„Sonntag scheint ein günstiger Tag für Gottesdienste zu sein“

Interview mit Pastorin Julia Koll zur Kirchgangsstudie 2019

Warum gehen Menschen in den Gottesdienst? Dazu hat die Liturgische Konferenz mehr als 12.000 Menschen befragt und kürzlich die Ergebnisse der „Kirchgangsstudie 2019“ veröffentlicht. Pastorin Julia Koll leitet den Ausschuss „Faktoren des Kirchgangs“, der die Studie durchgeführt hat. Im Interview erzählt sie, wie sich das gottesdienstliche Leben in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat und was Menschen heute zum Gottesdienstbesuch motiviert.

Gottesdienstbesucher in der Leipziger Michaeliskirche.

„Wer als Kind häufig Gottesdienste besucht hat, der wird dies mit einiger Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener tun“, sagt Pastorin Julia Koll im Interview. Das sei ein Ergebnis, zu dem die „Kirchgangsstudie 2019“ der Liturgischen Konferenz gekommen ist.

Frau Koll, wie ist es um den Sonntagmorgengottesdienst bestellt?

Julia Koll: Als wir die Ergebnisse der „Kirchgangsstudie 2019“ auswerteten, haben wir oft genickt und gesagt: „Ja. Das haben wir so oder so ähnlich erwartet.“ So war es mit den Ergebnissen rund um den Sonntagmorgengottesdienst. Wer diesen klassischen Gottesdienst besucht, ist meist kirchlich engagiert. Auch die grobe Regel „je älter, desto häufiger der Kirchgang“ hat sich bestätigt. Für ein Drittel aller Befragten kommt dieser Sonntagsgottesdienst dagegen gar nicht in Frage. Zugleich ist er noch immer das Symbol der Kirchlichkeit schlechthin – eine durchaus spannungsvolle Beobachtung!

Weihnachten, Taufe, Hochzeiten, Beerdigungen oder auch andere  Anlässe, wie die Einschulung des Kindes, ziehen Menschen in die Gottesdienste. Was kann die evangelische Kirche daraus lernen?

Koll: Für mich ist „Relevanz“ das entscheidende Stichwort. Wann ist oder wird für mich etwas wichtig? Bei den Kasualien und auch bei der Gestaltung des Jahreskreises spüren Menschen diese Relevanz stärker als in der Routine des sonntäglichen Gottesdienstes. Ich denke, wir müssen uns darum kümmern, dass Menschen jeden Lebensalters einen Zugang zu religiösen Praktiken und Ritualen finden. Das bedeutet auch den Umgang mit einer gewissen Langeweile, die eintritt, wenn Sachen zum wiederholten Mal gemacht werden. Wer als Kind häufig Gottesdienste besucht hat, der wird dies mit einiger Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener tun. Aber nicht nur Konfirmand*innen sollten Religion und ihre Rituale vermittelt werden. Es geht hier vielmehr um ein lebenslanges Lernen.

Ihre Studie geht von der Beobachtung aus, dass das gottesdienstliche Leben in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter vervielfältigt hat. Was heißt das?

Koll: Es gibt heute einfach eine große Fülle verschiedener Gottesdienstformen. Denken Sie nur an Stadtteil- oder Familiengottesdienste, an den Gottesdienst nach einem Terroranschlag oder Film-, Kunst- oder Literaturgottesdienste oder beispielsweise eine Taizé-Andacht. Wir haben die Menschen gefragt, welchen Gottesdienst sie als letztes besucht haben, und aus diesen über 9.000 Antworten erinnere ich zum Beispiel Friedensgebete oder Gottesdienste zu politischen Themen, beispielsweise den Ausschwitz-Gedenktag, den Bereich Umwelt, Schöpfung und Spiritualität. Wir sind davon ausgegangen, dass das gottesdienstliche Leben heute immer vielfältiger wird. Allerdings mussten wir feststellen, dass sich das flächendeckend gar nicht sagen lässt. Nicht überall werden Abend- oder alternative Gottesdienste gefeiert. In der Stadt ist das Angebot tendenziell größer als auf dem Land. Es hängt aber auch von den einzelnen Akteur*innen ab, und auch die jeweilige Landeskirche spielt eine Rolle und welche Anreize sie für alternative Gottesdienstformen schafft. Interessanterweise fällt Menschen beim Wort „Gottesdienst“ aber nach wie vor aber vor allem die von vielen als langweilig und überholt empfundene Veranstaltung am Sonntagmorgen ein. Letztlich wird Kirche wieder auf den Sonntagmorgen als das älteste und traditionsreichste „Format“ reduziert. Die Fülle der realexistierenden Gottesdienstformate bekannt zu machen, ist eine zentrale Herausforderungan die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit.

