"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist."

2. Geschichtliche Erfahrungen und Einsichten in Deutschland

2.1 Fremdenangst und Politik im vereinigten Deutschland

  1. Anfang der 1990er Jahre machten spektakuläre Vorfälle zwischen Einheimischen und Fremden schlagartig deutlich, daß ein erhebliches Potential von Fremdenangst, gewaltbereiter Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlicher Gewaltakzeptanz im vereinigten Deutschland vorhanden ist. Dabei handelt es sich freilich um kein neues, erst mit der Vereinigung aufgetretenes Phänomen. Auslöser waren die erheblich ansteigenden Asylbewerberzahlen, die in den Asylverfahren kaum mehr bewältigt werden konnten. Hintergrund war zum einen eine seit vielen Jahren zu beobachtende mangelhafte politische und gesellschaftliche Gestaltung der Probleme der Migration und des Zusammenlebens mit Flüchtlingen und Minderheiten. Hintergrund war zum anderen aber auch die unübersichtliche Situation im Vereinigungsprozeß der frühen 1990er Jahre.
  2. Die von den Medien um die Welt getragene neue Xenophobie in Deutschland war keineswegs ausgesprochen deutsch. Fremdenfeindlichkeit gibt es auch in anderen europäischen Ländern, und sie hat auch dort eine lange Geschichte. Aber die Welt erinnerte sich der jüngsten deutschen Geschichte; denn die neue Fremdenfeindlichkeit in Deutschland steht im Schatten der Jahre 1933-1945.
  3. Die Exzesse auf den Straßen im vereinigten Deutschland, der lange Schatten der Geschichte und das prononcierte Interesse der Medien an Berichten über fremdenfeindliche Aggressivität haben indes auch zu Zerrbildern und Fehleinschätzungen geführt: Von den berühmten Lichterketten und Anti-Gewalt-Demonstrationen im Winter 1992/93 einmal ganz abgesehen, geriet die bei weitem überwiegende, schlichte Normalität des friedlichen Zusammenlebens zwischen Mehrheit und zugewanderten Minderheiten aus dem Blick. Ähnliches galt für die große Zahl von Gegenströmungen, hilfreichen Initiativen und unübersehbar vielen organisierten und spontanen Hilfen im Alltag - von der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen über die Bewachung ihrer Unterkünfte bis hin zum Schutz von abgelehnten Asylbewerbern vor drohender Abschiebung.
  4. Seit dem Herbst 1991 schließlich ging es nicht mehr allein um Fremdenangst und die Sorge vor wachsender Fremdenfeindlichkeit, sondern um ganz konkrete Ängste vor Tätern und um Opfer: Vorwiegend jugendliche Täter schockierten, zuerst im Osten, dann auch im Westen, mit der Kampfparole "Ausländer raus"; es kam zu Straßenjagden auf Fremde. Ihre Opfer waren zunächst meist Flüchtlinge und Asylsuchende, die in Deutschland Schutz zu finden hofften vor Verfolgung, Krieg oder Armut und Elend in den Krisenzonen der Welt. Die Aggressionen richteten sich aber auch gegen eine Zuwanderergruppe, die in der düstersten Epoche der deutschen Geschichte zu den Opfern des staatlich organisierten Verbrechens zählte: gegen Roma, die seit dem Ende der 1980er Jahre als Asylsuchende und zum großen Teil aus Rumänien nach Deutschland zugewandert waren.
  5. Zu verzeichnen war außerdem eine wachsende Zahl von antisemitischen Ausschreitungen. Opfer von Aggression und Gewalt wurden schließlich sogar die Schwächsten der Schwachen unter den Einheimischen: Obdachlose und Behinderte. Das aber zeigte, daß es bei den Exzessen um noch mehr ging als um Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit allein: um blinde Gewalt gegen Fremde und Schwache. Sie entstammte einem diffusen Bündel von Orientierungslosigkeit und sozialer Angst, von Frustration und Aggression, von Haß und einer ohnmächtigen Wut, die ihre eigenen Ursachen nicht kennt und sie deshalb bei anderen sucht.
