"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist."

6. Kirchliche Aufgaben

6.1 Überwindung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt

  1. Es ist richtig, den Begriff "Rassen" - im Sinne von Menschenrassen - zu vermeiden, da er historisch belastet und wissenschaftlich umstritten ist sowie als Legitimation für Ungleichheit und Werturteile benutzt wird. Dennoch ist von "Rassismus" zu sprechen, da es offenen und versteckten Rassismus nicht nur in unserer Gesellschaft gibt. Wohin Rassismus in letzter Konsequenz führt, lehrt die deutsche Geschichte, und ist auch noch heute an vielen Orten auf der ganzen Welt zu beobachten. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben viele Wurzeln, sie mißachten die Menschenwürde und die Gleichberechtigung der Menschen. Für Christen sind Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darüber hinaus die Verneinung der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen.
  2. Der kirchliche Sendungsauftrag schließt über die Verkündigung der christlichen Glaubensbotschaft von Gottes Gegenwart und Heil sowie die Sorge für den einzelnen Menschen hinaus die öffentliche Verantwortung für eine menschenwürdige, freie, gerechte und solidarische Ordnung ein. Der diakonische und caritative Dienst an Menschen in Not gehört zu den unveräußerlichen Kennzeichen der Kirchen. Um ihrer Glaubwürdigkeit willen dürfen deshalb Glauben und Leben, Verkündigung und Praxis der Kirchen sowohl in ihrem eigenen Verhalten und in ihrer Wirkungsweise wie in ihrer Botschaft nicht auseinandertreten. Der Einsatz für Menschenwürde und Menschenrecht, für Gerechtigkeit und Solidarität ist für die Kirchen konstitutiv und eine Verpflichtung, die aus ihrem Glauben an Gottes Solidarität mit den Menschen und aus ihrer Sendung, Zeichen und Werkzeug der Einheit und des Friedens in der Welt zu sein, erwächst.
  3. Ein eigener Beitrag der Kirchen zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt ist deshalb unverzichtbar. 1975 wurde die "Woche der ausländischen Mitbürger" von den Kirchen als ein christlich geprägtes Zeichen des Engagements in diesem Bereich ins Leben gerufen. Die Zusammenarbeit von katholischer und evangelischer Kirche und griechisch-orthodoxer Metropolie - einer Kirche von vorwiegend nach Deutschland gekommenen Migranten - mit Vertretern aus Gewerkschaften, dem Zentralrat der Muslime, Initiativgruppen und anderen zur jährlichen Vorbereitung dieser Woche ist ein wichtiger Impuls für das Zusammenleben von Einheimischen und Fremden.
  4. Ohne ein ausreichendes Maß an Solidarität wird es weder in Europa noch in Deutschland ein Leben in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit geben. Viele der heutigen Herausforderungen sind ohne die Fähigkeit zu solidarischem Handeln auf demokratischem Weg nicht mehr lösbar. Die Migration und die Akzeptanz der sich durch Zuwanderung verändernden Gesellschaft sind eine davon.
  5. Solidarität beginnt mit der Einbeziehung der Zuwanderer in das Leben der Kirchen und ihrer Gremien. In der Kirche kann es keine "Ausländer" geben, denn alle sind eins in Christus. Durch die Zuwanderung hat sich die Zahl der nichtdeutschen Christen erheblich erhöht. In der katholischen Kirche beträgt ihr Anteil 7-8 %. Sie sind selbstverständlicher Teil der hiesigen Kirche. Ähnliches gilt für die evangelische Kirche, sofern ausländische Christen ihren Beitritt erklären. Daneben gibt es christliche Kirchen mit fast ausschließlich nichtdeutschen Mitgliedern wie die orthodoxen Kirchen oder eine Reihe von Gemeinden anderer Sprache oder Herkunft protestantischen oder freikirchlichen Bekenntnisses. Sowohl die Integration von Zugewanderten innerhalb der Kirchen als auch die ökumenische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften muß noch weiter verbessert und zu einer Selbstverständlichkeit werden.
  6. Ehren- und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter klagen nicht selten über mangelnde pastorale aber auch administrative kirchliche Unterstützung ihrer Arbeit mit Zuwanderern. Sie fühlen sich "auf verlorenem Posten" oder als "Einzelkämpfer". Vielfach sehen sie sich gezwungen, die ihnen notwendig erscheinende Unterstützung und Begleitung bei außerhalb der Kirche stehenden Gruppen zu suchen und zu finden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die verschiedenen Dienste und, biblisch gesprochen, "die verschiedenen Gaben" - nicht zuletzt die, für Zuwanderer da zu sein - in den Gemeinden und in den Kirchen insgesamt aus den politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Das heißt, es muß ein Klima der Toleranz und Übereinstimmung erhalten bzw. hergestellt werden, daß diese Aktivitäten integraler Bestandteil gemeindlicher, diakonischer und insgesamt kirchlicher Arbeit sind, die - wenn auch nicht von allen geliebt - zu leisten ist.
  7. Aufgabe der Kirchen ist es auch, Vereinfachungen bei der Problembeschreibung oder der Suche nach Lösungen zu widerstehen, die Sorgen der Menschen ernstzunehmen und Ängste abzubauen, Raum für das Gespräch zwischen verschiedenen Standpunkten zu bieten und Anwalt der Menschlichkeit gegenüber angeblichen politischen Sachzwängen oder Opportunität und Eigeninteressen zu sein. Dies kann jedoch nur dann Realität werden, wenn sie von kirchlichen Gremien und Entscheidungsträgern auf allen Ebenen als verbindlich angesehen wird. Das Ziel, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt zu überwinden, muß sich mehr als bisher als gemeinsame ökumenische Aufgabe auch strukturell niederschlagen.
  8. Die Kirchen und die Christen haben gerade auch in diesem Zusammenhang eine friedenstiftende Aufgabe in der Gesellschaft. Sie müssen ein Beispiel für ein fremdenfreundliches, gewaltfreies und vorurteilfreies Zusammenleben geben.

