun ebenfalls unterschiedliche Auffassungen zu den Folgerungen, die daraus abgeleitet werden können.

5. Konkrete Probleme am Anfang und Ende des menschlichen Lebens
Es würde jedoch den Rahmen dieses Einführungsvortrages in Ihre Vortragsreihe „Was ist der Mensch?“ sprengen, wenn ich nun bei der beispielhaften Anwendung dieser beiden ethischen Positionen, die gleichermaßen auch in der Gesellschaft vertreten werden, immer beide Auffassungen darstellen würde. Ich beschränke mich daher auf die Sicht des Rates der EKD und hoffe, dass die gegenteilige Position in den künftigen Referaten dann ausführlich zur Geltung kommt!

Ich möchte meinen Überblick über die verschiedenen konkreten Problemfelder am Anfang und Ende des menschlichen Lebens so gestalten, dass ich zu jedem Bereich eine kurze These voranstelle und sie anschließend begründe.

Meine These zur Pränataldiagnostik lautet:
Pränataldiagnostik kann in vielen Fällen den Lebens- und Gesundheitsinteressen des ungeborenen Kindes dienen und seine Lebenschancen verbessern. Allerdings kann solches Wissen auch verunsichern, belasten und verängstigen. Notwendig ist vorherige Aufklärung, die Möglichkeit der Inanspruchnahme des „Rechtes auf Nicht-Wissen“ und ein umfassendes medizinisches und soziales Beratungsangebot.

Ziel aller pränatalen Diagnostik ist es, durch geeignete Untersuchungsverfahren Entwicklungsstörungen zu erkennen, durch Früherkennung eine optimale Behandlung der Schwangeren und des ungeborenen Kindes zu gewährleisten, Befürchtungen und Sorgen der Schwangeren zu objektivieren oder abzubauen. Den Möglichkeiten stehen aber auch Gefahren und Mißbrauchsanwendungen gegenüber. So bergen die verschiedenen Untersuchungsmethoden der vorgeburtlichen Diagnostik für Mutter und besonders das Kind unterschiedlich hohe Risiken in sich.

Gezielte pränatale Diagnostik kann außerdem zu einer schweren seelischen Konfliktsituation für die schwangere Frau führen, wenn die Untersuchungsergebnisse eine Behinderung anzeigen. Die gängige Praxis und der Druck des sozialen Umfelds führen oft dazu, dass sich die Frau in einer solchen Situation gegen das Austragen des Kindes entscheidet.

Pränatale Diagnostik kann im Endeffekt dazu führen, dass sich in der Gesellschaft die Überzeugung durchsetzt, behinderte Kinder bräuchten nicht mehr zur Welt zu kommen. Behinderung ist jedoch ein Teil unserer Lebenswirklichkeit und wird es bleiben. Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass die pränatale Diagnostik alle denkbaren gesundheitlichen Risiken vorhersagen und damit ausschließen kann. Zwar wird in manchen Fällen das Leben eines Menschen durch die Diagnostik voraussehbarer. Eine „behindertenfreie“ Gesellschaft bleibt aber eine unmenschliche Vorstellung, denn sie würde voraussetzen, Ungeborenen mit einer Behinderung den Zutritt zur menschlichen Gemeinschaft zu verwehren. Zudem kann nur ein geringer Prozentsatz von Krankheiten und späterer Behinderung überhaupt genetisch entdeckt werden.

Meine These zur Präimplantationsdiagnostik lautet:
Präimplantationsdiagnostik ist eine „Zeugung auf Probe“ und dient ausschließlich dem Zweck einer Selektion von „gesunden“ Embryonen. Es ist zu befürchten, dass diese Methode nur der erste Schritt zu einer Qualitätsprüfung aller in-vitro-erzeugten Embryonen ist. Für den Rat der EKD sind die Einwände gegen diese Methode so gewichtig, dass er die Methode ablehnt: Vernichtung des Rest-Embryos, Problem der überzähligen Embryonen, Selektion, Tendenz zur Ausweitung.