  6. Entsetzen erregten nicht nur Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit jener martialischen Jugendbanden, die Anfang der 1990er Jahre im Ausland das neue Bild vom häßlichen Deutschen prägten, sondern auch die wachsende Akzeptanz von Gewalt in der Bevölkerung. Die Entwicklung fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Gewalt kann nicht hinreichend als Resultat gesellschaftlicher und ökonomischer Krisensituationen, erzieherischer Defizite oder gewaltbereiter jugendlicher Subkulturen verstanden werden. Sie ist auch Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Konfliktes um die Zuwanderung, der angesichts der Konzentration von Aussiedlern und Asylbewerbern an vielen Orten Deutschlands aufbrach.
  7. Zu wachsender Fremdenfeindlichkeit in der alltäglichen Begegnung kamen bald nächtliche Brandanschläge: zuerst und zumeist auf die Unterkünfte von Asylsuchenden, zuweilen aber auch auf diejenigen von Aussiedlern. Hinzu traten seit 1992 Brandanschläge auf Wohnungen türkischer Familien. Zu solchen fremdenfeindlichen Anschlägen kam es unter anderem in Hoyerswerda (17.-22.09.1991), wo Asylsuchende aus ihren Unterkünften vertrieben, beim Abtransport angegriffen und durch Steinwürfe verletzt wurden, in Hünxe (3.10.1991), wo zwei Flüchlingskinder bei einem Brandanschlag schwer verletzt wurden, in Rostock-Lichtenhagen (23.-27.08.1992), wo Asylsuchende unter öffentlichem Beifall tagelang in ihren schließlich brennenden Unterkünften belagert und angegriffen wurden, in Mölln (23.11.1992) und in Solingen (29.05.1993), wo seit langem in Deutschland lebende bzw. hier geborene und aufgewachsene Mitglieder türkischer Familien in ihren Häusern verbrannten oder schwer verletzt die Brandanschläge überlebten. In der Nacht zum 25. März 1994 brannte in Lübeck zum erstenmal seit dem nationalsozialistischen Novemberpogrom von 1938 wieder eine Synagoge in Deutschland.
  8. Im Ablauf des fremdenfeindlichen Geschehens gab es mehrere große, von dramatischen Ereignissen ausgehende Wellen der Gewalt, die im Fernsehen landesweit verfolgt werden konnten. Unter den Tatorten überwogen Dörfer, Klein- und Mittelstädte. Die vorwiegend jugendlichen Täter kamen meist aus Nachbarschaft oder Nachbarorten. Angriffsziele waren in erster Linie Ausländer- und vor allem Asylbewerberunterkünfte.
  9. Eine erste Gewaltwelle ging aus von den Ereignissen in Hoyerswerda, die einer terroristischen Inszenierung bzw. einem Pogromstart glichen und mit "Erfolg" für die Täter endeten (Zurückhaltung der Polizei, Abtransport der Ausländer). Sie wurde vorangetrieben durch Medienberichte über sich scheinbar gegenseitig legitimierende Nachahmungsaktionen in ganz Deutschland. Nicht eben abschreckend für Anschlußtäter wirkten auch zunächst einige bemerkenswert milde, mehr um Verständnis für die Täter als um die Ächtung ihrer Taten und die Leiden der Opfer bemühte Gerichtsurteile.
  10. Eine zweite große, ganz ähnlich aufsteigende Welle war im Anschluß an die ebenfalls als Tat "erfolgreich" und für die Täter wenig folgenreich wirkenden Rostocker Krawalle zu beobachten. Die vom Schock der Möllner Morde forcierten, auf die Isolation der Täter zielenden bundesweiten Aufklärungskampagnen, aber auch Lichterketten und Anti-Gewalt-Demonstrationen im Winter 1992/93 führten zu einer gewissen Reduzierung der Gewalttaten.