6.2 Flucht und Migration als ökumenische Herausforderung

  1. Flucht und Migration sind in ihrer weltweiten Verflechtung und ihrer vielgestaltigen Problematik eine ökumenische Herausforderung. Es ist eine gemeinsame Aufgabe aller christlichen Kirchen, sich in einem aufeinander bezogenen Handeln und in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld für gerechtere und menschenwürdigere Lebensbedingungen einzusetzen. In den zurückliegenden Jahren sind dazu im "Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" viele weiterführende Erfahrungen gemacht worden. Die Ökumenischen Versammlungen von Stuttgart und Dresden, von Basel und Seoul, von Erfurt und Graz sind wichtige Stationen dieses gemeinsamen Weges. Die dort erarbeiteten Erklärungen geben vielfältige Orientierungen für die Arbeit der Kirchen mit Flüchtlingen und Migranten.
  2. So rief die Europäische Ökumenische Versammlung der Kirchen in Europa im Juni 1989 in Basel unter anderem dazu auf, zu erkennen, daß Flüchtlinge und Wanderarbeiter ihre Heimatländer innerhalb und außerhalb Europas verlassen, entweder weil ihre wirtschaftliche Situation hoffnungslos ist oder weil sie Opfer politischer, gesellschaftlicher oder religiöser Unterdrückung sind. Sie forderte gleichzeitig alle europäischen Christen auf, sie als Brüder und Schwestern auf- und anzunehmen und auf die Verbesserung ihrer Lage hinzuwirken. In gleicher Weise machte sie auf das Schicksal von Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in allen Kontinenten aufmerksam, die Opfer von wirtschaftlichen, politischen, sozialen und umweltbedingten Veränderungen oder von Gewalt sind. Europäische Kirchen und Christen sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Grundursachen für deren schlimme Lage zu beseitigen und unverzüglich Hilfe zu leisten.
  3. Diese Erklärungen und Aufrufe wurden noch vor dem tiefgreifenden Umbruch in Europa erarbeitet. Seither hat sich die Lage vor allem durch regionale Kriege wie im ehemaligen Jugoslawien dramatisch verschärft. Die Herausforderungen an die Kirchen sind weiter gewachsen. Die ökumenischen Versammlungen in Erfurt 1996 und Graz 1997 haben deshalb den Begriff der Versöhnung in das Zentrum gestellt und bedauert, daß trotz unbestreitbarer und erfreulicher Erfolge und Fortschritte keines der großen Probleme, die in ihrer Gesamtheit die globale Krise der Gegenwart ausmachen, habe gelöst werden können, manche hätten sich sogar verschärft. Die Ereignisse seit 1989 hätten eine neue Dimension zutage treten lassen, für die sich der Begriff der Versöhnung aufdränge.
  4. In den Dokumenten der Ökumenischen Versammlung in Erfurt wird unter anderem empfohlen: "In Ergänzung bestehender Initiativen für soziales Lernen, Friedenserziehung und von lokaler und regionaler Friedensarbeit sollen in ökumenischer Zusammenarbeit Friedensfachdienste zur zivilen Konfliktbearbeitung eingerichtet werden." Zivile Konfliktbearbeitung kann einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt und zur Minimierung von Konflikten zwischen ethnischen Gruppen leisten. Sie wirkt damit Ursachen von Flucht und erzwungener Migration entgegen.
  5. In der Auseinandersetzung mit den Überlebensfragen der Menschheit im Bereich von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind mit den kirchlichen Gruppen und Initiativen neue Formen christlichen Engagements entstanden, die auch für die Arbeit an den Problemen von Migration und Flucht von besonderer Bedeutung sind. In einem Wechselspiel mit den Institutionen und Werken der Kirchen wird für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen und eine Integration derer gearbeitet, die auf lange Zeit oder auf Dauer aufgenommen werden müssen. Ebenso geht es um die Erhaltung und Verbesserung der migrations- und flüchtlingspolitischen Rahmenbedingungen und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Das gemeinsame Handeln im nationalen und internationalen Horizont hat zu einer Fortentwicklung des ökumenischen Bewußtseins geführt und den ekklesiologischen und ökumenischen Fragen in der Theologie neue Impulse gegeben.