Wann wäre Ihrer Meinung nach eine gute Gottesdienstzeit?

Koll: In der Breite scheint der Sonntag ein günstiger Tag für Gottesdienste zu sein. Die anderen Wochentage sind lediglich für die Menschen interessant, die eher seltener einen Gottesdienst besuchen. Und für einen regelmäßigen Gottesdienst fallen bei vielen die Tage zwischen Montag und Donnerstag aus. Was nicht heißen muss, dass man am Anfang der Woche nicht auch einmal das ein oder andere veranstalten kann. Menschen, die seltener einen Gottesdienst besuchen, bevorzugen dagegen den Freitag- und Samstagabend. Bei allen sind meist die frühen Abend- oder Spätnachmittagstermine begehrt. Ein guter Kompromiss scheint mir der Sonntagabend, der an vielen Orten schon praktiziert wird. So ein Abendgottesdienst hat auch atmosphärisch noch mal ganz andere Potentiale.

Sie stellen fest, dass das Interesse an der Predigt hoch ist, während die Feier des Abendmahls das Gros der Befragten weniger zum Gottesdienstbesuch motiviert. Wie lässt sich das erklären?

Koll: Das Abendmahl ist möglicherweise nicht der Auslöser, weshalb Menschen einen Gottesdienst besuchen. Aber wenn sie einmal da sind, feiern viele es trotzdem gern mit. Die Predigt hingegen spiegelt das klassische Bild wider, das die Menschen von einem evangelischen Gottesdienst im Kopf haben. Sie gehört einfach dazu und ist ja auch das zeitlich längste Element im Gottesdienst. Das Abendmahl wird hingegen nicht regelmäßig und je nach Region unterschiedlich gefeiert. In alternativen Gottesdiensten taucht es gar nicht auf. Von vielen Menschen wird es mit dem Sonntaggottesdienst in Verbindung gebracht. Und weil der Sonntagsgottesdienst an vielen Orten darbt, leidet möglicherweise auch das Abendmahl darunter.

Und was erwarten Menschen von der Predigt?

Koll: Die Menschen sind sehr verschieden. Und das Ausmaß der Verschiedenheit der Menschen wächst. Während die einen eine Predigt als gut erleben, turnt dieselbe Predigt andere Menschen ab. Vermutlich wird es nicht möglich sein, alle auf einmal zufrieden zu stellen. Das muss man sich klarmachen. Denn wir geraten leicht in einen Machbarkeitswahn.

Was sollten Pfarrer*innen bei der Gestaltung ihres nächsten Gottesdienstes berücksichtigen?

Koll: Sie sollten sehr überlegt handeln. Der Gedanke des „One size fits all“ (Übersetzung der Redaktion: „Einheitsgröße“), jeden Sonntag einen Gottesdienst halten zu können, der für alle passt, funktioniert nicht mehr, zumindest nicht als regelmäßiges Format. Aus dieser Schwierigkeit kommen wir nicht heraus. Wenn man nun jeden Sonntagmorgen einen Gottesdienst anbietet, muss man sich überlegen, für wen man diesen gestaltet. Sowohl die Älteren als auch die kirchlich engagierten Menschen im Gottesdienst erwarten Unterschiedliches. Wenn dann noch jemand zufällig den öffentlichen Gottesdienst besucht, ist es für die Gottesdienstgestaltenden schwierig, alle Erwartungen und Vorlieben zu erfüllen und dafür zu sorgen, dass sich keiner heillos fremd fühlt. Hilfreich sein kann, auf die einzelnen Interessen und Vorlieben der Menschen vor Ort einzugehen. Wir haben auch festgestellt, dass Befragte zwischen 31 und 45 Jahren in der Familienphase ein insgesamt gedämpftes Interesse am gottesdienstlichen Leben haben.

Wo sollten Gottesdienste gefeiert werden?