  11. Auch dies brachte keine dauerhafte Deeskalation: Nach den Mordanschlägen von Solingen am 29. Mai 1993 bäumte sich eine dritte Gewaltwelle auf. In ihrem Verlauf setzte die Ahndung der Möllner Tat als Mord ein aufsehenerregendes Signal, das der Gewaltwelle aber nicht abrupt Einhalt zu gebieten vermochte.
  12. Während die Gegenströmungen im Winter 1992/93 in der Tat eine deutliche Isolierung gewalttätiger bzw. gewaltbereiter fremdenfeindlicher Gruppen anzeigten und bewirkten, setzten - noch während die dritte Gewaltwelle im Anschluß an die Solinger Morde lief - schärfere Maßnahmen und Verbote gegen rechtsextremistische Organisationen und die harten Strafen für die Täter von Mölln ein deutliches Signal.
  13. Latent oder offen gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit ist zwar, wie Umfragen zeigen, eine - noch immer starke - Minderheitenposition geblieben; aber es besteht nach wie vor die Gefahr der Entstehung einer fremdenfeindlichen Bewegung, der allerdings festere Organisationsstrukturen und Führerfiguren fehlen. Mit der wachsenden Verdichtung der Gruppenkontakte in zunehmend auch länderübergreifenden rechtsextremistischen Strukturen nimmt aber auch diese Gefahr zu.
  14. Weil sich, wie die tagelangen Krawalle im Anschluß an die Solinger Morde und verwandte zeitgleiche Aktionen in anderen Städten zeigten, auch unter den potentiellen Opfern der fremdenfeindlichen Bewegung, und hier besonders von in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen türkischer Herkunft, Abwehr-, aber auch Angriffsbereitschaft formiert hatten, war die Gefahr ethnosozialer Konflikte gewachsen. Außerdem kamen aus den Herkunftsländern übergreifende Konfliktpotentiale hinzu, wie sie z. B. in den seit Anfang der 90er Jahre anwachsenden Zahl von planmäßig durchgeführten Anschlägen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf türkische Reisebüros, Banken und Geschäfte verstärkt zum Ausdruck kommen.
  15. Die hochkomplexe Problematik wird oft unter nur teilweise zutreffenden und deshalb vereinfachenden Stichworten wie Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus oder Jugendgewalt diskutiert. In der wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion gibt es die verschiedensten, oft sehr weitreichenden und sich vielfältig überschneidenden Erklärungsansätze und Interpretationsversuche. Bei vielen der weit ausholenden Erklärungsansätze für Fremdenangst und/oder Fremdenfeindlichkeit im vereinigten Deutschland kamen die Kernprobleme selbst - nämlich Einwanderung, Eingliederung, Minderheitenfragen und deren politische Gestaltung - eher am Rande vor. Das ist um so bemerkenswerter, als eine wichtige Ursache für fremdenfeindliche Abwehrhaltungen gerade in der lange anhaltenden Desorientierung in der Bevölkerung gegenüber den gesellschaftlichen Problemen von Migration, Integration und Minderheiten zu suchen ist. Sie hatte ihren Grund auch darin, daß keine hinreichenden Konsequenzen aus der unübersehbaren Tatsache gezogen worden sind, daß die Bundesrepublik tatsächlich seit mehr als einem Jahrzehnt ein Einwanderungsland neuen Typs geworden ist - nicht im rechtlichen, aber im gesellschaftlichen und kulturellen Sinne.

2.2 Geschichte: Erfahrungen und Belastungen

  1. Die beschriebene Lage hat vielschichtige Ursachen. Eine wesentliche Orientierungshilfe zur Gestaltung der Migrationspolitik sowie zum Verständnis und zur Überwindung von Fremdenangst, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt vermögen die historischen Entwicklungen zu vermitteln. Sie wirken auf die politische und sozialpsychologische Situation der Gegenwart ein.