6.3 Perspektiven kirchlichen Handelns

6.3.1 Zusammenarbeit mit Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft

  1. Unter den Zuwanderern, Flüchtlingen und Ausländern auf Zeit, die nach Deutschland gekommen sind und kommen, ist auch eine zunehmende Zahl von Christen aus allen Teilen der Welt. Viele von ihnen haben sich in den großen Ballungsräumen niedergelassen. Hier suchen sie als einzelne und Familien nicht nur Kontakte zu Ortsgemeinden und Kirchen, sondern organisieren sich - vor allem im protestantischen und freikirchlichen Raum - in wachsendem Maße eigenständig als christliche Gruppen und Kirchen unterschiedlicher kultureller und konfessioneller Prägung. Auch die verschiedenen orthodoxen Kirchen und die anglikanischen Gemeinden in Deutschland bestehen zu einem großen Teil aus Christen, die aus vielen Teilen der Welt nach Deutschland zugewandert sind.
  2. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich im Raum der katholischen Kirche die fremdsprachigen Missionen bewährt. Durch die Bereitstellung von Räumen in den jeweiligen fremdsprachigen Missionen konnten und können sich die verschiedenen muttersprachlichen Gruppen treffen, um die Kommunikation untereinander aufrechtzuerhalten und zu pflegen; in enger Zusammenarbeit unter anderem mit den Beratungsdiensten des Caritasverbandes werden Rat und Hilfe angeboten, um die Probleme zu bewältigen, die das Leben in der Fremde mit sich bringt. Durch Glaubensverkündigung, Katechese und Feier der Gottesdienste in der Muttersprache und durch die Pflege ihrer Tradition haben viele Migranten in muttersprachlichen Gemeinden Orientierung, Rückhalt und Lebenshilfe erfahren. Mit der Einrichtung von Seelsorgestellen für anderssprachige Gläubige (derzeit ca. 540 mit ebensovielen ausländischen Seelsorgern) hat die Kirche Antwort gegeben auf die Tatsache, daß Glaubensvermittlung und Glaubenserfahrung zu den Lebensbereichen gehören, die stark von Kultur, Tradition, Sitte und Sprache geprägt sind, und geht auf die Grundbedürfnisse der Menschen nach Beheimatung und Solidarität auf eine Weise ein, wie sie die territorialen deutschsprachigen Pfarreien allein nur schwer leisten können.
  3. Die muttersprachlichen Gemeinden sind für die Migranten Gemeinschaft und Lebensraum, in dem sie gerade auch mit ihrer Sprache und Glaubenstradition Beheimatung und Zuwendung erfahren, ihr eigenes kulturelles und religiöses Leben pflegen und so ihre Identität finden können. In den fremdsprachigen Gemeinden wird die Universalität und die ökumenische Dimension der Kirche erfahrbar. Aus dieser Perspektive gesehen sind die muttersprachlichen Gemeinden nicht ein Angebot in Konkurrenz zu den territorialen Pfarreien, sondern eine Chance, durch die das Leben der Kirche vor Ort bereichert wird.
  4. Die vielen ermutigenden Beispiele eines gelungenen Miteinanders von deutschen und fremdsprachigen Seelsorgern vor Ort zeigen auch eine Perspektive für eine gelungene Integration, die bei Wahrung und Pflege der eigenen Identität Wege eröffnet für eine wechselseitige Bereicherung und für eine gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß Ortsgemeinde und Fremdsprachengemeinde bisweilen auch nur nebeneinander stehen. Um den Herausforderungen von morgen gerecht zu werden, muß dieses Nebeneinander weiterentwickelt werden.
  5. Zum Teil gibt es bewährte und etablierte Zusammenarbeit von Gemeinden fremder Sprache oder Herkunft mit den christlichen Kirchen und Gemeinschaften in Deutschland. Zum Teil werden jedoch die darin liegenden Herausforderungen nicht oder zu wenig wahrgenommen und gestaltet. Das Bewußtsein, daß es in der Kirche Jesu Christi keine Ausländer gibt, sondern daß Christen aus anderen Teilen der Welt auch jeweils zur Kirche vor Ort gehören, ist in vielen deutschen Gemeinden noch unterentwickelt und muß verstärkt als wichtige Aufgabe wahrgenommen und gestaltet werden. Es muß sich tiefer in das Bewußtsein einprägen, daß auch die deutschsprachige Gemeinde als Kirche für anderssprachliche Gruppen mitverantwortlich bleibt.
  6. In Deutschland arbeiten 21 christliche Kirchen und Gemeinschaften in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) zusammen. Größere und etablierte Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sollten ermutigt und unterstützt werden, die volle Mitgliedschaft oder Möglichkeiten der Mitarbeit bei einer örtlichen oder regionalen ACK zu suchen. Bewährt haben sich auch offene Formen der Selbstorganisation wie der Internationale Konvent Christlicher Gemeinden in Berlin oder die Kommission ausländischer und deutscher Gemeinden in Hamburg.

6.3.2 Interreligiöser und interkultureller Dialog

  1. Die moderne Welt bringt es mit sich, daß immer mehr Menschen aus allen Religionen und Kulturen aufeinandertreffen und zusammenleben. Es entsteht ein neues Bewußtsein von weltweiten Gemeinsamkeiten auf der einen Seite und der Pluralität der Kulturen und Religionen auf der anderen Seite. Kultur und Religion stehen in einer verschränkten und komplexen Beziehung zueinander. Ein zentrales Moment dieser Beziehung ist der Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Er hat das Erkennen und Anerkennen von jenen kulturellen Werten, mit denen die Menschenwürde gewahrt wird, zur Grundlage. Sein Ziel ist es, Spannungen und mögliche Konflikte durch ein besseres Verständnis unter den verschiedenen Kulturen und Religionen abzubauen. Der Dialog kann zur Änderung von Haltungen gegenüber dem Dialogpartner beitragen. Er dient andererseits aber auch dazu, sich eigener traditioneller kultureller und religiöser Werte, die durch die Internationalisierung der Gesellschaft und die Mobilität und Flexibilität modernen Lebens bedroht sind, neu bewußtzuwerden, sie zu würdigen und zu erhalten. Der interreligiöse Dialog bleibt dabei zum einen an die Grundwahrheiten des eigenen Glaubens gebunden, zum anderen ist er dem Respekt vor dem Glauben und der Freiheit des anderen verpflichtet.
  2. Neben äußeren Umständen, die in der vielfältigen Vernetzung der modernen Welt Begegnungen zwischen Kulturen und Religionen schaffen, drängen auch die gesellschaftlichen Bedingungen des Zusammenlebens zum interkulturellen und interreligiösen Dialog. Die Menschenrechte als universale Grundrechte sowie demokratische Staats- und Lebensformen anerkennen unter dem Gebot der Toleranz die kulturelle und religiöse Verschiedenheit und nötigen doch zum Dialog. Voraussetzung für ein Gelingen dieses Dialogs ist die Gleichbehandlung der Mitglieder der verschiedenen Kulturen und Religionen in einer gemeinsamen rechtlichen, politischen und sozialen Ordnung. Auch die Kulturen von Minoritäten müssen sich der Anerkennung sicher sein dürfen, damit Dialog und interkulturelles Lernen auf den verschiedenen Ebenen zustande kommen können.
  3. Durch geschichtliche Vorerfahrungen ist dieser Dialog belastet. Die westliche Kultur hat in der jüngeren Geschichte gegenüber allen anderen Religionen und Kulturen in Afrika, Lateinamerika, Asien, Australien dominiert. Es wird immer wieder beklagt, daß von dieser Kultur ein "Imperialismus" ausgehe, der die Weltgesellschaft nicht nur ökonomisch und politisch, sondern durch Macht und weltweite Präsenz der westlichen Medien auch kulturell beherrsche. Unter diesem Eindruck kann unter den Angehörigen verschiedener Kulturen und Religionen eine doppelte Wirkung entstehen: Einerseits eine Unfähigkeit zum Dialog, wenn die eigene Kultur selbstverständlich als überlegen angesehen wird; andererseits eine Verweigerung des Dialogs, wenn die eigene Kultur nicht als gleichwertig anerkannt und als rückständig angesehen wird.
  4. Zu Unrecht wird das Christentum mit dieser Art westlicher Kultur identifiziert, auch wenn es als bedeutender geschichtlicher Einflußfaktor gewirkt hat. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß die christlichen Kirchen wie die westliche Kultur aus einem falschen Selbstverständnis heraus sich lange Zeit gegenüber anderen Religionen und Kulturen teilweise dialogfeindlich verhalten haben.
  5. Durch die Verweigerung von interkulturellem und interreligiösem Dialog ergaben sich im Laufe der Geschichte immer wieder Feindbilder mit verhängnisvollen Folgen. So haben die Juden nicht zuletzt aufgrund der jahrhundertelangen Verweigerung eines Dialogs in einem gewalttätigen Antisemitismus immer neue Verfolgung erfahren.
  6. Ein anderes traditionelles Beispiel gesellschaftlicher Dialogverweigerung erfahren auch noch heute Sinti und Roma. Durch Jahrhunderte wurden sie in allen Ländern verfolgt, des Landes verwiesen, kulturell diskriminiert oder gar rassistisch verfolgt und umgebracht. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Kultur und Tradition von Sinti und Roma fand bis heute nicht statt. Klischees und Vorurteile bestimmen auch heute noch vielfach das Denken und Verhalten der Mehrheitsgesellschaften gegenüber Sinti und Roma.
  7. Zum Wesen der Kirche gehört der Missionsauftrag, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkündigen. Der interreligiöse Dialog als Methode und Mittel zur wechselseitigen Kenntnis und Bereicherung steht nicht im Gegensatz zum Missionsauftrag, vielmehr in einem inneren Zusammenhang mit ihm. Der interreligiöse Dialog eröffnet den Raum, in dem die eigentliche Verkündigung als Botschaft Gottes gehört werden kann. Die Übergänge zwischen Dialog und Verkündigung sind fließend. Als authentische Elemente des kirchlichen Evangelisierungsauftrages sind sie sowohl in ihrer engen Bindung als auch in ihrer Unterscheidung wahrzunehmen, damit sie weder verwechselt noch mißbraucht werden und auch nicht als austauschbar gelten. Der Dialog ergibt sich somit nicht aus Taktik oder Eigeninteresse. Er hat vielmehr Gründe und Erfordernisse eigener Art. Er hat seinen Ausgangspunkt im Respekt vor allem, was der Geist Gottes im Menschen bewirkt hat.

