Gott ist ein Freund des Lebens

VI.3. Behindertes menschliches Leben

  1. Schatten der Vergangenheit

    Lange bestand eine unzureichende Kenntnis über den behinderten Menschen, insbesondere auch über Ursachen, Bedeutung und Folgen von gesundheitlichen Störungen. So wurde den Behinderten weithin ihre Personalität abgesprochen, was ihr Leid durch schlimme Kränkungen vergrößerte. Erst in einem mühsamen Lernprozeß ist die Annahme behinderter Menschen vorangekommen, und dieser Lernprozeß dauert noch heute an. Auch in der Geschichte der Kirche gab es immer wieder eindrucksvolle Gestalten und vorbildliche Einrichtungen, durch die Menschen mit körperlichen und seelischen Gebrechen fördernde Zuwendung, ganzheitliche Pflege und sorgfältige Heilbehandlung erfuhren. Beispielhaft genannt seien hier Johannes von Gott (1495 bis 1550), weit über Spanien hinaus wirksamer Reformator der "Irrenbehandlung" und Stifter des "Hospitalordens", sowie Friedrich von Bodelschwingh (1831 bis 1910), vielseitiger Förderer der Sorge für Behinderte, insbesondere durch den Ausbau der Epileptiker-Anstalt "Bethel" bei Bielefeld. Unbestreitbar haben die Kirchen viel getan, um den Behinderten einen anerkannten und geschützten Platz in der menschlichen Gesellschaft zu sichern.

    Selbstkritisch ist aber zu fragen, warum sich die Kirchen nicht insgesamt früher und entschlossener gegen das verbrecherische Euthanasieprogramm und gegen die Zwangssterilisierungen nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" der Nazi-Diktatur gewandt haben. Wir müssen im Rückblick erkennen, daß auch in einer Anzahl kirchlicher Einrichtungen Menschen mitschuldig geworden sind. Dabei standen die Verantwortlichen der Heime gewiß vor schwierigen Entscheidungsfragen, etwa wenn sie durch die Zustimmung zur Zwangssterilisierung Behinderter deren Entlassung und so ihr Überleben zu erreichen hofften. Vor Versäumnissen und Versagen dürfen wir nicht die Augen verschließen; nur ein geschärfter Blick für unsere eigenen Schwächen macht uns fähig zur Verantwortung gegenüber den Schwachen und Hilflosen unter uns. Dies gilt um so mehr, als heute erneut Stimmen laut werden, die den Gedanken einer am vermeintlichen Wert oder Unwert von Menschen orientierten "Euthanasie" befürworten und mit dieser überwunden geglaubten Position viele Behinderte und ihre Angehörigen mit Schrecken erfüllen.

  2. Behinderungen - ein Teil unserer Lebenswirklichkeit

    Schwäche und Hilflosigkeit gibt es in vielfältiger Form, wenn auch körperliche, seelische und geistige Behinderungen, zumal bei extremen Beeinträchtigungen, eine besondere Herausforderung darstellen. "Behinderung" ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Beeinträchtigungen: Eine geistige Behinderung stellt vor völlig andere Aufgaben als eine körperliche Behinderung; eine psychische Erkrankung kann den Mitmenschen auf weite Strecken verborgen bleiben; so darf die zusammenfassende Frage nach Behinderungen als einem Teil unserer Lebenswirklichkeit nicht dazu führen, die notwendigen Differenzierungen nach Art und Grad der Behinderung zu versäumen.