  2. In der Geschichte haben Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland in ungewöhnlich großer Zahl buchstäblich alle denkbaren Erscheinungsformen des grenzüberschreitenden Wanderungsgeschehens erlebt: Aus-, Ein- und Transitwanderungen; Arbeitswanderungen von Deutschen ins Ausland und von Ausländern nach Deutschland; Flucht- und Zwangswanderungen von Deutschen ins Ausland und von Ausländern nach Deutschland, von Deutschen als Opfern und von Deutschen als Tätern, innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen. Außerdem kannte die Geschichte der Deutschen nicht nur die Wanderung von Menschen über Grenzen, sondern auch die Bewegung von Grenzen über Menschen hinweg ebenso wie die Ausgrenzung von "Fremden" innerhalb der Grenzen selbst - Juden, Sinti, Roma und andere. Und schließlich gab es Binnenwanderungen über weite Distanzen, durch die auch vordem "Einheimische" in Deutschland selbst zu "Fremden" werden konnten - von den Ost-West-Fernwanderungen der "Ruhrpolen" und "Ruhrmasuren" aus dem preußischen Osten ins montanindustrielle Ruhr- und Emscherrevier zur Zeit des Kaiserreichs bis zu den Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem ehemals deutschen Osten am Ende und im Gefolge des Zweiten Weltkriegs.
  3. Durch große historische Erfahrung bestimmt, mithin pragmatisch und gelassen könnte also in Deutschland das Verhältnis zwischen Mehrheit und zugewanderten Minderheiten, Einheimischen und Fremden sein, zumal viele Einheimische selbst die Nachfahren von zugewanderten Fremden sind und Millionen von Deutschen einst ebenso Fremde im Ausland waren wie heute Ausländer in Deutschland. Aber die Begegnung zwischen Mehrheit und zugewanderten Minderheiten wird durch historische Erinnerung auch erschwert. Hintergrund ist der - nicht lineare oder gar folgerichtige, aber doch erkennbare - Weg von der völkisch-romantisch verklärten Unterscheidung vom "Fremden" über die ethnisch-nationalistische Agitation gegen das "Fremdartige" zum rassistischen Vernichtungskampf gegen das "Artfremde". Vom grauenhaften Ende dieses Weges kommt der Schatten des millionenfachen Verbrechens an ethnischen, kulturellen, religiösen und anderen Minderheiten im nationalsozialistischen Deutschland und im von Deutschland besetzten Europa. Diese historische Belastung prägt in Deutschland vielfach noch immer die Spannung zwischen diffuser Fremdenangst und demonstrativer Fremdenfreundlichkeit als Kehrseiten der gleichen Störung im Verhalten gegenüber fremden Minderheiten.
  4. Der Sicherheit spendende positive Bezug zur eigenen Kultur und Tradition aber ist eine Voraussetzung für die Kraft zur Toleranz gegenüber dem Fremden. Auch dieser, seit dem düstersten Kapitel der deutschen Geschichte gebrochene historische Bezug zum Eigenen ist in Deutschland noch eine Belastung in der Begegnung mit dem Fremden.
  5. Seit dem späten 19. Jahrhundert haben sich im langfristigen Wandel vom klassischen Auswanderungsland zum Einwanderungsland neuen Typs für Deutschland die transnationalen Bewegungen und die damit verbundenen Probleme geradewegs umgekehrt. Heute hat die Bundesrepublik Deutschland als faktisches Einwanderungsland wider Willen mit Problemen zu schaffen, die Deutsche in der Geschichte bis dahin vorwiegend andernorts verursachten, aber nur in sehr beschränkten Maße im eigenen Land zu bewältigen hatten. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich diese Entwicklung im Westen Deutschlands dramatisch beschleunigt.