6.3.3 Begegnung mit Menschen anderer Religionen

  1. Die Migration schafft täglich Begegnungen interkultureller und interreligiöser Art. Im Blick auf den gesellschaftlichen Frieden ist ein Dialog der christlichen Kirchen mit allen großen Religionen und Kulturen unerläßlich. Unabhängig von unterschiedlichen theologischen Sichtweisen tragen die großen Religionsgemeinschaften heute alle Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft in dieser gefährdeten Welt. Die Begegnungen im interreligiösen Dialog dürfen allerdings nicht auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen beschränkt bleiben, sondern müssen Menschen, die ihren Glauben leben, einbeziehen.
  2. Eine eigene Bedeutung hat der Dialog der Kirchen mit dem Judentum. Bereits die geschichtliche und heute noch nachwirkende Last im christlich-jüdischen Verhältnis macht den Dialog dringlich. Das jüdische Volk, von dem die Christenheit das Gebot empfangen hat, den Fremdling in den eigenen Toren zu achten, erlitt durch christliche Völker immer wieder das Geschick von Flucht und Migration. Die deutsche Geschichte unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts ist zudem durch den Versuch verfinstert, das europäische Judentum systematisch zu vernichten. Notwendig ist der Dialog, weil der christliche Glaube mit dem Judentum unlösbar verbunden ist. Die Gemeinsamkeit hat eine breite Grundlage: die Bibel Israels; der Glaube an den einen Gott, den Schöpfer der Welt und des "Heiligen Israels"; ein reiches Erbe in Gottesdienst und Ethos; die Achtung jedes Menschen, da er "als Abbild Gottes" geschaffen ist; das Gebot, das Recht der Fremden, Waisen und Witwen nicht zu beugen; die gemeinsame Überzeugung, zum Dienst für die Welt von Gott berufen zu sein.
  3. Die Zahl der Gläubigen anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland wächst. Die christlichen Kirchen, die die Mehrheitsgesellschaft prägen, müssen darauf drängen und dazu beitragen, daß die Begegnungen mit Menschen anderer Kulturen und anderer Religionen zunehmen und dabei Anerkennung und Wertschätzung der Menschen und der Werte ihrer kulturellen und religiösen Herkunft vertieft werden. Es muß das gemeinsame Anliegen aller sein, Perspektiven für das Zusammenleben vor Ort, in der Gesellschaft und zur Gestaltung des Staatswesens zu entwickeln, die von allen anerkannt und ausgefüllt werden können. Widerstreitende Interessen müssen im Rahmen gemeinsamer Werte, die Einheimische und Zugewanderte verbinden, im Dialog bereinigt werden.