    Gesundheit kann immer gestört sein; je stärker Menschen von solchen Störungen beeinträchtigt sind, um so mehr schulden wir ihnen Unterstützung und Zuwendung und - soweit dies möglich ist - spezielle Heilbehandlung und Betreuung. Dankbar stellen wir fest, daß die Mehrzahl der Behinderten mit einer großen Liebe und oft unter größtem Einsatz von ihren Eltern und Geschwistern in den Familien betreut und gepflegt werden. Die Angehörigen spüren die Belastung, und sie müssen nicht geringe Opfer bringen; aber indem sie im unmittelbaren Austausch Anteil nehmen an Freude und Angst, Glück und Schmerz, entwickeln sie ein intensives Verständnis für alles wahrhaft Menschliche und erfahren so auch eine Bereicherung. Damit die Familienmitglieder nicht überfordert werden, brauchen sie spontane und regelmäßige Hilfe aus dem weiteren Kreis nicht nur der Verwandtschaft, sondern auch der Nachbarschaft und Gemeinde. Oft können sie die Behinderten nur bei sich behalten, weil unterstützende Dienste und Tageseinrichtungen sie entlasten. Die Kirchen wissen sich in der Pflicht, weiterhin einen wesentlichen Beitrag zu leisten, damit die erforderlichen Voll- und Teilzeiteinrichtungen, z.B. Werkstätten für Behinderte, Tagesstätten, Sonderkindergärten und -schulen, verfügbar sind. Damit die vielfältigen Angebote erhalten und weiter entwickelt werden können, ermutigen wir junge Menschen zum Dienst an Behinderten in Heimen und offenen Einrichtungen.

  3. Bedrohung und Benachteiligungen von behinderten Menschen

    Behinderte können sich oft weder als Kinder noch als Erwachsene in Familie und Gesellschaft angemessen beteiligen und durchsetzen. Dies bedeutet eine erhebliche Schwierigkeit, zumal in einer Gesellschaft, die wie unsere in weiten Bereichen auf dem Prinzip der Konkurrenz ihrer Glieder untereinander aufbaut. So wird behindertes Leben ein vielfältig bedrohtes und benachteiligtes Leben. Dies gilt vor allem in folgender Hinsicht:

    • Immer dann, wenn das soziale Klima der Gesellschaft strapaziert erscheint, droht Behinderten, daß sie als Belastung in Mißkredit geraten. Auch wenn der Staat bei allgemeinen Sparmaßnahmen die Zuschußmittel für Behinderte und deren Einrichtungen nicht kürzt, kann dies spürbar werden. Das sozial-kommunikative Klima, in dem Behinderte leben, ist für sie von noch größerer Bedeutung als die materiellen Hilfsmittel, die für sie bereitgestellt werden.
    • Auf die Inhalte und Methoden pädagogischer und therapeutischer Initiativen für Behinderte wird - manchmal unbemerkt - die Erwartung übertragen, es könne erreicht werden, was allgemein als "normal" gilt. Der behinderte Mensch bedarf dagegen einer Förderung nach Maß und Art seiner Behinderung. Behinderte, vor allem geistig Behinderte brauchen einen Ort zum Leben, an dem sie nicht schon deshalb Sanktionen ausgesetzt sind, weil sie nicht sind wie die anderen.
    • Behinderte bedürfen verschiedenster Weisen der Betreuung. Darin liegt immer auch die Gefahr von Überbehütung und Abhängigkeit. Stellvertretung und Eingriffe in die Selbstbestimmung müssen so zurückhaltend wie nur möglich ausgeübt werden. Auch bei schweren Behinderungen sind alle Möglichkeiten der Stimulierung zu Aktivität und Eigeninitiative einzusetzen.
    • Noch immer sind Behinderte verständnislosen Vorurteilen und einer fast instinktiven Abwehr ausgesetzt, die erst durch Erfahrungen gemeinsamen Lebens oder durch wechselseitige Erlebnisse zwischen Behinderten und Nichtbehinderten aufgelöst werden können. Daher begrüßen wir alle Versuche, durch unmittelbares Erleben ein tieferes Verstehen für die Eigenart von Denken und Verhalten Behinderter zu gewinnen. Damit soll nicht bestritten werden, daß es Formen unbeherrschbarer Aggressivität und Autoaggression gibt, die entsprechende Schutzmaßnahmen notwendig machen.