  6. Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft Westdeutschlands wurden wie in keinem anderen Industriestaat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts durch grenzüberschreitende Massenbewegungen geprägt. Ins westliche Nachkriegsdeutschland kamen zwischen dem Kriegsende 1945 und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 ca. 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, Flüchtlinge aus der früheren DDR sowie Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa. Außerdem lebten in der "alten" Bundesrepublik am Vorabend der deutschen Vereinigung 1990 rund 5,2 Millionen ausländische Staatsangehörige. Es gibt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts unter den entwickelten Industriestaaten der westlichen Welt keine vergleichbare Dimension.

2.3 Zuwanderung und Eingliederung seit dem Zweiten Weltkrieg

  1. Insgesamt kann man seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland vier verschiedene Zuwanderungs- bzw. Eingliederungsphasen und -probleme unterscheiden: die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen in West- und Ostdeutschland als Folge des Zweiten Weltkrieges, die Entwicklung von der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte über die "Gastarbeiterfrage" zum echten Einwanderungsproblem, die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden und die Aufnahme und Eingliederung von Aussiedlern.
  2. In der Begegnung von Einheimischen und Fremden gab es Beispiele von großer Offenheit und Hilfsbereitschaft wie auch von Vorbehalten und Ablehnung. Bestimmend waren nach dem Zweiten Weltkrieg in den beiden Teilen Deutschlands der in vieler Hinsicht unterschiedliche Umgang mit Zuwanderung und Eingliederung, Ausgliederung und Abwanderung und schließlich auch die Begegnung der einander fremd gewordenen Deutschen im vereinigten Deutschland.

2.3.1 Vertriebenenintegration und Umsiedlerproblematik

  1. Der erste große Eingliederungsprozeß war bestimmt durch die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den früheren deutschen Ostgebieten und aus dem osteuropäischen Raum. Diese Integration wurde dadurch erleichtert, daß es sich im wesentlichen um eine wirtschaftliche und soziale Herausforderung und Aufgabe handelte, die sich in einem gemeinsamen Kulturraum abspielte. Im Westen wurden die Flüchtlinge und Vertriebenen Heimatvertriebene, im Osten Umsiedler genannt. Was im Westen jahrzehntelang von einflußreichen Vertriebenenorganisationen öffentlich als Recht auf Heimat eingefordert wurde, blieb in der DDR als Umsiedlerproblematik tabuisiert mit Rücksicht auf die östlichen Nachbarn. Das gleiche galt dort, von der Rolle der Sowjetarmee gegenüber der Zivilbevölkerung ganz abgesehen, für die öffentliche Beschäftigung mit den traumatischen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung.
  2. Im Westen überdauerte die Aufnahme von Aussiedlern und Spätaussiedlern aus Ost- und Südosteuropa das Ende der Vertreibungen: Fast 1,6 Millionen Menschen passierten von 1951 bis Ende 1988 die Grenzdurchgangslager in der Bundesrepublik. Ihr Kommen erregte immer weniger Aufsehen, abgesehen von der öffentlichen Empörung über Ausreisebehinderungen oder finanzielle Gegenleistungen für die Gewährung der Ausreise. Die Erfahrung der Aussiedlerintegration spielte im Osten Deutschlands keine Rolle. Vergleichsweise gering war im Osten auch die Zuwanderung von asylsuchenden Flüchtlingen, die im Westen seit den frühen 1980er Jahren zu einer starken Wanderungsbewegung anwuchs.