6.3.4 Christen und Muslime

  1. An die 2,5 Millionen Muslime leben in Deutschland. Die meisten von ihnen wurden als ausländische Arbeitnehmer aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Tunesien und Marokko angeworben. Eine nicht geringe Zahl kam als Flüchtlinge aus vielen Ländern, vor allem aus Schwarzafrika und Asien. Wenig bekannt ist, daß sich zu den Muslimen ebenfalls auch einige tausend Einheimische zählen. Wenn sich die Muslime in ihrem Glauben auch eins wissen, so kommen sie doch aus unterschiedlichen Glaubenstraditionen und Kulturen. Sie versuchen in Deutschland ihren Glauben soweit möglich in den von den Vätern weitergegebenen Traditionen, Gebräuchen und Sitten zu leben. Ähnlich wie Christen leben die Muslime ihren Glauben mit unterschiedlicher Intensität.
  2. Der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen ist erschwert durch die äußere Situation. Muslime sind überwiegend ausländische Staatsangehörige und leben als religiöse wie auch als gesellschaftliche Gruppe in der Minderheit. Sie suchen, in zumeist schwierigen Lebensumständen ihr persönliches, religiöses und kulturelles Leben zu verwirklichen. Diese Aspekte erschweren als oft unbewußt mitwirkende Einflüsse die Begegnung mit den Muslimen. Spannungen können sich auch daraus ergeben, daß Muslime oft für sich geschlossen in Siedlungsverdichtungen wohnen.
  3. Aktuelle Bewegungen im Islam zeigen durch ihre fundamentalistische Richtung ein eher abstoßendes Bild, so daß die Begegnung mit den Muslimen durch diese den Islam verzerrenden Erscheinungsweisen Irritation erfährt. Auch die rechtliche, gesellschaftliche und soziale Benachteiligung von Christen in islamischen Ländern erschwert eine vorbehaltlose Begegnung zwischen Christen und Muslimen. Das gegenseitige Einräumen von rechtlicher und gesellschaftlicher Gleichbehandlung ist ein Erfordernis aus dem Verständnis der Grundrechte des Menschen und demokratischer Gesellschaftsformen. Jede Bereitschaft zum Dialog fördert die Überwindung von Denkweisen, die statt eines offenen Gesprächs über das Gemeinsame und das Unterschiedliche die Konfrontation suchen und aus der Feindschaft gegeneinander leben.
  4. Der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen ist auch erschwert, weil er anspruchsvoll ist von seinen inneren Bedingungen her. Der Islam nimmt insofern eine einzigartige Stellung ein, als er die einzige nachchristliche Weltreligion ist. Jeweils von ihrem Selbstverständnis her sind der Islam wie der christliche Glaube universal. Es erfordert eine besondere Kultur des Dialogs, daß Christen und Muslime einander in der Universalität ihres Glaubens ernst nehmen, daß sie in positiver Anerkennung des Gemeinsamen lernen, die Unterschiede wahrzunehmen und zu verstehen. Wo auch im Einsatz für gemeinsame humane Ziele ein gewisser Grad von gegenseitiger Sympathie und Kooperation gewachsen ist, wird auch der Weg frei für einen theologischen Dialog und für den Austausch geistlicher Erfahrungen.
  5. Die Begegnung mit Muslimen und das interreligiöse Gespräch mit dem Islam zeigen einen großen Nachholbedarf an gegenseitiger Aufklärung über Glauben und Traditionen. Ein hoher Vorschuß an gegenseitigem Vertrauen muß den Dialog und die Begegnung untermauern. Der beiderseitige Wille zu einer gemeinsam zu gestaltenden Zukunft in Frieden müssen stets als Ausgangspunkt und Ziel das Gespräch und jede Begegnung bestimmen. Im derzeitigen Stadium der Begegnung geht es vor allem darum, die auf beiden Seiten vorhandenen Ängste und angestaute Aggressionen durch ehrliche, offene Gespräche abzubauen, sich gegenseitig Vorurteile bewußtzumachen sowie Verständnis und Achtung für den anderen, für die andere Religion, Kultur und Lebensweise zu wecken. Wenn Christen und Muslime einander offener und verständnisvoller begegnen und bei ihren Bemühungen um Brückenschlag lernen, ihre eigene Welt aus der Sicht des anderen zu begreifen, können auch die Meinungsunterschiede heraus- und aufgearbeitet werden.

6.4 Aufgaben in den christlichen Gemeinden beim Zusammenleben mit Fremden

6.4.1 Möglichkeiten der Begegnung und des Zusammenlebens vor Ort

  1. In den christlichen Gemeinden wie in ihrem bürgerlichen Umfeld wird die Anwesenheit fremder Kulturen und anderer Religionen unterschiedlich wahrgenommen, teils auf dem Wege direkter Nachbarschaft oder Begegnung im alltäglichen Leben, teils indirekt über die Medien. Auf dem Hintergrund von undifferenziertem Wissen entsteht vor allem Fremdenangst. Nur selten kommt sie aus der unmittelbaren Begegnung.
  2. Die christlichen Gemeinden müssen in der Gemengelage von oft unzureichender Information und emotionaler Vorbelastung einerseits und ihrem eigenen christlichen Auftrag andererseits zunächst dem Menschen im Fremden zu begegnen versuchen. Innere Barrieren werden überwunden vor allem durch sachliche Information über das Einzelschicksal des Fremden, seine Herkunft, Kultur und Religion. Ein Schwerpunkt sollte deshalb in der Bildungsarbeit der Gemeinden gesetzt werden, um Einheimische und Fremde zur gegenseitigen Begegnung zu befähigen, zu ermutigen und die Begegnung zu fördern. Das Bemühen, durch gegenseitiges Kennenlernen zu gegenseitiger Akzeptanz zu finden, kann durch ein ökumenisches Eintreten für den interreligiösen und interkulturellen Dialog Signale setzen und die Wirkung verstärken.
  3. Eine Reihe von Schwierigkeiten behindern das Gespräch in den christlichen Gemeinden. Sie müssen deshalb auch ins Bewußtsein gebracht werden, um ihre negativen Auswirkungen zu vermeiden. Darunter sind zu nennen: die ungenügende Verwurzelung im eigenen Glauben; ungenügende Kenntnis von und fehlendes Verständnis für Kultur, Glaube und Praxis anderer Religionen, was zu einem Mangel an Wertschätzung für deren Bedeutung und manchmal zu völlig falschen Vorstellungen führt; kulturelle Indifferenz, die nicht selten von unterschiedlichem Bildungsnivau herrührt; geschichtsbedingte Belastungen und soziopolitische Faktoren; Selbstzufriedenheit und Mangel an Offenheit, aus denen sich defensives oder aggressives Verhalten herleiten kann; Mißtrauen gegenüber den Motiven der Dialogpartner; polemische Gesinnung; Intoleranz, vermischt mit politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Vorurteilen; Auswüchse des allgemeinen gesellschaftlichen und religiösen Klimas wie Gleichgültigkeit oder Materialismus; fehlende Überzeugung vom Wert des Dialogs, der als ein Zeichen von Schwäche oder sogar als Verrat an der eigenen Kultur und des eigenen Glaubens interpretiert wird.
  4. Im vielfältigen Prozeß interkultureller und interreligiöser Begegnung zwischen Einheimischen und Fremden darf nicht zuerst das Trennende untersucht und in den Blick genommen werden, sondern müssen vorrangig die verbindenden Gemeinsamkeiten gesucht und herausgehoben werden. Verbindende Traditionen zeigen sich in Gebet, Mystik, Fasten, Meditation und spirituellem Leben. Verbindend sind auch die gemeinsamen Ziele von Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Ablehnung von Ausgrenzung, Solidarität und die Bewahrung der Schöpfung in einer gemeinsamen Zukunft. Die Begegnung braucht eine Atmosphäre des Vertrauens, um im Zusammenleben fruchtbar werden zu können.