    Die Eltern behinderter Kinder tragen trotz der Erleichterungen, die durch den Staat oder auf andere Weise gewährt werden, weitere erhebliche Belastungen. Es ist ein Gebot der Solidarität, daß die gesunden und leistungsfähigen Glieder der Gesellschaft für wesentlich größere Entlastungen aufkommen, als dies bisher geschieht.

  4. Behinderung als langsam entstehende Gewißheit, als Schock, als Kränkung

    Die Konfrontation mit einer Behinderung wird verschieden erlebt. Wenn sich im Verlauf einer Krankheit herausstellt, daß die Folge eine bleibende Behinderung sein wird, besteht am ehesten die Möglichkeit einer helfenden Begleitung. Der von der Behinderung betroffene Mensch und seine familiäre Umgebung können sich darauf einstellen, entsprechende Hilfestellung in Anspruch nehmen und ihr Leben in der Zukunft entsprechend anders gestalten.

    Schwieriger stellt sich die Situation dar, wenn eine Behinderung durch einen schweren Unfall und damit plötzlich verursacht wird. Manchmal wird das Überleben dankbar als Geschenk Gottes empfunden; aber eine Lähmung auf Dauer und die damit verbundene völlige Pflegebedürftigkeit können besonders bei jüngeren Menschen sowohl den Betroffenen wie seine Angehörigen wie ein heilloser Schock treffen. Hier ist spürbare Hilfsbereitschaft notwendig, wenn der Wille zum Leben die Eigenkräfte zunehmend und auf Dauer wieder wecken soll.

    Vor eine Herausforderung anderer Art werden Eltern durch die Geburt eines behinderten Kindes gestellt. Die Frage quält, was die Behinderung mit ihnen, ihrer Gesundheit oder ihrem Verhalten zu tun habe. Sie sind ratlos angesichts einer ungewissen Zukunft und fürchten eine zunehmende Bindung ihrer Kräfte, oft gerade in einer Zeit des Aufbaus eines Familienlebens. Wenn Bekannte ihnen unbefangen zum "glücklichen Ereignis" gratulieren möchten und sie ihnen ihr Leid erklären müssen, überfällt sie Bitterkeit. All dies kann zur tiefen Kränkung ihres Lebensgefühls werden. In solcher Situation brauchen Eltern Begegnungen, aus denen sie das Leben auch ihres behinderten Kindes bejahen und als einen Wert in sich und für sie zu begreifen vermögen. Wenn sie Unterstützung und einfühlsame Anerkennung finden, werden sie am ehesten in der Lage sein, dem Kind ihre Liebe zu widmen und die Sorge um das Kind in ihre Lebensperspektive zu integrieren. Daher bitten wir die Christen, insbesondere die jungen Familien angesichts solcher Nöte den Betroffenen beizustehen und aus der Liebe Christi die Last miteinander zu tragen.

    Die Auseinandersetzung mit der Behinderung ist für den behinderten Menschen selbst wie für seine Angehörigen sehr häufig mit der Theodizee-Frage verbunden: Wie kann Gott das zulassen? Warum bin gerade ich, warum sind gerade wir betroffen? Diesen Fragen läßt sich nur standhalten, wenn dem darin zum Ausdruck kommenden Schmerz und der damit verbundenen Anklage gegen Gott Raum gegeben wird und auf vorschnelle Antworten verzichtet wird. Der Versuch einer Antwort kann wohl immer nur das Ziel haben, deutlich zu machen: Gott liebt jeden einzelnen Menschen unabhängig von seiner körperlichen Verfassung; Gott will auch den Behinderten, er Will nicht die Behinderung. Auf diese Weise wird vielleicht ein Beitrag geleistet werden, damit ein behinderter Mensch und seine Angehörigen die gegebene Lebenssituation bejahend annehmen können.