  3. Jenseits der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen dominierten in der DDR bis zum Bau der Mauer 1961, und in abnehmendem Umfang auch danach, nicht Zuwanderung und Eingliederung, sondern Abwanderung und Ausgliederung durch Flucht und, in der Agonie des Systems zuletzt zunehmend, legale Übersiedlung in den Westen. Was dort wegen des Bekenntnischarakters der Flucht aus dem kommunistischen Machtbereich als Abstimmung mit den Füßen zwischen den im Kalten Krieg konkurrierenden Systemen politisch gern akzeptiert und als Arbeitskräftezufluß begrüßt wurde, war in der DDR als 'Republikflucht' ein Straftatbestand und wurde in der öffentlichen Diskussion nach Möglichkeit ebenso totgeschwiegen wie seit Anfang der 1950er Jahre die Umsiedlerproblematik. Viele mit Zuwanderung und Eingliederung, mit Ausgliederung und Abwanderung zusammenhängende Fragen fielen in der DDR mithin öffentlicher Verdrängung anheim. Damit zusammenhängende allgemeine Probleme und individuelle Erfahrungen konnten nicht politisch artikuliert oder gar in öffentlicher Auseinandersetzung ausgelebt werden.

2.3.2 Von der "Gastarbeiterfrage" zur Einwanderungsfrage

  1. Nicht minder gegensätzlich war die Geschichte der Ausländerbeschäftigung, die es in beiden deutschen Staaten gab, von den ganz unterschiedlichen und kaum vergleichbaren Größenordnungen einmal abgesehen. Viele Vertriebene und Flüchtlinge waren in ihrer neuen Heimat im Westen noch nicht voll integriert, als dort der deutsch-italienische Vertrag von 1955 schon den Auftakt gab zur staatlich organisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland, trotz noch rund 1 Million Arbeitsloser. Damit begann die Vorgeschichte des zweiten großen Zuwanderungsprozesses.
  2. Nach Westdeutschland waren die Hilfen des Marshall-Planes geflossen, während im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands auch nach Gründung der DDR noch Industrieanlagen als Reparationsleistungen demontiert und abtransportiert wurden. Der Mauerbau im Osten beschleunigte im Westen nur den Weg zum Einwanderungsland wider Willen: Die unter staatlicher Mitwirkung begonnene Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wurde nach dem Ende des Zustroms aus der DDR 1961 um so mehr forciert. Im Gegensatz zu den "ausländischen Wanderarbeitern" des Kaiserreichs und insbesondere zu den "Fremd-arbeitern" im nationalsozialistischen Deutschland setzte sich für die ausländischen Arbeitskräfte in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland alsbald der Begriff "Gastarbeiter" durch.
  3. Mit den wachsenden Aufenthaltszeiten der ausländischen Arbeitnehmer aber begann schon in den 1960er Jahren der zweite große Eingliederungsprozeß. Er führte über die "Gastarbeiterfrage" der 1960er Jahre zu einem echten Einwanderungsproblem, ohne daß entsprechende Integrationsprogramme aufgelegt wurden. Nach dem Bau der Mauer und dem damit verbundenen Ende des Arbeitskräftezustroms aus Ost- nach Westdeutschland stieg die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer bei anhaltend starkem Wirtschaftswachstum rasch in die Millionen. Bis zur wirtschaftlichen Krise 1973 dauerte die Anwerbung. Rund 14 Millionen kamen in dieser Zeit, etwa 11 Millionen davon kehrten wieder in ihre Heimatländer zurück. Von der Ende 1989 rund 4,8 Millionen zählenden ausländischen Bevölkerung in den alten Bundesländern gehörten fast 3 Millionen zu den aus den früheren Anwerbeländern zugewanderten ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien.
  4. Die "Gastarbeiterperiode" endete mit dem Anwerbestopp von 1973. Er führte kurzfristig zu einer Senkung der Ausländerzahlen und der Fluktuation der ausländischen Arbeitskräfte. Zugleich verstärkte er die ohnehin anwachsende Tendenz zum Daueraufenthalt. Denn seither standen ausländische Arbeitskräfte, die nicht auf Dauer von ihren Familien im Herkunftsland getrennt leben wollten, vor der Alternative: endgültige Rückkehr in die Heimat oder Familiennachzug in die Bundesrepublik. Die meisten blieben und ließen ihre Familien nachkommen. Familiennachzug und natürliches Bevölkerungswachstum ließen die Ausländerbevölkerung in der Bundesrepublik 1979 bereits wieder über das 1973 erreichte Niveau steigen.