6.4.2 Ermutigende Beispiele

  1. So notwendig Informationen sind über den zuwandernden fremden Menschen und über Ursachen und Zusammenhänge von Migration und Flucht, so wird die Angst vor dem anderen und Fremden in der Regel nur überwunden, indem Einheimische und Fremde einander begegnen, miteinander arbeiten, miteinander Erfahrungen machen. Dann entdeckt der eine in dem anderen den Mitmenschen. Es gibt sehr viele ermutigende Beispiele eines solchen gelungenen Miteinanders. Solche ermutigenden Erfahrungen in der Öffentlichkeit ausdrücklich darzustellen - auch als Gegengewicht gegen die negativen Beispiele, die oft Schlagzeilen machen - ist ein wichtiger Beitrag zur Überwindung von Fremdenfeindlichkeit. In Gemeinden, in denen Fremde leben, gibt es viele Situationen und Probleme, die Christen mit Dialog und Hilfe aufgreifen können. Zur Konkretisierung sollen einige Beispiele aufgezeigt werden, die für viele stehen und die in vielen Gemeinden praktiziert werden:
  2. Bei Sprachschwierigkeiten können "Sprachpartnerschaften" in vielerlei Formen eingegangen werden, wie Familieneinladungen zu gemeinsamen Unternehmungen, Sprachkurse, organisierte Nachhilfe für Schulkinder, Hausaufgabenhilfe sowie Betreuung von Kindern, die sonst ohne Aufsicht sind.
  3. Fremde Jugendliche sind oft besonders verunsichert und neigen dazu, in ihrer Herkunftssprachgruppe unter sich zu bleiben: die Gemeinde kann ihnen Räume für einen Treffpunkt organisieren oder zur Verfügung stellen und die Begegnung mit Jugendgruppen und einheimischen Jugendlichen initiieren. Vor allem durch Angebote in der Freizeit, in der gemeinsamen Aktivität bei Sport, Musik, Spiel und Festen, zu denen Fremde partnerschaftlich und verantwortlich in die Planung einbezogen werden und mitwirken können, wird Begegnung vertieft und entstehen tragende Beziehungen.
  4. Flüchtlinge stehen unter großer seelischer Belastung, denn sie haben zunächst wenig Zukunftsperspektiven und erfahren die Fremde doppelt schwer, da sie diese nicht freiwillig gesucht haben. Sie leben zwischen den beiden Welten des Hierseins und der erwünschten Rückkehr. Kontakte, die aus hilfreichen Begegnungen zu engeren Beziehungen führen, werden hier besonders als Zeichen der Menschlichkeit empfunden. So kann eine Gemeinde Beratungs- und Besuchsdienste aufbauen, die den Flüchtlingen Hilfe beim Zurechtfinden in unserer Welt anbieten, beim Gang zu den Ämtern oder beim Abfassen von Schreiben. Eine Anlaufstelle mit Sprechstunde für alle Anliegen und Nöte, die regelmäßig abgehalten wird, kann als organisatorisches Instrument ein Ansatz für viele menschliche Begegnung werden.
  5. Asylbewerber, die meistens ohne Familie nach Deutschland kommen und alleinstehend und entwurzelt aus ihren sozialen Beziehungen hier leben, sind einsam und oft gesetzlich erzwungen ohne Beschäftigung. Mit ihnen kann Begegnung geschaffen und Dialog begonnen werden durch die Organisation von Treffpunkten oder die Bereitstellung von Materialien, um Beschäftigung zu ermöglichen.
  6. Aussiedler, die endlich nach Deutschland kommen, haben eine schwierige Übergangsphase zu durchleben, bis sie sich ein neues Lebensumfeld geschaffen haben. Nicht selten finden sie Deutschland anders vor als sie es erwartet haben. Auch trifft sie oft die ganze Härte gesellschaftlicher Vorbehalte gegenüber Fremden. Darum empfinden sie in der Regel einen Besuchsdienst bei ihrem Zuzug und persönliche Kontakte zur Pfarrgemeinde in dieser Lebenssituation als besonders hilfreich. Sie erfahren dadurch ein Stück selbstverständlicher Gastfreundschaft. Wenn sich ihnen Gemeindemitglieder für die Orientierung in dem neuen Umfeld bei den kleinen und großen Problemen des Alltags (Behördengänge, Schule, Kindergarten, Ärzte, Einkauf etc.) begleitend zur Seite stellen, kann aus solchen Begegnungen ein gegenseitiges Kennenlernen und ein Weg des Miteinanders werden.
  7. Die christlichen Gemeinden haben nicht selten auch die Möglichkeit, im kommunalpolitischen Bereich für die Erleichterung des Schicksals von zugewanderten Fremden einzutreten und konkrete Maßnahmen bei den Verantwortlichen für die Kommune in Politik oder Verwaltung anzustoßen.

