Gott ist ein Freund des Lebens

V. Bereiche besonderer Verantwortung für den Schutz des Lebens

Das Leben ist uns allen anvertraut. Jede Frau und jeder Mann, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nicht zuletzt auch die Kirchen können an ihrem Ort und im Maße ihrer Möglichkeiten zu einem wirksamen Schutz des Lebens beitragen. Vor diesem Hintergrund sollen in Kürze einige Bereiche hervorgehoben werden, in denen die Verantwortung für den Schutz des Lebens heute in besonderer Weise herausgefordert ist.

1. Erziehung

Die Gabe des Lebens läßt sich vom Menschen nur wirkungsvoll bewahren, wenn die Schutzwürdigkeit und die Schutzbedürftigkeit dieser Gabe erkannt und auf der Grundlage einer so gebildeten Einstellung dann im Handeln respektiert werden. Darum muß Erziehung - heute erst recht - Hinführung zur Achtung vor dem Leben und zur Bejahung des Lebens, auch des eigenen, sein. Es ist richtig: Viele Gefährdungen des Lebens resultieren aus Entwicklungen und Faktoren, denen sich einzelne ohnmächtig ausgeliefert sehen. Tendenzen der neuzeitlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation, wirtschaftliche Interessen oder Strömungen des Zeitgeistes erscheinen und sind oft mächtiger als der subjektive Wille und die subjektive Fähigkeit, die Unverfügbarkeit jedes menschlichen Lebens und die natürlichen Grundlagen des Lebens insgesamt zu respektieren. Gleichwohl - auch diese überindividuellen Entwicklungen und Faktoren entstehen aus den Einstellungen der an ihnen beteiligten Menschen und verändern sich mit ihnen. So ist der Schutz des Lebens in besonderem Maße auf die Kräfte angewiesen, die in der Erziehung gebildet und freigesetzt werden.

Erziehung zur Achtung vor dem Leben und zur Bejahung des Lebens beginnt bei der Anleitung, das Wunder des Lebens vertieft wahrzunehmen. Es war schon davon die Rede (S. 28-30), daß das Staunen über die Ordnung, innere Zweckmäßigkeit und Schönheit der Gabe des Lebens kein flüchtiges Gefühl bleiben darf, sondern gelernt werden muß. Erziehung hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, den Grund zu legen für eine Einstellung, die dem Leben mit Dankbarkeit, Ehrfurcht und Barmherzigkeit begegnet. Das schließt ein, verzichten zu lernen, um Leben zu erhalten. Darüber hinaus wird die Erziehung immer auch in altersgemäßer Weise die Konflikte aufgreifen und bearbeiten müssen, in denen die Konsequenzen aus der Verpflichtung, Leben zu schützen, strittig sind. Weil die Fragen des Schutzes des Lebens unweigerlich in Auseinandersetzungen hineinführen, dürfen schließlich in einer Erziehung zur Achtung vor dem Leben Mut und Zivilcourage als Erziehungsziele nicht fehlen. Eine lebensfreundliche und lebensbewahrende innere Einstellung nützt solange wenig, wie es an der Fähigkeit mangelt, Streit zu führen, Konflikte durchzustehen und auch persönliche Opfer auf sich zu nehmen.

Das Feld einer Erziehung zur Achtung vor dem Leben ist weit. Grundlegend ist die erzieherische Arbeit der Familie. In zunehmendem Maße wird es dabei wichtig, aus der Fülle der Möglichkeiten (z.B. Kinder- und Jugendbücher, Medien, Spiel- und Freizeitangebote, Museen) eine überlegte Auswahl zu treffen. Hilfreich sind alle Bemühungen, Kindern, besonders aus dem städtischen Raum, neue Zugänge zu den kreatürlichen Lebensvorgängen zu schaffen und dabei ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen. Gerade den Kirchen, die in Kindergärten, kirchlichem Unterricht, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, aber auch im Gottesdienst vielfältige Einflußmöglichkeiten besitzen, fällt für die Erziehung zur Achtung vor dem Leben eine besondere Verantwortung zu. Solche Erziehung ist immer zugleich Gewissensbildung. Die Christen sind in ihrem Erziehungshandeln von der Überzeugung geleitet, daß das menschliche Gewissen auf Gottes Schöpferwillen und seine Verheißung bezogen ist.