  5. Für eine dauerhafte Eingliederung der zugewanderten ausländischen Erwerbsbevölkerung und die damit verbundenen sozialen Folgeprobleme freilich gab es in der Bundesrepublik zu keiner Zeit ein umfassendes und langfristig angelegtes Konzept. Auf Jahrzehnte hinaus beschränkte sich die Ausländerpolitik gegenüber zugewanderten Minderheiten auf soziale Integrationsmaßnahmen und ließ langfristige Gestaltungsperspektiven vermissen.
  6. Mit der Aufenthaltsdauer wuchs die Bleibeabsicht im fließenden Übergang von der Gastarbeiterexistenz zur Einwandererexistenz. Schon Anfang der 1980er Jahre lebte ein Großteil der aus der früheren Gastarbeiterbevölkerung hervorgegangenen ausländischen Minderheit in der Bundesrepublik bei dauerhaftem Aufenthalt in einer paradoxen Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland. Die von den Kirchen und Gewerkschaften, von Ausländerbeauftragten, Praktikern der Ausländerarbeit, Migrations- und Integrationsforschern geforderten umfassenden Konzepte für Einwanderungs- und Eingliederungsfragen blieben jedoch aus. Die Verdrängung der Realität einer faktischen Einwanderungssituation machte die Entwicklung solcher Konzepte unmöglich. Was für die Deutschen eine Gestaltungsfrage war, wurde für die schon lange ansässige erste Generation der Pionierwanderer und besonders für die in Deutschland geborene oder dort aufgewachsene zweite Generation zu einer zum Teil durch schwere mentale Verletzungen gezeichneten Lebensfrage. Die Gastarbeiterbevölkerung hatte sich zu verschiedenen Einwandererminoritäten entwickelt, die spätestens seit Anfang der 1980er Jahre in einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Situation zwischen offiziellem Gastarbeiterstatus und tatsächlicher Einwanderersituation lebten. Die politische Überwindung dieses Widerspruchs erfolgte jedoch nicht. Der kleinste gemeinsame Nenner aller "ausländerpolitischen" Statements der Bundesregierungen: "Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland." wurde der tatsächlichen Problematik nicht gerecht.
  7. Auch in der früheren DDR gab es, in geringem Umfange, Ausländerbeschäftigung auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Während die Beschäftigung von Ausländern in der Bundesrepublik als moderne Form der "Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus" gebrandmarkt wurde, wurde sie in der früheren DDR als Ausbildungswanderung kaschiert; ihre Probleme wurden totgeschwiegen. Von den sowjetischen Armeeangehörigen und ihren Familien abgesehen, stellten von den 1989 noch ca. 190.000 Ausländern in der DDR die Arbeitnehmer in DDR-Betrieben die bei weitem stärkste Gruppe, unter ihnen 1989 noch ca. 59.000 Vietnamesen und ca. 18.000 Mosambikaner. Die Ausländer arbeiteten in der DDR - wie ehedem die ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik - zumeist in den von deutschen Arbeitskräften am wenigsten geschätzten Beschäftigungsfeldern im unmittelbaren Produktionsbereich. Von ihnen leben Mitte der neunziger Jahre noch ca. 15.000 in Deutschland.
  8. Den über Regierungsabkommen mit befristeten Arbeitsverträgen ins Land geholten "ausländischen Werktätigen" gegenüber gab es in der DDR zwar administrativ geleitete, autoritäre Betreuung, aber insgesamt weniger soziale Integration als staatlich verordnete Segregation und sogar räumliche Ghettoisierung. Sie wurden in separaten Gemeinschaftsunterkünften einquartiert und damit auch sozial auf Distanz gehalten. Nähere Kontakte waren genehmigungs- und berichtspflichtig. In dem durch die verordnete Ausgrenzung der Fremden und durch die öffentliche Tabuisierung ihrer Existenz geschaffenen sozialen Vakuum siedelten in dem eingemauerten zweiten deutschen Staat Gerüchte und Argwohn, wucherten Mißtrauen, Angst und Haß. Das Ergebnis dieser Politik war, zugespitzt formuliert, eine ostdeutsche Variante der Apartheid. Die latenten fremdenfeindlichen Spannungen traten nach dem mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes einhergehenden Ende der totalitären Zwangsdisziplinierung offen zutage.