Zwar ist zu sehen, dass mit der Präimplantationsdiagnostik Eltern die Chance erhielten, frühzeitig zu erkennen, ob befürchtete Risiken eingetreten sind. Einem späteren Schwangerschaftsabbruch könnte so durch einen Verzicht auf den Embryotransfer vorgebeugt werden. Mit Blick auf die betroffene Frau wäre dies aus medizinischen und psychologischen Gründen sicherlich ein gewichtiges und ernstzunehmendes Argument. Aber dabei darf nicht übersehen werden, dass die Präimplantationsdiagnostik mit dem Grundsatz des Schutzes menschlicher Embryonen nicht vereinbar ist. Sie beruht auf der Prüfung extrakorporal gezeugter menschlicher Embryonen und zieht – im Falle der nicht bestandenen „Qualitätsprüfung“ – die Vernichtung dieser Embryonen nach sich. Ein solcher Verbrauch von embryonalen Zellen degradiert den Embryo zum bloßen Testmaterial, und die Verwerfung eines als krank befundenen Restembryos ist Tötung menschlichen Lebens.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die In-Vitro-Fertilisation entwickelt wurde, um kinderlosen Eltern die Erfüllung des Wunsches nach einem Kind zu ermöglichen. Die EKD rät von der Inanspruchnahme der In-Vitro-Fertilisation ab. In Verbindung mit der Präimplantationsdiagnostik dient sie darüber hinaus nicht der Behandlung von Unfruchtbarkeit, sondern  der Verhinderung eines kranken Kindes.

Der Wille, die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik auf wenige, streng gefasste Indikationen zu beschränken, kann und soll nicht bestritten werden. Wie die Erfahrung mit der pränatalen Diagnostik belegt, ist jedoch das Risiko, dass die ursprünglich intendierte enge Begrenzung nicht durchgehalten werden kann, außerordentlich groß. Der Rat der EKD plädiert dafür, dieses Risiko nicht einzugehen.

Ich möchte noch kurz auf zwei Argumente der Vertreter der Position einer abgestufter Schutzwürdigkeit eingehen, die in diesem Zusammenhang immer wieder vorgetragen werden. Die Präimplantationsdiagnostik wird häufig mit der Begründung befürwortet, dies sei der einzige Weg, um Eltern, die genetisch belastet sind, zu einem gesunden eigenen Kind zu verhelfen, und ihre Anwendung beschränke sich auf eine kleine, abgrenzbare Zahl von Fällen. Die Präimplantationsdiagnostik sei nichts anderes als eine vorgezogene pränatale Diagnostik. Und im Vergleich mit einer „Schwangerschaft auf Probe“ bei der Pränatalen Diagnostik sei die „Zeugung auf Probe“ bei der Präimplantationsdiagnostik die weniger belastende Variante für die Frau.

Dazu möchte ich sagen: Die Belastung einer Präimplantationsdiagnostik ist nicht zu unterschätzen, denn die Anwendung setzt eine molekulargenetische Untersuchung beider Partner, die Hormonbehandlung der Frau zur Stimulation der Eireifung, die Follikelpunktion sowie die Samenspende voraus. Durch die immer noch relativ geringe Erfolgschance von ca. 15-20 % kann sich eine derartige Behandlungssequenz über Monate oder sogar Jahre erstrecken, die für die Frau und auch den Mann belastend sind. Auf Grund der Fehlerhäufigkeit der Präimplantationsdiagnostik empfehlen Ärzte zusätzlich eine Pränataldiagnostik nach Eintritt der Schwangerschaft, so dass Pränataldiagnostik und gegebenenfalls ein Schwangerschaftsabbruch durch Präimplantationsdiagnostik nicht ausgeschlossen werden können. Es ist also fraglich, ob wirklich von einer „weniger belastenden Variante“ gesprochen werden kann.

Davon abgesehen hat bisher unter ethischen Gesichtspunkten ein breiter Konsens darüber bestanden, dass eine Schwangerschaft auf Probe nicht befürwortet werden kann. Was im Falle der natürlichen Zeugung und der Schwangerschaft ethisch nicht vertretbar ist, wird nicht dadurch akzeptabel, dass es ins Labor verlegt wird.

Ein weiteres Argument für die Einführung der Präimplantationsdiagnostik heißt: Es bestehe ein Wertungswiderspruch zu anderen rechtlichen Regelungen, demzufolge ein menschlicher Embryo im Reagenzglas (durch das Embryonenschutzgesetz) besser geschützt sei als ein heranwachsendes Kind im Mutterleib (§ 218 StGB).

Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass unterschiedlichen Rechtsfolgen nicht unbedingt unterschiedliche rechtsethische Wertungen zugrunde liegen. So wird auch bei der jetzigen Abtreibungsgesetzgebung die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des Embryos nicht negiert. Lediglich die Frage, wie der Schutz in angemessener Weise gewährleistet werden soll, wird unterschiedlich beantwortet. Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass er bei der Durchsetzung des Lebensschutzes wegen der einzigartigen Verbindung von Mutter und ungeborenem Kind (Zweiheit in Einheit) und aus der Erkenntnis, dass das Leben des Kindes nicht gegen, sondern nur mit der Mutter geschützt werden kann, auf das Mittel des Strafrechtes verzichten sollte. Stattdessen sollte die Mutter über den Weg der Beratung für den Lebensschutz des Kindes gewonnen werden. Insgesamt gesehen ist hier zu unterscheiden zwischen einer persönlichen Konfliktsituation der betroffenen Frau, und der Frage, ob diagnostische Verfahren genutzt werden dürfen, die auf Tötung und nicht auf Therapie zielen.

Meine These zur Prädiktiven genetischen Diagnostik lautet:
Prädiktive genetische Diagnostik kann ethisch als verantwortbar angesehen werden, wenn sie im Blick auf eine verhinderbare oder behandelbare Erkrankung wichtig ist und für die eigene Lebensplanung berücksichtigt werden kann. Sie ist jedoch problematisch bei Erkrankungen, für die es keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Vorsorge oder Behandlung gibt. Sie darf nur mit der informierten Zustimmung (informed consent) der betroffenen Person durchgeführt werden und die Auswirkungen auf Versicherungen und Arbeitgeber müssen rechtlich geregelt sein.

Prädiktive genetische Diagnostik steht inzwischen für mehrere Erkrankungen zur Verfügung, die durch einen Einzel-Gen-Defekt verursacht werden (z.B. Huntington Krankheit, bestimmte Darmkrebsformen u.a.). Wissen über das unausweichliche, wenn auch unter Umständen vom Zeitpunkt und Verlauf her unbekannte Auftreten einer solchen Erkrankung ist immer konflikthaltig. Dennoch kann das Ergebnis einer solchen Diagnostik für die Lebens- und Familienplanung einer Person von so großer Bedeutung sein, dass sie diese Untersuchung nach entsprechender Beratung und Aufklärung für sich wünscht.

Weitaus problematischer als bei Erkrankungen, die durch ein Einzel-Gen bedingt sind, ist die prädiktive Diagnose bei multifaktoriellen Erkrankungen. Diese Diagnostik liefert in der Regel nur Hinweise auf Faktoren, die zu einer bestimmten Krankheit disponieren und erfordert eine Bewertung sowohl der Wahrscheinlichkeit der Erkrankung als auch der Schwere und der Bedeutung einer eventuellen Erkrankung im späteren Leben. Die Aussagen sind naturgemäß mit großen Unsicherheiten behaftet. Deshalb ist eine prädiktive Diagnostik für solche Erkrankungen nur dann sinnvoll, wenn sie einen Bezug zur konkreten Situation der untersuchten Person und deren Lebensumständen hat. Nur so kann ein eventuelles Ergebnis in sinnvolle, hilfreiche Entscheidungen, Einstellungen und Handlungen umgesetzt werden.

Bei der prädiktiven Diagnostik ist die Wahrung folgender Prinzipien ausschlaggebend: die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme, das „Recht auf Nichtwissen“ der eigenen genetischen Ausstattung und damit auch das Recht auf Selbstbestimmung, welche genetischen Daten über einen selbst erhoben werden, sowie die Berücksichtigung der besonderen psychischen Situation, wenn eine Person ein Krankheitsrisiko befürchtet. Deshalb darf eine prädiktive Diagnostik nicht als klinische Routinediagnostik, sondern nur in einem Kontext durchgeführt werden, der eine ausreichende Vorbereitung und Nachbetreuung mit umfassender Beratung gewährleistet. Unerlässlich ist die Wahrung der Vertraulichkeit von Diagnosen und der Schutz genetischer Daten gegenüber Dritten.

Meine These zur Embryonalen Stammzellforschung lautet:
Embryonale Stammzellforschung ist aus Sicht des Rates der EKD abzulehnen. Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind nicht zu verantworten – und seien die Forschungsziele noch so hochrangig. Dies gilt auch dann, wenn dabei so genannte überzählige Embryonen verwendet werden.