  5. Zur Akzeptanz behinderter Menschen

    Behinderung ist eine Provokation, eine Anfrage an unser Lebensverständnis: Haben wir ein Bild vom Menschen, das über Vitalität, Gesundheit und Erfolg hinausreicht? Können wir unser Leben trotz Schwachheit und Gefährdung als Geschenk betrachten? Gewiß ist anzuerkennen, daß sich seit einiger Zeit sehr viele Menschen in Kirche und Gesellschaft um die Behinderten mühen. Dies hat zu einer größeren Akzeptanz der Behinderten geführt; dennoch gilt dies nicht überall, und es bleiben Unsicherheiten. Wie soll sonst auf einen Nenner gebracht werden, daß die "Aktion Sorgenkind" von einer breiten Öffentlichkeit mitgetragen und gleichzeitig die "eugenische Indikation", also die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs aufgrund einer schweren gesundheitlichen Schädigung des ungeborenen Kindes, weithin beansprucht wird? Der Staat setzt heute Mittel für Behinderte ein in einem Umfang wie noch nie zuvor. Aber die finanziellen Leistungen des Staates allein können dem Behinderten nicht das Gefühl des Angenommenseins geben. Uns allen ist die Aufgabe gestellt, zur Akzeptanz behinderter Menschen beizutragen. So benötigen, auch wenn andere Berufe attraktiver sind, die Behinderteneinrichtungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Einrichtungen sind in ihrer Arbeit von einer menschenfreundlichen Einstellung gegenüber den Behinderten abhängig.

  6. Zur Integration behinderter Menschen

    Behinderte Menschen sind in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Weise gehindert, ihr Leben aktiv und eigenverantwortlich zu gestalten. Darum sollen ihnen alle Hilfen zuteil werden, mit deren Einsatz die Behinderung teilweise ausgeglichen und ihre Fähigkeiten verbessert werden können. Hier sind spezielle Einrichtungen und spezialisierte Unterstützung gefordert. Jedoch ist auch die Integration von Behinderten in ihrer sozialen Umgebung erstrebenswert: denn sie sollen in die Lage versetzt werden, soweit wie nur irgend möglich ihr Leben als Menschen unter anderen Menschen zu führen. Integration zielt immer darauf, gemeinsam zu leben und zu lernen.

    Der erste Schritt zur Integration geschieht in der Familie und von ihr aus im unmittelbaren sozialen Umfeld. Eltern brauchen also die ersten Anregungen für einen entsprechend fördernden Erziehungsstil. Ein entscheidendes Moment für die Integrationsfähigkeit ist eine gute Frühförderung, angepaßt an die jeweilige Behinderung; die Förderung ist sowohl im medizinischen wie im (sonder)pädagogischen Bereich erforderlich. Dabei ist im Blick auf die einzelnen Behinderungen zu differenzieren: Bei Blinden sind Integrationsversuche durch frühe Orientierungshilfen besonders erfolgreich; schwieriger ist es bei Gehörlosen, deren Kommunikationsfähigkeiten sorgfältig erkundet und geübt werden müssen, damit sie nicht vollständig auf Dolmetscherhilfen angewiesen bleiben. Im übrigen hängt die Integration von Körper- und Geistesbehinderten vom Schweregrad ihrer Störungen ab.

    Die Integration im Schulbereich ist zu fördern, soweit nicht die behinderten Kinder eine spezifisch auf sie abgestellte Förderung nötig haben und die Entwicklung der nichtbehinderten Kinder durch die besondere Zuwendung zu den Behinderten gefährdet würde. Der Wunsch vieler Eltern nach Integration ihrer behinderten Kinder, besonders im gemeinsamen Kindergarten, verdient Unterstützung. Insgesamt muß auch hier vom Wohl des Kindes her gedacht werden. Um unbedachte Vorstellungen abwehren zu können, sollte die Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule und außerschulischer Beratung verstärkt werden.