Koll: Das Feiern von Gottesdiensten im Kirchenraum ist ein bisschen beliebter als im Freien. Kirchenräume haben offensichtlich an sich schon eine Kraft und motivieren Menschen zum Gottesdienstbesuch. Wer häufiger Kirchgänger ist, also ein bis zweimal im Monat, bringt eine gewisse Experimentierfreude mit. Diese Menschen sind sicherlich für neue Orte und Gottesdienstformen eine interessante Zielgruppe.

Was suchen Menschen in der Kirche?

Koll: „Gottes Gegenwart und Kraft in Wort, Gebet, Lied erleben wollen“, „Gebet, Stille, das Abschalten vom Alltag“, „innehalten, die Welt von oben betrachten“ oder das Erleben von Gemeinschaft sind nur einige Beispiele. Menschen wollen von der Atmosphäre des Gottesdienstes angesprochen werden. Man muss sich klarmachen, dass Menschen nicht etwa den Gottesdienst nicht besuchen, weil sie keine Zeit haben, sondern weil er ihnen dann einfach nicht so wichtig ist. Das tut ein bisschen weh. Ins Positive gewendet heißt das aber: Die Menschen suchen im Gottesdienst Religion. Kirche und Gottesdienste werden offensichtlich stärker mit Problemen im Leben, mit Bedürfnis nach Trost, Halt und Orientierung identifiziert als mit Ausdruck von Freude, Dankbarkeit und gelingendem Leben. Auf die Frage „Was sind Gründe für den selteneren Besuch?“ in der Studie war eine Antwort: „Alles läuft perfekt im Leben“. Wenn also alles perfekt läuft, muss man nicht in den Gottesdienst gehen. Das kann uns natürlich nicht schmecken. Trotzdem zieht sich diese depressive Grundstimmung, Jenseitssehnsucht, Weltvertröstung bis in die Auswahl einzelner Lieder im Gesangbuch. Über das Feiern, das Freudige, das Helle, lässt sich möglicherweise auch gar nicht so viel sagen kann. Dabei kann man das Fröhliche ausdrücken. Das ist aber offensichtlich in unserer gegenwärtigen Gottesdienstpraxis weniger gängig.

Und wie gelangen Menschen an die Information, wo was in einer Gemeinde gefeiert wird?

Koll: Die Schaukästen braucht man nicht. Der Gemeindebrief bleibt ein zentraler Anker für die Vermittlung von Gottesdienstterminen. Ihn abzuschaffen ist keine Option, aber die Verzahnung mit dem Online-Angebot wird wichtiger. Kirche muss im Internet präsent sein, weil die Menschen online sind. Und zwar immer aktuell und auf verschiedenen Kanälen. Das ist viel wichtiger als dass die Gottesdienstzeiten in der lokalen Zeitung angekündigt werden. Mit dem „Gemeindebrief“ und einem zusätzlichen Angebot im Internet kann man zugleich lokal und aktuell sein.

Markus Bechtold (evangelisch.de)


PD Dr. Julia Koll ist Pastorin in Altenmedingen, Bienenbüttel und Wichmannsburg im Kirchenkreis Uelzen und Privatdozentin für Praktische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie leitet den Ausschuss „Faktoren des Kirchgangs“ der Liturgischen Konferenz, der „Kirchgangsstudie 2019“ durchgeführt hat.

Die „Kirchgangsstudie 2019“ wurde von der Liturgischen Konferenz in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben. Mehr als 12.000 Menschen haben sich zwischen März und Juli 2018 beteiligt. 90 Prozent der Befragten gaben an, evangelisch zu sein. Insgesamt gaben über 83 Prozent an, sich der Kirche sehr oder ziemlich verbunden zu fühlen. Die Ergebnisse sind eine Momentaufnahme für das Jahr 2018.

Die Ergebnisse der Studie sollen auf einer Auswertungstagung vom 13. bis 14. September 2019 in der Evangelischen Akademie Loccum in Zusammenarbeit mit der Liturgischen Konferenz und dem Pastoralkolleg Niedersachsen ausführlicher vorgestellt und diskutiert werden.

Kirchgangsstudie 2019 der Liturgischen Konferenz (Logo)

Kirchgangsstudie 2019

Im Auftrag der Liturgische Konferenz, durchgeführt vom Ausschuss „Faktoren des Kirchgangs“