6.4.3 Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall ("Kirchenasyl")

  1. Immer wieder kommt es vor, daß Kirchengemeinden Flüchtlinge und Asylbewerber vorübergehend in kirchlichen Räumen aufnehmen, um sie vor einer drohenden Abschiebung zu schützen. Nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel durch die Betroffenen sehen manche in der Gewährung eines solchen "Kirchenasyls" häufig die letzte Möglichkeit, um in einem konkreten Einzelfall Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden und eine drohende Gefahr für Leib und Leben im Rückkehrland abzuwenden. Die Bemühungen der Zuflucht gewährenden Kirchengemeinden sind dabei regelmäßig darauf gerichtet, bei den verantwortlichen Stellen eine erneute Überprüfung des Falles unter Berücksichtigung aller in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte zu erreichen sowie eine Aufhebung der Abschiebeentscheidung zu erwirken. Tatsächlich hat sich in vielen dieser Fälle auch herausgestellt, daß Abschiebehindernisse vorlagen oder Gefahren für Leib, Leben und Freiheit im Asylverfahren nicht erkannt wurden. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" haben seit 1983 etwa 2.500 Personen in Kirchengemeinden Schutz vor einer unmittelbar bevorstehenden Abschiebung gefunden. In etwa 70 % der Fälle von Schutzgewährung von Kirchengemeinden konnten diese rechtliche oder humanitäre Lösungen zugunsten bedrohter Flüchtlinge erwirken. Diese reichten von einer Anerkennung nach Art. 16a GG bis hin zur freiwilligen Rück- oder Weiterreise in Zusammenarbeit mit den Behörden.
  2. Die kirchlichen Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit im allgemeinen und diejenigen mit der Schutzgewährung durch Kirchengemeinden im Einzelfall im besonderen belegen, daß angesichts der anhaltend großen Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die in Deutschland Schutz suchen, und einer weitgehenden Schematisierung der Anerkennungsregeln sorgfältige Einzelfallüberprüfungen nicht immer vorgenommen werden können. Rechts- und Verfahrensverstöße können deshalb vorkommen. Das Asylrecht stellt auf den unbestimmten Rechtsbegriff der "politischen Verfolgung" ab. Ob eine solche gegeben ist oder nicht, hängt davon ab, ob sich konkrete Tatsachen feststellen lassen, aus denen der Rückschluß auf eine politische Verfolgung zu ziehen ist. Das setzt voraus, daß das Tatsachenmaterial vollständig ist und verlangt, daß dem Betroffenen ausreichend rechtliches Gehör geschenkt wird. Die auf dieser Grundlage vorgenommenen Bewertungen bleiben wie bei jedem Akt menschlicher Erkenntnis naturgemäß Zweifeln unterworfen. Es ist daher verständlich und auch legitim, wenn Kirchengemeinden in bestimmten Einzelfällen nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich schützend vor einen Menschen stellen zu müssen, um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende Grundrechtsschutz versagt wird.
  3. Gleichwohl ist und bleibt die Praxis des "Asyls in der Kirche" umstritten, vor allem wenn sie zu Konflikten mit staatlichen Stellen führt. Weder nehmen die Kirchen damit aber für sich einen rechtsfreien Raum in Anspruch noch bestreiten sie dem Staat das Recht, seine Entscheidungen gegebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume durchzusetzen. Es ist von ihrem Selbstverständnis her Aufgabe der Kirchen, immer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen verletzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen ergibt. Die Praxis des sogenannten "Kirchenasyls" ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik, ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahren. Kirchengemeinden, die sich für die Verwirklichung dieser Menschen- und Grundrechte einsetzen, stellen daher nicht den Rechtsstaat in Frage, sondern leisten einen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens und der Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie verdienen für ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den Grundlagen unseres Glaubens gehören, gurndsätzlich Unterstützung und Anerkennung. Diejenigen, die aus einem Gewissenskonflikt heraus weitergehen und sich zu einem begrenzten Verstoß gegen bestehende Rechtsvorschriften entschließen, müssen dafür freilich wie bei allen Aktionen zivilen Ungehorsams auch selbst die Verantwortung tragen.

6.5 Aufgaben auf der Leitungsebene der Kirchen

  1. Die Äußerungen und das Handeln der Verantwortlichen in der Leitungen der Kirchen setzen Signale und markieren Orientierung für die Christen, aber auch darüber hinaus für die ganze Gesellschaft.

6.5.1 Zeugnis geben für den Glauben

  1. Die Kirchen sehen sich zuallererst selbst in die Pflicht genommen zu Gespräch, Zusammenarbeit und Glaubenszeugnis gegenüber anderen Religionen und Kulturen. Dazu gehört der Respekt vor Kultur und Religion anderer Völker und Glaubensgemeinschaften, verbunden mit der Achtung ihrer geistlichen und sittlichen Werte.
  2. Für die geistige Auseinandersetzung in der eigenen Kirche, aber auch für die politische Debatte in der Gesellschaft ist es zur allgemeinen Orientierung wichtig, daß sich die christlichen Kirchen in der Öffentlichkeit für die anderen Glaubensgemeinschaften und Kulturen, die durch die Zuwanderer heute auch in Deutschland in Erscheinung treten, politisch einsetzen. Dies schärft nicht nur das Gewissen der Christen in Verpflichtung gegenüber dem christlichen Glauben, sondern weckt auch bei den Menschen anderer Religionen und Kulturen Vertrauen. Die emotionale Distanz, die oft den interreligiösen und interkulturellen Dialog behindert, kann sich dadurch in ein Verstehen wandeln, das der Akzeptanz vorausgeht.
  3. Die christlichen Gemeinden selbst bedürfen immer wieder der Aufforderung und der Ermutigung, das Zusammenleben mit Menschen anderer Religionen und Kulturen im dialogischen Geist zu wagen und zu gestalten. Gerade hier sind die Tugenden der Toleranz konkret einzuüben. Eine positive Einstellung zu Minderheiten muß erreicht werden, damit sich ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben im Sinne eines Gemeinwohls für alle entwickeln kann. Viele Begegnungen im Alltag finden bereits aus dem Geist der Mitmenschlichkeit und des partnerschaftlichen Respekts statt.
  4. Den Kirchen kommt aus ihrem Auftrag auch ein Wächteramt zu. Sie treten für die Menschenwürde und die daraus fließenden Rechte für alle Menschen ein. Christen können Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn anderen Menschen, die auch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die geschwisterliche Haltung verweigert wird. Deshalb widersprechen die christlichen Kirchen jeder Diskriminierung von Menschen und jedweder Ausgrenzung wegen Rasse oder Hautfarbe, wegen Stand, Herkunft oder Religion.
  5. In einer pluralistischen Gesellschaft haben sich die Kirchen vor allem für die Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen aus christlichem Geist einzusetzen, um die Menschenrechte und Menschenwürde für jeden zu sichern. Sie müssen sich deshalb als gesellschaftliche Kräfte in einem demokratischen Gemeinwesen an der öffentlichen Diskussion und der fachlichen Begleitung entsprechender Gesetzgebungsverfahren engagiert beteiligen.