    Die Frage der Integration wird besonders wichtig, wenn Behinderte als junge Erwachsene in das Arbeitsleben eintreten. Hier ist zu unterscheiden zwischen einer Tätigkeit in beschützenden Werkstätten und einer Tätigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt. Es gibt inzwischen ein ausgebautes System von Behindertenwerkstätten; diese sollten für körperlich und psychisch Behinderte in größerer Zahl eingerichtet werden; denn wir bleiben auch auf fürsorgerische Maßnahmen angewiesen, um Behinderte am Arbeitsleben teilhaben zu lassen. Auf dem freien Arbeitsmarkt wird die Eingliederung von Behinderten ins Arbeitsleben zunehmend durch gutgemeinte, aber zu weitgehende Schutzvorschriften bzw. arbeitsrechtliche Bindungen erschwert; da die Eingliederung oft nur in kleinen Schritten zu erproben ist, können diese Vorschriften zum Hemmnis für die Eingliederung werden. So erzielen Forderungen nach einem existenzsichernden Mindestlohn mit einer entsprechenden rechtlichen Absicherung unter Umständen nicht die erwünschte oder sogar die gegenteilige Wirkung, wenn die Regelungen auf leistungsgeminderte Menschen bezogen werden müssen. Sie erhalten eher eine Chance, wenn für sie außerhalb normaler Tarifverträge eine ihren Leistungsmöglichkeiten angemessene Bezahlung, freilich mit sozialer Sicherung, individuell vereinbart werden kann. Auf diesem Feld sind die Sozialpartner auf gerufen, realisierbare Vereinbarungen zu treffen bzw. zu ermöglichen. Aber es stellen sich auch Aufgaben für den Gesetzgeber, etwa im Blick auf Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes.

    Die Bemühungen um Integration stellen einen wichtigen Schritt dar, um die oft leidvolle Ausgrenzung Behinderter aus dem gesellschaftlichen Leben zu überwinden. Aber diese Bemühungen müssen an den wirklichen Erfordernissen orientiert bleiben und dürfen nicht zum Gegenstand eines ideologischen Streites gemacht werden. Der Grundsatz muß heißen: Wir sind für so viel Integration wie möglich; aber wir sind uns bewußt, daß es Grenzen dieser Möglichkeiten gibt.

  7. Behinderteneinrichtungen und Gemeinden

    Die Kirchengemeinden sind in Gottesdienst, Hilfstätigkeit, Gruppen und Kreisen Begegnungsort und Lebensfeld der Christen, zu denen sich alle eingeladen wissen dürfen. Am wenigsten sollten Behinderte sich als übersehen oder ausgeschlossen erfahren. Im Gottesdienst müssen die Mitfeiernden das nötige Verständnis für Behinderte aufbringen, auch wenn deren Verhalten nicht immer den allgemeinen Erwartungen angepaßt sein kann. Die Prediger haben zu bedenken, daß sie auch zu Behinderten und ihren Angehörigen reden. Durch die Gemeinden können Familienkreise angeregt werden, in denen Eltern behinderter Kinder Anschluß an andere finden und so Verständnis, Unterstützung und Entlastung erfahren. Zu begrüßen ist, daß nicht wenige Gemeinden Eltern mit ihren behinderten Kindern zu Freizeiten einladen; sie stellen einen ganz besonderen Wert für Familien mit behinderten Menschen dar, nicht zuletzt dadurch, daß erfahrungsgemäß dort einmal geknüpfte enge Kontakte oft lange Zeit halten.