Der Rat der EKD vertritt die Meinung, dass bei der Forschung mit sog. überzähligen Embryonen menschliches Leben als Mittel zum Zweck eingesetzt wird und damit ein Verstoß gegen die Würde des Menschen vorliegt. Deswegen kann es keine Abwägung zwischen dem Lebensschutz des Embryos einerseits und der Forschungsfreiheit andererseits geben, denn es handelt sich hier immer um Tötung in fremdem Interesse. Zwar werden sich sog. überzählige Embryonen voraussichtlich nicht mehr zum geborenen Menschen entwickeln, weil sie keine Mutter haben. Diese verringerte Chance liegt aber nicht in ihrer eigenen Entwicklungsfähigkeit begründet.

Auch im Blick auf die Nutzung und den Import von Stammzelllinien aus dem Ausland argumentiert der Rat der EKD mit dem Tötungsverbot: Zur Gewinnung von Stammzelllinien müssen Embryonen getötet werden und dies ist aus ethischer Sicht abzulehnen. Damit ist neben der Gewinnung auch die Nutzung solcher Stammzelllinien ethisch mindestens problematisch, wenn nicht gar verwerflich. Diese Einwände werden auch gegen den Import von humanen embryonalen Stammzelllinien aus dem Ausland geltend gemacht. Rechtlich gilt der Import nach derzeitiger Rechtsauffassung zwar als statthaft. Ethisch ist es jedoch problematisch, für Handlungen, die in Deutschland verboten sind, auf das Ausland zurückzugreifen.

Meine These zum „Therapeutischen“ Klonen oder besser: Forschungs-Klonen von Menschen lautet:
„Therapeutisches“ Klonen oder besser: Forschungs-Klonen von Menschen ist aus Sicht des Rates der EKD ebenfalls abzulehnen: Zum einen werden Embryonen ausschließlich mit dem Ziel erzeugt, als medizinischer Rohstoff bereitzustehen – dies ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Zum anderen werden die Embryonen, denen die Stammzellen entnommen wurden, an ihrem Weiterwachsen gehindert und zerstört – dies ist Tötung menschlichen Lebens und damit verbrauchende Embryonenforschung.
Im Zusammenhang des Klonens sind für zwei verschiedene Handlungsintentionen Begriffe eingeführt worden, die zu Missverständnissen führen: das sog. „therapeutische“ Klonen und das reproduktive Klonen. Beiden Verfahren liegt dieselbe Technologie zugrunde, nämlich das Klonen durch Zellkerntransplantation nach der Dolly-Methode. Aber die Intention ist jeweils eine andere: Beim sog. „therapeutischen“ Klonen werden Embryonen hergestellt, um aus ihnen Stammzellen und nicht ganze Lebewesen wie beim reproduktiven Klonen zu gewinnen.

Der Begriff „therapeutisches“ Klonen ist also ein beschönigender, wenn nicht gar verschleiernder Ausdruck, denn es geht dabei in erster Linie um die Gewinnung von embryonalen Stammzellen und nicht um Therapie. Aus diesem Grunde wird von vielen Wissenschaftlern inzwischen die Bezeichnung „Forschungsklonen“ bevorzugt, der ich mich anschließen möchte.

Aus Sicht des Rates der EKD ist das Forschungs-Klonen auf jeden Fall abzulehnen, da es gegen die Menschenwürde des Embryos verstößt, wenn er für anderweitige Zwecke verbraucht wird. Auch droht eine Vermischung der Grenze zwischen dem Forschungs-Klonen und dem reproduktiven Klonen. Hinzu kommt, dass die technische Realisierungschance und der medizinische Erfolg des Forschungs-Klonens äußerst ungewiss sind.

Meine These zum Reproduktiven Klonen von Menschen lautet:
Reproduktives Klonen von Menschen ist aus christlicher Sicht entschieden abzulehnen, da das Klonen gegen das Recht auf Individualität und damit gegen die Menschenwürde verstößt. Das Klonen von Menschen ist Menschenzucht und wird deshalb weltweit geächtet.