6.5.2 Hilfen auf den Ebenen von Organisation und Verwaltung

  1. In kaum einem anderen Arbeitsfeld haben die christlichen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten so starke Gleichsinnigkeit und so viel Gemeinsamkeit in der Arbeit entwickelt wie bei der Aufnahme und in der Sorge für die vielen Fremden, die seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland gekommen sind. Dies ist auch ein Teil des Zeugnisses für die Sorge Jesu, "daß alle eins sind" (Joh 17,11). In strittigen politischen Situationen haben sich die christlichen Kirchen gemeinsam oder in ähnlich lautenden Interventionen für die Menschenrechte der Fremden, vor allem für die Familieneinheit und für das Asylrecht, eingesetzt.
  2. Von den verschiedenen kirchlichen Einrichtungen sollten Impulse ausgehen, das Gemeinsame herauszuarbeiten, zu fördern und bekannt zu machen und in gegenseitiger Unterstützung das Trennende aufzuarbeiten. Möglichkeiten bieten sich dazu vielfältig über die Arbeit in der Erwachsenenbildung der Akademien sowie über die wissenschaftliche Forschung in den theologischen Fakultäten.
  3. Ein weites Feld für gemeinsame und koordinierte Organisation und Verwaltung ist die Gemeindearbeit. Sowohl in ihren Grundlagen wie in der theologisch-wissenschaftlichen Lehre an Universitäten bedarf sie der Ausrichtung auf den interreligiösen und interkulturellen Dialog. Katecheten deutscher wie auch nichtdeutscher Muttersprache in den Gemeinden, die Religionslehrer in den Schulen, ganz besonders die konfessionellen Schulen selbst müssen für diesen Dialog besonders vorbereitet sein. Über konkrete Vorgaben bieten sich viele Möglichkeiten an, Begegnungen zu fördern und zu unterstützen. Insbesondere ist die Seelsorge in Gemeinden nichtdeutscher Sprache in den korrespondierenden Prozeß des Dialogs einzubeziehen.

6.5.3 Aufgaben von Diakonie und Caritas

  1. Caritas und Diakonie sind im Auftrag der christlichen Kirchen tätiges Zeugnis von der Botschaft Jesu. Diesem Auftrag entsprechend sind sie zur Hilfe herausgefordert für jeden Fremden ohne Ansehen von Geschlecht, Religion, Ideologie, Farbe, Nationalität und Herkunft.
  2. Diakonie und Caritas müssen in doppelter Sicht ihre Arbeit ausrichten: Zunächst als akute Soforthilfe für Menschen in Not; zum anderen durch Erforschen der Ursachen der Probleme beitragen zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung im gesetzlichen oder administrativen Bereich.
  3. Die sozialen Dienste der Kirche sollen den Migranten Hilfestellung bei der Aufnahme und Orientierung ins neue Lebensumfeld geben und sie bei allen mit der Migration in Zusammenhang stehenden Problemlagen beraten und durch Angebote und Maßnahmen die Integration fördern. Ihr Ziel muß es sein, Migranten zu unterstützen und darin zu bestärken, ihre Situation zu klären und eigene Entscheidungen hinsichtlich ihres zukünftigen Lebensweges zu treffen.
  4. Von den Prozessen der Zuwanderung und der gegenseitigen Integration sind nicht nur Migranten und ihre Familien betroffen, die kurzfristig oder auf Dauer in Deutschland verbleiben und denen gezielte Angebote die Integration erleichtern können, sondern auch die Einheimischen, die oft mit gemischten Gefühlen und verunsichert die Veränderungen der eigenen Lebenswelt durch die Zuwanderung erleben. Die kirchlichen Sozialdienste müssen die Not beider Bevölkerungsgruppen aus dem Verständnis einer Brücken- und Vermittlungsfunktion aufgreifen. Sie müssen alle ihre sozialen Fachdienste gezielt auch für den Migrationsbereich öffnen, spezielle Fachdienste entwickeln sowie mit gezielten Projekten spezielle Notlagen angehen.
  5. Das Aufgabenfeld für die sozialen Dienste der Kirche im Migrationsbereich ist vielfältig und weit. Es umfaßt den einzelnen Notleidenden genau so wie sein Umfeld und die ganze Gesellschaft mit ihren für diese Notsituationen möglicherweise unzulänglichen Rahmenbedingungen. In der Gesellschaft ist deshalb vorrangig eine Anwaltschaft wahrzunehmen, vor allem durch gezielte sachliche Öffentlichkeitsarbeit für die Menschen, die als Fremde sich selbst noch nicht hinreichend vertreten können. Persönliches und gesellschaftliches Begegnen muß gefördert werden, um im Zuge des gegenseitigen Kennenlernens Solidarität zu wecken und ein Klima der Akzeptanz entstehen zu lassen. Das Mitwirken von ehrenamtlich Tätigen hat dabei eine besonders hohe Bedeutung, denn durch ihr Tätigwerden bezeugen und verwirklichen sie die Annahme der Migranten und helfen mit, das Fremdsein abzubauen. Ihre Hilfe ist doppelt wirkungsvoll, weil sich ihre Aktivitäten vielerorts gleichermaßen auf persönliche Zuwendung und Unterstützung wie auf die engagierte Anwaltschaft für Migranten im kommunalen Umfeld richten.
  6. Der einzelne Fremde bedarf am Anfang vor allem der Orientierungshilfen, um Eigeninitiative und Selbsthilfe zu wecken. Bei längerer Dauer zeigen sich meistens Konflikte des Migrationsprozesses im psychosozialen Bereich, die einer Beratung bedürfen. Die Sozialdienste der Kirchen müssen deshalb intensiv kooperieren mit denen, die für die Seelsorge der Fremden Verantwortung tragen, sowie auch mit Vereinen, Initiativen und Selbsthilfegruppen der Fremden und nicht zuletzt den sozialen Fachdiensten freier Verbände oder öffentlicher Träger.