    Was grundsätzlich angezeigt ist, erscheint angesichts der Bedürfnisse Behinderter um so dringlicher: Die vielfach entstandene Trennung zwischen Caritas bzw. Diakonie als spontaner Mitverantwortung der Gemeinde und ihrer Gruppen einerseits und organisierten speziellen Diensten andererseits muß auf jeden Fall verringert, je nach den Möglichkeiten auch abgebaut werden. Die Kirchen- und Pfarrgemeinderäte sollten sich darüber orientieren, welche Einrichtungen für die Betreuung und Förderung von Behinderten, angefangen von Vollzeiteinrichtungen bis hin zur Frühberatung, in ihrer Umgebung existieren, und sich um Kontakt zu diesen Behinderteneinrichtungen bemühen. Wo in Zukunft neue Einrichtungen geplant werden, empfiehlt es sich, darauf zu achten, daß sie von vornherein ihre Arbeit mit einem Bezug zu den Familien und den Gemeinden der Umgebung beginnen. So sehr der fachliche Dienst bei Familien und Gemeinden Wertschätzung erfährt - er darf nicht dazu führen, daß die Familien und Gemeinden selbst nicht mehr alle ihre Möglichkeiten für eine Verbesserung des Lebensalltags der Behinderten ausschöpfen.

  8. Fortentwicklung und Ausbau der pränatalen Diagnostik

    Von 100 Neugeborenen kommen etwa vier mit mehr oder minder schweren Störungen oder Schäden auf die Welt. Die Medizin bietet in bestimmten Fällen Hilfe an, um schon vor der Geburt solche Schäden zu erkennen.

    Die genetische Beratung ist eine ärztliche Hilfe für ratsuchende Paare im Blick auf künftige Kinder. In der Beratung soll schon vor Heirat und Schwangerschaft geprüft werden, ob die Gefahr, daß diese Kinder mit einer Behinderung geboren werden, über dem Durchschnitt liegt. Die Ratsuchenden werden also über das genetische Risiko für ihre Nachkommen informiert. Wo familiäre Belastungen erkennbar sind, ist vor Heirat und Schwangerschaft eine genetische Beratung angezeigt. Bei der Partnerwahl sollte auch die Verantwortung zukünftiger Elternschaft schon im Blickfeld sein. Dadurch können zahlreiche Konfliktsituationen vermieden werden. Ist das genetische Risiko zu hoch, dann kann das Paar die Frage nicht umgehen:

    • Sind wir bereit, ein behindertes Kind anzunehmen und aufzuziehen, nötigenfalls mit fremder Hilfe?
    • Oder können wir es nicht verantworten, einem Kind das Leben zu schenken?

    Der feste Entschluß, ein Kind nur dann auszutragen, wenn es keine Schäden aufweist, ist sittlich unannehmbar. Im Unterschied zur Risikobestimmung in der genetischen Beratung vor der Schwangerschaft will die pränatale, d. h. vorgeburtliche Diagnostik bei bereits bestehender Schwangerschaft feststellen, ob ein ungeborenes Kind mit der befürchteten Krankheit oder Behinderung behaftet ist. Die moderne Medizin hat dazu verschiedene Verfahren entwickelt. Einige Eltern können dadurch im Fall einer Risikoschwangerschaft die Gewißheit erlangen, daß sie sich auf ein gesundes Kind freuen können. Andere Eltern können sich auf die schwierige Aufgabe vorbereiten, daß sie ein krankes oder behindertes Kind erhalten werden. Die vorgeburtliche Diagnostik könnte möglicherweise noch hilfreicher werden, wenn - wie nicht wenige hoffen - die Therapie weiterentwickelt wird. In diesem Sinne kann eine umfassend verstandene Diagnostik entlasten und lebenserhaltend wirken.