2. Medien

Die Druckmedien und vor allem die elektronischen Medien haben in unserer Gesellschaft eine wachsende Bedeutung. Fernsehsendungen erreichen häufig ein Millionenpublikum. Um so verantwortungsvoller muß die Tätigkeit der Menschen sein, die Druckerzeugnisse und Sendungen der elektronischen Medien vorbereiten. Es gibt zahlreiche Beispiele, daß eine engagierte und kritische Berichterstattung Gefährdungen des Lebens aufgedeckt und wirksame Maßnahmen zum Schutz des Lebens vorangebracht hat.

Daneben stehen allerdings höchst bedenkliche Beispiele dafür, wie Sensationsberichterstattung und die Befriedigung des Interesses an Nervenkitzel und "spannender" Unterhaltung lebensfeindlichen Kräften und Tendenzen Auftrieb geben. Zumal die Konkurrenz unter den verschiedenen Anbietern erweist sich als eine Versuchung, kommerziellen Erfolg auch um den Preis der Sachgemäßheit der Darstellung und der Achtung vor der Würde des Menschen anzustreben. Wer Sendungen in den elektronischen Medien oder Beiträge in den Druckmedien herstellt und verbreitet, steht in der Verantwortung, sich sorgfältig Rechenschaft darüber zu geben, was dadurch in den Köpfen und Herzen vor allem von Jugendlichen und labilen Menschen ausgelöst werden kann.

Was die Medien anbieten, spiegelt im übrigen auch wider, wonach Benutzer und Konsumenten verlangen. Die Verantwortung für das, was im Medienbereich zur Verstärkung oder zur Schwächung des Schutzes des Lebens geschieht, muß somit von allen erkannt und getragen werden, die gestaltend oder nutzend beteiligt sind. Dazu gehört es auch, gegenüber Sendeanstalten, Verlagen oder Autoren nicht zu schweigen, wenn in einem Medienbeitrag lebensfeindliche Tendenzen erkennbar sind.

3. Rechtsordnung

Die Rechtsordnung hat für das Zusammenleben der Menschen eine unverzichtbare Bedeutung. Ihre Grundfunktion besteht darin, Leben zu schützen. Wir leben in einem Staat, der nach den Erfahrungen der Perversion des Rechts als demokratischer Rechtsstaat errichtet worden ist, und haben Grund, die Verfassung dieses Staates, die seine demokratische Organisation und die rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien gewährleistet, dankbar anzuerkennen und für die Wahrung der geltenden Rechtsordnung einzutreten.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltanschaulich neutraler, aber kein wertneutraler Staat. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat und alle seine Organe auf normative Grundsätze, in deren Mittelpunkt die Würde des Menschen steht. Unsere Rechtsordnung bekennt sich damit zu den unveräußerlichen Menschenrechten. Die weltanschauliche Neutralität des Staates bedeutet, daß die Wertordnung der Verfassung von den Bürgern auf unterschiedliche Weise religiös und weltanschaulich begründet werden kann. Deshalb können sittliche Grundsätze, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben und für uns als Christen verbindlich sind, nicht ohne weiteres den Staat und seine Rechtsordnung verpflichten. Als Christen müssen wir uns vielmehr auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und auf die konkreten Vorschriften unserer Rechtsordnung stützen, aber zugleich argumentativ für unsere Grundsätze eintreten, um sie nach Möglichkeit konsensfähig zu machen.

In der gegenwärtigen Situation zeigt sich, daß zwischen den Folgerungen aus unserem Glauben einerseits und den Vorschriften der staatlichen Rechtsordnung andererseits in vielen Fragen eine Deckungsgleichheit besteht. Deshalb können Christen und Nichtchristen, auch wenn sie von unterschiedlichen Grundauffassungen her denken und leben, in unserem Staat weite Wegstrecken miteinander gehen.

Wir dürfen allerdings nicht aus dem Auge verlieren, daß staatliche Regelungen sowohl mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen als auch mit den aus unserem Glauben gewonnenen sittlichen Prinzipien in Widerspruch treten können. Ein Beispiel dafür ist die staatlich angeordnete Ermordung sogenannten "lebensunwerten Lebens" unter der Herrschaft des Nationalsozialismus; damals sind Christen, allerdings zu wenige, dem staatlichen Handeln unter Hinweis sowohl auf Gottes Gebot als auch auf allgemeingültige Rechtsgrundsätze entgegengetreten.