In der Ablehnung des reproduktiven Klonens gibt es – weit über den Bereich der evangelischen Kirche hinaus – in Deutschland eine breite Übereinstimmung. Nicht anders ist es in zahlreichen anderen Ländern, gerade in der europäischen Nachbarschaft. Diese Situation muss genutzt werden, um auch rechtliche Dämme gegen die Anwendung des reproduktiven Klonens beim Menschen zu errichten. Erfolgreich ist dies bereits im Rahmen des Zusatzprotokolls über das Verbot des Klonens des Menschrechtsübereinkommens zur Biomedizin des Europarates (1996) geschehen. Das am 1. März 2001 in Kraft getretene Klonprotokoll haben bislang 29 der derzeit 44 Europaratsmitglieder unterzeichnet und zehn von ihnen ratifiziert. Deutschland hat das Protokoll nicht unterschrieben, da es dies nur tun kann, wenn es zuvor die Bioethik-Konvention unterzeichnet hat.

Leider konnten die Vereinten Nationen Anfang November 2002 das vorgesehene weltweite Moratorium gegen das reproduktive Klonen, das auf eine deutsch-französische Initiative zurückging, nicht durchsetzen, weil rund 30 Staaten unter Führung der USA, Spaniens und der Philippinen auf ein weitergehendes Verbot drängten und forderten, auch das Forschungs-Klonen zu untersagen. Die Verhandlungen der Generalversammlung der UN über ein Klonverbot sind nun auf den 29. September bis 3.Oktober 2003 verschoben. Man kann diesem Vorhaben nur Erfolg wünschen.

Ich habe es sehr begrüßt, dass sich der Deutsche Bundestag am 20. Februar 2003 mit großer Mehrheit für ein weltweites Verbot des reproduktiven und des Forschungs-Klonens menschlicher Lebewesen ausgesprochen hat. Natürlich ist damit noch nichts darüber gesagt, wieweit dies weltweit oder wenigstens europaweit durchsetzbar sein wird, aber ein erster Schritt ist es allemal.

Auch im Raum der evangelischen Ethik ist die Ablehnung der reproduktiven Klonens einhellig: Dagegen spricht generell vor allem das Instrumentalisierungsverbot, mit dem die Menschenwürde geschützt werden soll. Ein Klon wird nicht um seiner selbst willen erzeugt, sondern als Mittel zum Zweck, z.B. als Kopie eines als besonders vorzugswürdig erachteten Menschen.

Darüber hinaus spricht gegen das reproduktive Klonen das Gleichheitsargument: Es gehört zur elementaren Gleichheit aller Menschen, dass die Mischung der Erbanlagen durch Zufall zustande kommt. Wenn die Individualität eines Menschen jedoch nicht mehr geschützt ist, liegt ein Verstoß gegen die Würde des Menschen vor. Jeder Mensch hat das Recht auf seine ihm je eigene Individualität, die das Ergebnis eines genetischen Zufalls ist, und muss die Möglichkeit haben, schon von seiner genetischen Ausstattung her einzigartig zu sein.

Nicht zuletzt möchte ich erwähnen: Wenn das reproduktive Klonen eingesetzt würde, um Eltern Kinder nach Maß zu verschaffen, wäre der so erzeugte Mensch zugleich Kind und genetischer Zwilling eines seiner beiden Elternteile, während er mit dem anderen Elternteil biologisch nicht verwandt wäre. Für das Selbstverständnis und die soziale Rolle eines so entstandenen Kindes müsste man mit gravierenden Problemen rechnen.

Meine These zur Aktiven Sterbehilfe lautet:
Aktive Sterbehilfe ist eine ethisch nicht vertretbare, gezielte Tötung eines Menschen in seiner letzten Lebensphase, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt. Die Alternativen zur Tötung sind umfassende Sterbebegleitung, Leidensminderung durch Schmerztherapie und Palliativmedizin und Betreuung in Hospizen.

Seit vielen Jahren wird das Thema der aktiven Sterbehilfe weltweit kontrovers diskutiert. Es hat in Deutschland eine erneute Aufmerksamkeit erfahren, nachdem unsere beiden Nachbarländer, die Niederlande und Belgien, die aktive Sterbehilfe legalisiert haben. Es ist nicht zu übersehen: Die niederländische und belgische Sterbehilfegesetzgebung genießt in der Bevölkerung unserer Nachbarländer – aber auch in Deutschland – große Sympathien. Das zeigen viele Umfragen. Viele Menschen haben Angst, sie könnten am Ende ihres Lebens einer sinnlosen Lebens- und Sterbeverlängerung ausgesetzt sein. Sie haben Angst davor, dass sie selbst, ihre Angehörige oder Freunde in eine Situation unerträglicher Leiden geraten, aus der kein Ausweg möglich scheint.