    Schließlich konfrontiert aber die gleiche diagnostische Möglichkeit 3% der Mütter mit der harten Wirklichkeit, daß sie sicher oder sehr wahrscheinlich ein krankes Kind gebären werden. An dieser Stelle liegt das Problem der pränatalen Diagnostik. Gewöhnlich werden in der Medizin diagnostische Verfahren angewandt, um aufgrund der Diagnose kranke Menschen zu heilen. Die pränatale Diagnostik kann aber nicht nur angewandt werden, um zu helfen, sondern auch, um eventuell zu töten. Dies ist wohl auch für die Medizin ethisch eine neue Situation. Die pränatale Diagnostik zieht heute in bestimmten Fällen fast von selbst den Schwangerschaftsabbruch nach sich. Dabei zielt sie faktisch auf die Entscheidung über Leben oder Tod des erwarteten Kindes. Der Schwangerschaftsabbruch erscheint als die geringere Last. Angesichts eines solchen "Automatismus", der schon kleinere Krankheitsrisiken bei dem erwarteten Kind zum Anlaß nehmen kann, eine solche Schwangerschaft nicht auszutragen, warnen heute nicht wenige vor den großen Gefahren, die sich mit der Anwendung der pränatalen Diagnostik verbinden. Jedenfalls wird so ihre faktische Ambivalenz offenkundig.

    Manche Eltern erfahren die drohende Behinderung eines Kindes als Zumutung, die über ihre Kräfte geht. Aber der Wert eines menschlichen Lebens kann nicht am Grad seiner Gesundheit gemessen werden. Ändert man hier grundlegende Maßstäbe, so wird auch das Verhältnis zu Kranken, Alten und Behinderten erheblich beeinflußt. Es ist von vornherein eine schwerwiegende Entscheidung, wenn sich der Mensch zum Richter über Lebenswertes und Nichtlebenswertes macht. Der "Wert" eines menschlichen Lebens gründet entscheidend darin, daß der Mensch von Gott nach seinem Bilde geschaffen, von ihm bei seinem Namen gerufen und in Liebe angenommen ist. So hat Gott jeden Menschen zum Leben und zur ewigen Zukunft eingeladen. Die Krankheit eines Kindes kann niemals eine sittliche Rechtfertigung für seine Tötung sein.

    Die pränatale Diagnostik verführt, wie die Erfahrung aufweist, viele Eltern dazu, bei einer zu erwartenden Schädigung die Leibesfrucht abtreiben zu lassen. Wir verkennen nicht den seelischen Druck, dem Frau und Mann durch die Mitteilung eines entsprechenden Befundes ausgesetzt werden. Wir verkennen auch nicht die Macht der öffentlichen Meinung, die dahin drängt, diesen Druck durch die Tötung des ungeborenen Kindes zu beseitigen.

    Vor diesem Hintergrund wäre der Einsatz eingreifender Maßnahmen der pränatalen Diagnostik ethisch nur unter folgenden Gesichtspunkten vertretbar:

    • Die Diagnose darf keine Routinemaßnahme werden.
    • Sie darf nur auf Wunsch der Schwangeren durchgeführt und ihr nicht vom Arzt aufgedrängt werden.
    • Sie ist nur berechtigt, wenn eine starke Beunruhigung der Schwangeren auf andere Weise nicht behoben werden kann.

    Schließlich darf nicht übersehen werden, welche Mentalität durch eine Koppelung von vorgeburtlicher Diagnose und Schwangerschaftsabbruch im Blick auf das Leben von behinderten Menschen und ihre Annahme durch die Gesellschaft ausgebildet werden kann. Zunächst dürfte die Bereitschaft schwinden, von Geburt an behinderte Menschen anzunehmen und in ihnen eine Lebensaufgabe zu sehen. Die Gesellschaft könnte dahin kommen, daß sie behinderte Kinder überhaupt nicht mehr akzeptiert. Sie hätten schließlich ungeboren bleiben können. Für das Selbstverständnis der Behinderten wären die Folgen angesichts einer solchen Einschätzung durch die Mitwelt unabsehbar.

    Das gesunde Kind könnte am Ende geradezu zu einem einklagbaren Anspruch werden. Erste Gerichtsurteile deuten bereits in diese Richtung. Ärzte sind wegen fehlerhafter Diagnose, Beratung oder Behandlung für die Folgen unterbliebener Schwangerschaftsabbrüche haftbar gemacht worden. Dies wird das Verhalten von Schwangeren und Ärzten nachhaltig beeinflussen.