Unser Staat muß seiner Verpflichtung zum Schutz des Lebens mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nachkommen. Es ist eine vornehme und wahrhaft humane Pflicht aller staatlichen Organe - der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Verwaltung auf allen Ebenen -, sich schützend vor das Leben zu stellen und zu einem Klima beizutragen, in dem das menschliche Leben als oberstes Rechtsgut begriffen und bejaht wird. Wenn der entscheidende Kern unserer verfassungsmäßigen Ordnung ernstgenommen wird, ist es das Ziel aller staatlichen Tätigkeit, immer bessere Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen. Hier sind in besonderem Maße Erfindungsreichtum und Phantasie gefragt.

Die bindende Verpflichtung des Staates zum Schutz des Lebens ist auf allen Rechtsgebieten, namentlich dem Zivil-, Sozial- und Steuerrecht, zu erfüllen. Der Staat darf auch auf das Strafrecht als eines der rechtlichen Instrumente nicht verzichten. Dem Schutz des Lebens dienen auch Rechtsvorschriften, die den Behörden und den Bürgern ein bestimmtes Handeln auferlegen oder untersagen. Wir sind zur Bewahrung des Lebens auf einen wirksamen Rechtsschutz angewiesen - im Blick auf die Umwelt ebenso wie im Blick auf das geborene und ungeborene menschliche Leben.

4. Forschung, Technik, Wirtschaft

Um neue Wege zu einem verbesserten und wirksameren Schutz des Lebens zu erkunden, ist Forschung notwendig. So einleuchtend dieser Grundsatz ist, so schwerwiegend sind die Probleme, die sich im Einzelfall auftun. So ist es bei der medizinischen Forschung ein Grundproblem, vor wem sich eine Forschung, die ihren therapeutischen Nutzen nachweisen will, rechtfertigen muß: vor den Belangen der wissenschaftlichen Forschung oder vor dem kranken Menschen, der jetzt oder später das Ergebnis der Forschung braucht. Aus Hilfe kann Manipulation werden, indem

  • die Freiheit des Patienten bzw. der Versuchsperson dem Ziel der Forschung untergeordnet wird,
  • Erkenntnisgewinn nicht mehr dem aktuellen oder möglichen Kranken dient, sondern zum Selbstzweck wird oder aus forschungsstrategischen und wirtschaftlichen Interessen heraus angestrebt wird oder
  • die Abwägung von Chancen und Risiken einseitig zugunsten des wissenschaftlichen Fortschritts geschieht.
  • Mit diesen Bedenken soll die medizinische Forschung nicht abgelehnt, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, daß die Belange des Menschen - der Schutz der menschlichen Würde, das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf eine wirksame medizinische Versorgung - in die Forschung integriert werden müssen.

In einzelnen Bereichen kann es sich als notwendig erweisen, die Forschung durch Gesetze und staatliche Vorschriften zu regulieren. Die Freiheit der Forschung kann gegen solche eingrenzenden Vorschriften nicht ins Feld geführt werden. Die Freiheit eines Forschers verwirklicht sich auch in der Selbstbeschränkung, zumal dort, wo ethische Grenzen berührt werden.

Gegenwärtig ist eine Stimmung des grundsätzlichen Mißtrauens gegen Wissenschaft und Technik und gegen die von ihnen bestimmte industrielle Produktionsweise weit verbreitet. Sie hat ihren Anhalt an einer Reihe von konkreten Unglücksfällen wie auch an der keineswegs gebannten Entwicklung, die Natur als bloßes Objekt zu betrachten und der menschlichen Verfügung mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik immer weiter zu unterwerfen. Wie bereits ausgeführt (S. 32-34) ist es Auftrag des Menschen, die Erde zu "bebauen" und zu "bewahren". Wissenschaft und Technik sind Mittel, die die Tendenz haben, eine unkontrollierte Eigendynamik zu entfalten und den Gang der Entwicklung selbst zu diktieren. Natur wird dabei zur bloßen Ressource für eine Nutzenmaximierung zugunsten der Menschen - und sogar nur der gegenwärtigen Generation - degradiert.

