"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist."

4. Biblisch-theologische Überlegungen, ethische Reflexionen und Konsequenzen

4.1 Zur Fragestellung

  1. Ablehnung und Gewalt gegenüber Fremden, das Aufkommen alter und neuer Formen von Nationalismus, ethnische Säuberungen, Vertreibung und Flucht zeigen, daß der Boden humaner und christlicher Ethik auch in einem von christlicher Tradition geprägten Europa dünn ist.
  2. In unserem Land hatte die Schutzgarantie des Grundgesetzes für politisch Verfolgte noch die Erfahrungen und Erinnerungen der Menschen im Hintergrund, die nach dem Schrecken des Dritten Reiches einen neuen Staat mit einer neuen Verfassung schaffen wollten. Sie erinnerten sich so daran, wie sich Israel an seine Erfahrungen von Unterdrückung und Befreiung in Ägypten erinnerte. Aber es scheint schwer zu sein und nur bruchstückhaft zu gelingen, solche Erinnerungen lebendig zu halten und zu einem dauerhaften Kern christlicher und politischer Identität in unserem Land zu machen.
  3. Befreiungserfahrungen gehören zum Grundbestand des Alten wie des Neuen Testamentes. Dem entspricht aber nicht schon immer die Praxis im Leben der einzelnen Christen wie der christlichen Gemeinden. Sowohl der einzelne Christ als auch die Gemeinde und die Kirche selbst bleiben oft hinter dem Anspruch des Evangeliums zurück. Sie werden so mitverantwortlich für Fehlentwicklungen in der Gesellschaft.
  4. Die Annahme der Botschaft der Bibel im Bewußtsein und in der Praxis der christlichen Gemeinden und der Kirchen bedarf der immer neuen und vertieften Umkehr zum Wort Gottes. Dann wird sich zeigen, daß die Aussagen der Bibel nicht als moralischer Appell verkürzt und mißverstanden werden dürfen; vielmehr ermutigen sie dazu, den Menschen in seiner Welt umfassend wahrzunehmen. Aus der Botschaft vom Reich Gottes und von seinem Heilswillen für die Menschheit ergibt sich ein biblisches Ethos, das die Menschen seinerseits in Pflicht nimmt. Im Hören auf Gottes Wort geht auf, daß der Mensch in seiner personalen Würde zu sehen und ihm verantwortlich und gerecht zu begegnen ist.
  5. Der Mensch als Person ist von Grund auf Mit-Mensch. Er kann nur leben und zur Entfaltung seiner selbst kommen im Miteinander. Seine Lebenswelt ist darum auch immer eine soziale und damit auch immer eine politische Umwelt. Wenn die Kirchen im Dienst am Menschen stehen, müssen sie ihren Beitrag auch in die politische Diskussion einbringen und die Lebenswelt des Menschen mitgestalten. Sie tun das nicht in der Haltung der Besserwisserei. Politik, Wirtschaft und Humanwissenschaften werden in einem dialogischen Prozeß entwickelt und gestaltet, für den nicht zuletzt christliche Ethik einen unverzichtbaren Beitrag zu leisten hat. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Politik. Indem die Kirchen, vom christlichen Menschenbild ausgehend, die Prinzipien von Personenwürde und Gemeinwohl, von Subsidiarität und Solidarität in die Politik einbringen, geben sie Kriterien an die Hand, Güter verantwortlich abzuwägen; sie helfen mit, menschengerechte und politisch verantwortbare Handlungsrichtungen und Lösungen zu suchen. Sie sind sich dabei der Komplexität der Aufgabe bewußt. Von der Wahrheit des Evangeliums getragen, wissen die Kirchen in der konkreten Abwägung von Lösungswegen um die oft begrenzten Möglichkeiten auch politischen Handelns. Vor eigenen Fehleinschätzungen sind sie nicht sicher.