  9. Eugenische Tendenzen

    Eugenische Maßnahmen zielen darauf hin, die Erbanlagen künftiger Generationen von Menschen zu sichern oder zu verbessern. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei der gegenwärtige Zustand der Spezies Mensch. Die negative Eugenik will Abweichungen nach unten, etwa Krankheiten bzw. die Veranlagung dazu, ausschließen. Positive Eugenik will Abweichungen nach oben, z. B. eine besonders kräftige Konstitution, fördern. In verschiedenen Bereichen zeigen sich heute mehr oder weniger offenkundige eugenische Tendenzen.

    Wird die vorgeburtliche Diagnostik - begünstigt durch genetische Testmethoden - auf möglichst viele Risikogruppen ausgedehnt, besteht die Gefahr, daß es bei diesen Verfahren nicht mehr um individuelle medizinische Vorsorge geht, sondern um eugenische und ökonomische Interessen der Gesellschaft. Einer weiteren Gefahr eugenischer Maßnahmen begegnet man dort, wo behinderten und kranken Menschen das Recht auf Fortpflanzung abgesprochen wird. Diesem Standpunkt liegt die Überlegung zugrunde, Menschen könnten überfordert sein und darum sei in solchen Fällen das Selbstbestimmungsrecht einzuschränken. Etwas anderes ist es, behinderte und kranke Menschen unter Umständen zu einem Verzicht auf Fortpflanzung zu bewegen und ihnen geeignete Formen des Lebens in Gemeinschaft zu ermöglichen.

    Wir dürfen die unselige Vergangenheit nicht vergessen, in der eugenisches Gedankengut in das Programm des NS-Staates aufgenommen und dann auch praktiziert worden ist. Die damaligen Erfahrungen lehren uns: Wer einmal den Wert menschlichen Lebens einem ideologischen Ziel, und sei es dem "Glück" der Eltern, des Staates oder einer Rasse, unterordnet, der wird auch bald bei anderen Gelegenheiten den Lebensschutz lockern und Leben zur Disposition stellen. In unseren Tagen treten solche und ähnliche Vorstellungen in neuem Gewand auf. Die Erfolge der modernen Medizin, so wird gesagt, verhelfen immer mehr genetisch geschädigten Menschen zum Überleben und zur Fortpflanzung. Dem könne beispielsweise durch den Einsatz der Genomanalyse entgegengewirkt werden, die eine frühzeitige Selektion erlaube und damit den genetischen Niedergang aufhalte. Ganz abgesehen davon, daß diese Theorie unrealistisch ist, denn ein beträchtlicher Teil genetischer Schäden ist nicht ererbt, sondern entsteht durch Mutationen - hier wird die Menschenwürde angetastet, mit der die Personrechte und damit auch das Recht auf Fortpflanzung verbürgt sind.

    Eugenische Tendenzen werden auch im Zusammenhang mit der angestrebten kausalen Gentherapie (Keimbahntherapie) sichtbar. Denn dabei soll die Krankheit nicht nur bei dem konkreten Individuum behandelt, sondern auch für alle künftigen Nachkommen ausgeschlossen und so, gewollt oder ungewollt, das Erbgut der Bevölkerung verbessert werden.

    Die entscheidende Voraussetzung für die Billigung einer eugenisch motivierten Maßnahme ist es, daß sie nur auf den Einzelfall abstellt und zum Wohle eines einzelnen Menschen geschieht; dabei muß die Freiwilligkeit, also die Möglichkeit, auch Nein sagen zu können, gewahrt werden. Aber eugenische Gedanken dürfen niemals zur Selektion und Diskriminierung von Menschen führen, und die Rechte des einzelnen müssen um so mehr Maßstab gesellschaftlicher Interessen sein, je schwächer er ist. Darum sind alle eugenisch orientierten Bevölkerungsprogramme abzulehnen.

Nächstes Kapitel