Demgegenüber ist es heute geboten, die natürliche Umwelt als Mitwelt zu entdecken. Eine solche Einstellung verlangt Sensibilität und Phantasie für das Leben, den Entwurf lebenschonender Technologien und ein Wirtschaften, in dem der Schutz des Lebensraums Erde als ein Grundelement neben Arbeit und Kapital Berücksichtigung findet. Es hat sich als ein verhängnisvoller Irrglaube erwiesen, daß der technisch-wirtschaftliche Fortschritt alle Probleme beseitigen könne. Gefordert ist die Anstrengung, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft verantwortungsvoll zu nutzen. Dazu gehört, ihrer Entwicklung eine Abschätzung der Folgen ihres Einsatzes an die Seite zu stellen, um die ökologischen und sozialen Auswirkungen im vorhinein mit zu berücksichtigen. Darum ist eine größere Öffentlichkeit im Blick auf wissenschaftliche und wirtschaftliche Zielsetzungen nötig.

Die Verantwortung von Kirche und Christen gegenüber Forschung, Technik und Wirtschaft - wie auch gegenüber Medien, Recht und Politik insgesamt - findet im übrigen ihren Ausdruck nicht allein und nicht einmal in erster Linie darin, daß sie in diese Bereiche hineinsprechen. Ungleich wirkungsvoller als ein solches Reden von außen ist das Tätigsein von Christen in den genannten Bereichen. So kommt es darauf an, Menschen Mut zu machen, Last und Chance solchen Tätigseins nicht den anderen zu überlassen, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. Es wäre verhängnisvoll, wenn diejenigen jungen Menschen, die eine besondere Sensibilität für die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des Lebens zeigen, bei der Wahl von Ausbildung und Beruf die Bereiche von Forschung, Technik und Wirtschaft mieden und statt dessen etwa die sozialen oder unmittelbar auf den Umweltschutz bezogenen Tätigkeitsfelder bevorzugten. Gerade dort, wo im Umgang mit Leben Konflikte entstehen und Fragen gestellt bzw. offengehalten werden müssen, werden Menschen benötigt, die die Last dieser Verantwortung nicht scheuen.

5. Gesundheit

Gesundheit und Krankheit gehören zu den elementaren Erfahrungen von Menschen. Das Erleben von körperlicher und seelischer Gesundheit und von Störungen durch Krankheit ist individuell sehr verschieden. Gesundheit ist für alle Menschen, die gesund geboren werden, ein Geschenk, für dessen Erhaltung jeder auch persönlich verantwortlich ist und sich einsetzen muß. In der Gegenwart richten sich das persönliche Interesse sowie der diagnostische und therapeutische Einsatz vor allen Dingen auf das Bekämpfen und Beseitigen von Krankheit.

Die Erhaltung seiner Gesundheit und die Verwirklichung seiner Lebenschancen hängen für den einzelnen Menschen freilich nicht nur von seinen eigenen Möglichkeiten ab, sondern ebenso von den äußeren Verhältnissen, denen er ausgesetzt ist. Er braucht Schutz und Hilfe in der Familie, in der Nachbarschaft, von Arbeitskollegen und durch staatliche und kirchliche Einrichtungen, Krankenkassen, Ärzte und Krankenhäuser. Die Entwicklung der letzten Jahre hat zu einer eher passiven Grundeinstellung zur eigenen Gesundheit und damit zu einer überhöhten Erwartungshaltung gegenüber der Hilfe von außen geführt. Nicht wenige denken, jede Störung, jede Krankheit müßte eigentlich beseitigt werden können, ohne selbst viel dazu tun zu müssen. Der Kranke ist dann nicht aktiver Partner im Kampf gegen die Krankheit, sondern das Maß der diagnostischen Maßnahmen, der therapeutischen Anwendungen und der lebensverlängernden Möglichkeiten wird von Ärzten und vorn Pflegepersonal bestimmt. Erst in letzter Zeit beginnt aufseiten der Patienten und der Ärzte ein Prozeß des Umdenkens, der zum Ziel hat, mehr als bisher den ganzen Menschen in diagnostische und therapeutische Entscheidungs- und Vorgehensweisen einzubeziehen. Das bedeutet aber auch, individuelle, altersgemäße und psychische Prägungen und Grenzen anzuerkennen.