4.2 Besinnung auf die Botschaft der Bibel

4.2.1 Zum Befund

  1. Unter den Geboten Gottes gibt es wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen an Gewicht und Eindeutigkeit gleichkommen. Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz Gottes. Der Begründungszusammenhang liegt in den Erfahrungen, die Israel in der Fremde gemacht hat: "Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wißt doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen." (2. Mose/Ex 23,9). Israel kann sich in die Situation, in das innerste Fühlen von Fremden hineinversetzen; darum ist ihm zuzumuten und von ihm zu erwarten, daß es mit Fremden so umgeht, wie es recht ist und wie es Gott will.
  2. In der Selbstoffenbarung Gottes im 1. Gebot stellt er sein befreiendes Handeln vor: "Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." (2. Mose/Ex 20,2.3) Dieses 1. Gebot macht die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung zum unvergeßlichen und unablösbaren Attribut Gottes. Darum rücken Fremde, also Menschen, die von Gleichgültigkeit, Mißachtung und Unterdrückung bedroht sind, in die Mitte der Schutzbestimmungen Gottes. Das Schutzgebot gegenüber Fremden durchzieht wie ein roter Faden die Sammlung der Gebote des Alten Testamentes:
  3. "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott." (3. Mose/ Lev 19, 33f )
  4. Der theologische Rang dieser Gebote im Alten Testament ist eindeutig. Schutz der Fremden, Liebe zu den Fremden und Gastrechte sind in der Mitte alttestamentlicher Theologie verwurzelt. Die Befreiung aus Ägypten und der Bund Gottes mit seinem Volk begründen die Identität Israels, die den Schutz der Fremden und die Achtung ihrer Rechte einschließt.
  5. Im Alten Testament gibt es eine Tendenz, das, was als geboten erkannt wird, auch rechtlich zu fixieren. Diese Neigung zur Konkretion kann man als ein Korrektiv verstehen, die über die Beliebigkeit von Appellen hinausgeht. Zugleich durchzieht das Alte Testament eine Dynamik der Rechtsentwicklung und des wachsenden Bewußtseins, dem Fremden mit Offenheit zu begegnen. Diese Dynamik erwächst offensichtlich aus dem wechselseitigen Einfluß von Recht und Gottesglauben. Gott wird gesehen als der königliche Beschützer der Armen und Gefährdeten; entsprechend hat sein Volk seine Rechtsordnung zu gestalten. Die Rechtsordnung des Gottesvolkes, die im Glauben an Jahwe gründet, muß sich vor allem im Umgang mit den Fremden und Schwachen bewähren. Gastfreundschaft, rechtliche Absicherung und Integration für den Fremden sind Verpflichtungen der Jahwegläubigen, ohne daß Israel seine eigene Identität als Gottesvolk aufgeben darf. So unabdingbar und grundlegend diese Identität als Volk Gottes ist, sie ist für Israel nie eine statische, sondern stets eine dynamische Größe.
  6. Diese Haltung gegenüber dem zugewanderten Fremden, insofern er Not leidet und gesellschaftlich marginalisiert ist, steht im Handeln Jesu und dem seiner Jünger grundsätzlich in der Tradition Israels und ist von der Maxime universaler Nächstenliebe geprägt.
  7. Das Neue Testament erhebt die Liebe zum Nächsten zum grenzüberwindenden Gebot. Im Gleichnis vom guten Samariter (Lk 10,25-27) wird deutlich, daß nicht nur derjenige, der einem selbst durch familiäre oder ethnische Bindungen nahesteht, geliebt werden und damit zu seinem Recht kommen soll. Nicht ein bestimmter Nahestehender verlangt Zuwendung und Hilfe, vielmehr macht das umfassende Liebesgebot umgekehrt auch einen bisher fernstehenden Menschen zum Nächsten.
  8. Die klassische Stelle für die grenzenüberwindende Kraft der Gemeinschaft in Christus ist Gal 3,28: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid "Einer" in Christus Jesus". Es gibt Grenzen aufgrund von Geschlecht, Nation, Volk und Klasse, aber diese Grenzen werden in der Gemeinde Christi relativiert durch die Gemeinschaft in Jesus Christus.
  9. Besonders eindrücklich spiegelt die Apostelgeschichte im Pfingstbericht die Vision vom Reich Gottes wider, das alle nationalen Grenzen übersteigt. Der göttliche Pfingstgeist ermöglicht es den unterschiedlichsten Völkern, die Botschaft vom Anbruch einer neuen Zeit in der jeweils eigenen Sprache zu vernehmen und so zu einer Einheit in Vielfalt zusammenzuwachsen (Apg 2,1-14). Daraus wird deutlich, daß sich die Christen von Anfang an berufen fühlten, die Einheit der Menschen in der eigenen Gemeinde erfahrbar zu machen. Weil Gott nicht auf die Person schaut, sondern Menschen aller Völker in sein Reich ruft (Apg 10,34 f; Röm 2,10f; Gal 2,6), kann von der christlichen Gemeinde ein weltumspannender Antrieb ausgehen, der auch andere Teile der Gesellschaft erfaßt und enges, national beschränktes Denken und Handeln auflöst.
  10. Der Fremde ist im Neuen Testament nicht mehr der im Unterschied zum Stadtbewohner und Volkszugehörigen Diskriminierte ohne Bürgerrecht (Eph 2,11f., 19), sondern der Gast, in dem Jesus selbst gegenwärtig ist. In der Szene des eschatologischen Gerichts in Mt 25,31-36 wird die Behandlung des Fremden und anderer notleidender Menschen sogar zum entscheidenden Kriterium für das Heil oder Unheil des Menschen.
  11. Den ersten Christen ist die Situation des Fremdseins bekannt, verstehen und erleben sie sich doch auch selbst als Fremde in unchristlicher, oftmals antichristlicher Umgebung. Darüber hinaus interpretiert Paulus die christliche Existenz auch theologisch als eine Existenz von Fremden, die fern der Heimat, das heißt fern der endgültigen Gemeinschaft mit Gott, unterwegs sind (2 Kor 5,6). Der erste Petrusbrief spricht die Christen als Fremde in den verschiedenen römischen Provinzen an (1 Petr 1,1) und als "Fremde und Gäste in dieser Welt" (1 Petr 2,11).
  12. Das geschwisterliche Leben in der christlichen Gemeinde wird nun zum Zeichen der möglichen Einheit aller Menschen. Ihre Offenheit Fremden gegenüber und die von ihnen in besonderem Maß gepflegte Gastfreundschaft waren ein Charakteristikum christlicher Gemeinden, wodurch sich die Christen gegenüber anderen Gruppen in ihrer Gesellschaft profilieren konnten.
  13. So veränderten die christlichen Gemeinden durch die Integration von fremden und marginalisierten Menschen zwar nicht sofort die politischen Strukturen, was angesichts ihres geringen politischen Einflusses auch kaum möglich war. Die Verkündigung Jesu hatte aber, obwohl seine Worte und sein Handeln das politische System nicht direkt in Frage stellten, dennoch von Anfang an politik- und sozialkritische Wirkung.
  14. Im Neuen Testament wird die innere Einheit der Menschen als wichtiger Bezugspunkt für den Umgang mit Zuwanderern und Fremden herausgestellt. Fremde sollen keine Fremden bleiben. Vielmehr werden auf diesem Hintergrund auch bisher Fernstehende zu Nächsten, denen mit Offenheit begegnet werden soll.
  15. Inwieweit sich diese Erfahrungen und Leitlinien aus alt- und neutestamentlicher Tradition in den Überlegungen zum Umgang mit Migranten in der christlich-ethischen Tradition widerspiegeln, soll im folgenden zur Sprache kommen.