Die Kirchen haben seit Jahrzehnten dagegen ihre Überzeugung gehalten: Aktive Sterbehilfe ist und bleibt eine ethisch nicht vertretbare, gezielte Tötung eines Menschen in seiner letzten Lebensphase, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt. Gerade in Deutschland wissen wir durch die Erfahrungen der Vergangenheit, wohin es führen kann, wenn Menschen von Dritten für nicht mehr lebenswert erklärt werden, statt in ihrer Schwäche, Krankheit oder Behinderung als Menschen akzeptiert und nach ihren Bedürfnissen umsorgt zu werden.

Aus Sicht der Kirchen beschwört eine Rechtsordnung, die aktive Sterbehilfe zulässt, die Gefahr herauf, dass der uneingeschränkte Schutz des Lebensrechts aller Menschen noch an weiteren Stellen gelockert wird. Die Befürchtung, dass die ursprünglich intendierte enge Begrenzung nicht durchgehalten werden kann, erscheint nahe liegend.

Darüber hinaus besteht die noch größere Gefahr, dass sich in dem von der Gesetzgebung geschaffenen Klima sterbende Patienten als Last für ihre Umgebung empfinden und sich deshalb zu der Äußerung der Bitte um Lebensbeendigung genötigt fühlen. Gerade die letzte Sendung „Report Mainz“ vom 2. Juni 2003 hat deutlich gemacht, welche Überlegungen zur Altersbegrenzung für medizinische Leistungen inzwischen kursieren. Solchen Tendenzen ist frühzeitig zu begegnen.

Mit Dankbarkeit nehme ich wahr, dass sich auch die deutsche Ärzteschaft immer wieder neu für Sterbebegleitung, aber gegen aktive Sterbehilfe einsetzt. Dies hat sich u.a. in den "Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung" von 1998 niedergeschlagen und wurde jetzt auf dem letzten Ärztetag in Köln am 22. Mai 2003 erneut bekräftigt.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Fall Diane Pretty vom 25. April 2002 hat außerdem verdeutlicht, dass die Europäische Konvention für Menschenrechte die Verpflichtung für die Staaten enthält, das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger in bedrohlichen Situationen zu schützen, gerade wenn sie schwach und verletzlich sind.

Aktive Sterbehilfe ist aus christlicher Sicht abzulehnen, doch gibt es andere Möglichkeiten, beim Sterben zu helfen. Hier kommt in erster Linie der Möglichkeit, Vorausverfügungen für das Ende des Lebens in Form von Patienten-, Vorsorge- oder Betreuungsverfügungen auszustellen, eine besondere Bedeutung zu. Die Kirchen haben hier mit der Veröffentlichung der Christlichen Patientenverfügung einen Beitrag geleistet Darüber hinaus müssen die Hospizbewegung sowie die Intensivierung der schmerzlindernden und auf Versorgung konzentrierten Medizin (Palliativmedizin) nachdrücklich unterstützt und gefördert werden, denn sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Ermöglichung menschenwürdigen Sterbens.

6.  Schluss
Ich komme zum Schluss. Die bioethische Debatte muss und wird weitergehen. Die nächste kontroverse Streitfrage wird voraussichtlich die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sein. Neben der notwendigen Auseinandersetzung mit den von den Naturwissenschaften eingebrachten neuen Interpretationen ihrer Erkenntnisse ist es wichtig, sich immer wieder neu auf die Leitlinien christlicher Argumentation zu beziehen und sie in der Diskussion stark zu machen.

Das Verständnis des Menschen, für das die Evangelische Kirche in den Herausforderungen unserer Zeit eintritt, ist geprägt von der Zuversicht des christlichen Glaubens, dass die in Jesus Christus Mensch gewordene Liebe Gottes größer ist als alles, was den Menschen und die Welt gefährdet. Und das gilt auch angesichts der Gefährdungen, die vom Menschen selbst ausgehen. Deswegen ist im Blick auf die Zukunft unsere Hoffnung für den Menschen stärker als unsere Angst vor dem Menschen und um den Menschen.