Zwei Gesichtspunkte sind im Blick auf eine Stärkung der persönlichen Verantwortung für die Gesundheit besonders zu beachten:

  • Es muß alles getan werden, um die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten nach Möglichkeit zu vermeiden. Dazu tragen bei eine gesunde und ausgeglichene Lebensführung, bewußte Ernährung, Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen. Leider ist die Zahl der Menschen, die Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, in den letzten Jahrzehnten stark gesunken. Immer mehr Menschen werden abhängig von Alkohol, Nikotin, Medikamenten, Drogen und zuviel Nahrungsaufnahme und schaden damit ihrer Gesundheit. Die Errungenschaften der Medizin sowie das immer, diffizilere Wissen um die Entstehung und Therapie von Krankheiten werden in steigendem Maße eine bedeutende Hilfe im Kampf gegen Krankheiten darstellen. Aber auch jeder einzelne kann im Blick auf eine Reihe von Krankheiten (z. B. Bluthochdruck, Diabetes, Herzerkrankungen) krankmachende Faktoren durch eine gesunde Lebensführung vermeiden. Die Negierung des Wertes des eigenen Körpers, Nachlässigkeit und Trägheit erschweren eine bewußte und verantwortliche Lebensführung.
  • Auch bei intensiver Sorge für die Gesundheit bleibt sie ein Geschenk, dessen niemand sicher sein kann. Behinderungen und Krankheiten können bleibende Beeinträchtigungen der Lebensumstände und der Lebensführung zur Folge haben. In vielen Fällen kommt es darauf an, die Fähigkeit zu erwerben, mit Einschränkungen zu leben. Zu unserer Lebenswirklichkeit gehören zahlreiche Menschen, die teilweise oder auf Dauer Einschränkungen ihrer körperlichen oder psychischen Funktionen erleben. Manche sehen darin einen unverdienten Schicksalsschlag oder eine Benachteiligung anderen gegenüber und leiden unter der dauernden Enttäuschung, daß sie die Krankheit und ihre Folgen nicht loswerden. Christen wissen um den verborgenen Segen auch von Krankheit und Leid. Sie müssen sich der Not dieser Menschen diakonisch und seelsorgerlich annehmen, weil die Bewältigung der Einschränkungen Tag um Tag neu geleistet werden muß. Nicht durch passive Ergebung, sondern durch aktive Annahme, die auch den Protest einschließen kann, können und sollen die Betroffenen die ihnen widerfahrenen Einschränkungen bewältigen.

Der Stärkung der persönlichen Verantwortung für die Gesundheit müssen allerdings entschlossene und durchgreifende politische Maßnahmen zur Abwehr gesundheitlicher Gefährdungen an die Seite treten. Auch ein persönlich verantwortungsvolles Verhalten kann die Schäden nicht ausgleichen, die etwa ungesunde Arbeitsplatzbedingungen, Risiken im Verkehr oder Störungen bzw. Zerstörungen der natürlichen Lebensgrundlagen hervorrufen. Die Aufgabe, vorsorgend die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten nach Möglichkeit zu vermeiden, hat insofern neben der individuellen auch eine gesellschaftliche Dimension.

Alle sind überdies in der Wahrnehmung ihrer persönlichen Verantwortung für die Gesundheit angewiesen auf ein funktionsfähiges Gesundheitswesen. Es muß sich auch darin bewähren, daß es auf neu erwachsende Herausforderungen wie etwa die zunehmende Pflegebedürftigkeit im Alter eine Antwort findet. Auf der Ebene des Gesundheitswesens bestehen je spezifische Verantwortlichkeiten, besonders für die Gesundheitspolitik, die Pharmaindustrie, die Krankenkassen, die Ärzte und das Pflegepersonal.

Ein spezielles Problem, das sich in jüngster Zeit erheblich zugespitzt hat, ist die Finanzierung des Gesundheitswesens. Im Zusammenhang dieser Schrift können die komplexen Sachverhalte dieses Themas nicht erörtert werden. Sicher ist, daß auch hier der Aspekt der persönlichen Verantwortung jedes und jeder einzelnen eine Rolle spielt. Wer Leistungen in Anspruch nimmt, nur weil er Versicherungsbeiträge bezahlt, stellt das Grundprinzip der Krankenversicherung als einer Solidargemeinschaft in Frage. Feststeht aber ebenso, daß tiefgehende strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen erforderlich sind. Sie dürfen freilich nicht zu Lasten bestimmter einzelner Kranker oder Gruppen wie etwa der Behinderten erfolgen.

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