4.2.2 Der Mensch als Ebenbild Gottes

  1. Daß Existenz und Bestand des Lebens ihren Grund in Gott haben, ist fundamentale biblische Aussage. Gott schafft, will und erhält das Leben, er ist Ursprung und Ziel allen Lebens. Das gilt auch für das Leben des Menschen. Im ersten Schöpfungsbericht der Bibel (1. Mose/Gen 1,26f) wird ausdrücklich gesagt, daß der Mensch "als Abbild Gottes" erschaffen wurde. Diese Aussage ist eine genuin biblische Erkenntnis. In der religiösen Vorstellung der Umwelt Israels wurden Könige in direkter physischer Verbindung als Abkömmlinge der Götter gesehen. In klarer Abhebung davon bekennt Israel: "Gott schuf also den Menschen als sein Abbild" (1. Mose/Gen 1,27), absolut jeden Menschen. Das unterscheidet ihn von Gott, gibt ihm aber in der gesamten Schöpfung eine unverwechselbare Würde.
  2. In der Geistesgeschichte des Christentums und des Abendlandes ist die Gottebenbildlichkeit eine wichtige Wurzel geworden, um die Anerkennung der Würde des Menschen zu begründen. Trotz aller Unterschiede kommt allen Menschen dieselbe Würde zu, weil sie alle Kinder des einen Vaters sind. Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht in diesem großen Traditionszusammenhang, wenn es dort heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
  3. Was die christliche Tradition und die Philosophie über Sein und Würde des Menschen zu sagen haben, gerade auch in seiner Ausrichtung auf die Transzendenz, ist zusammengefaßt in der Aussage: Der Mensch ist Person. Das ist Grundlage für alle ethischen Aussagen.
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