  9. In den Prozeß der Vereinigung brachten die einander fremd gewordenen, aus politisch-ideologisch und lebensgeschichtlich vielfach gegensätzlichen Erfahrungswelten stammenden Deutschen mithin, neben vielen anderen ungelösten Fragen, auch in beiden deutschen Staaten unbewältigte Probleme im Umgang mit Fremden ein; ganz zu schweigen von der auf unterschiedliche Weise unbewältigten Last der deutschen Geschichte gerade in diesem Bereich.

2.3.3 Die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden

  1. Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion um Fluchtbewegungen und Flüchtlingsaufnahme im vereinigten Deutschland steht ein Recht für politisch Verfolgte, das geradewegs aus der deutschen Geschichte kommt. Die im Ausland insgesamt begrenzte Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen, formulierten die Väter des Grundgesetzes in Art. 16 GG folgende berühmt gewordene Botschaft, deren Diskussion längst Bibliotheksregale füllt: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Das im internationalen Vergleich am weitesten gehende Asylrecht sollte allen, die glaubten, mit guten Gründen Anspruch darauf anmelden zu können, bis zur Entscheidung über ihren Antrag einen Aufenthalt in der Bundesrepublik sichern. Mit zunehmender Inanspruchnahme dieses Rechts bei größtenteils nicht asylrelevanten Begründungen wuchs die Tendenz zunächst zu seiner Beschränkung in der Praxis und schließlich zur Beschränkung seines persönlichen Geltungsbereichs insbesondere auf Grund der neuen Drittstaatenregelung.
  2. Seit der Errichtung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 1953 lagen die Zahlen der jährlichen Asylgesuche von ausländischen Flüchtlingen - von der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 und des "Prager Frühlings" 1968 abgesehen - für zwei Jahrzehnte relativ niedrig. Bis Anfang der 1970er Jahre stammten die meisten Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Ostblock. Flucht aus dem kommunistischen Machtbereich war ein willkommener Nachweis für die Anziehungskraft der Freiheit im Westen.
  3. Eine andere Haltung zeichnete sich seit Anfang der 1970er Jahre und insbesondere seit dem Anwerbestopp von 1973 ab gegenüber den zunehmenden Asylanträgen aus der "Dritten Welt", aber auch aus der Türkei (innenpolitische Schwierigkeiten, versteckter Familiennachzug nach dem Anwerbestopp). Seit dem letzten Drittel der 1970er Jahre stieg die Zahl der Asylgesuche stark an. Die Flüchtlinge stammten nun nicht mehr vornehmlich aus den Ostblockstaaten, sondern aus der "Dritten Welt". Der Zugang von Flüchtlingen war in seinen Schwankungen abhängig von dem Wechsel der Krisensituationen dort.
  4. Das aber war ein klarer Hinweis auf die Dominanz der Schubkräfte gegenüber den Anziehungskräften des Aufnahmelandes Bundesrepublik - also ein Beweis dafür, daß die Wanderungsbewegungen der Flüchtlinge nach Deutschland nicht etwa nur einseitig von der "wirtschaftlichen Anziehungskraft" des europäischen Hauptziellandes, sondern vorwiegend von der Schubkraft der Probleme in den Herkunftsländern angetrieben wurden. Auch deshalb ist der Ansatz, "Wirtschaftsflüchtlinge" durch Verringerung der "Fluchtanreize" in Gestalt der Verschlechterung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Bundesrepublik abwehren zu wollen, fragwürdig; ganz abgesehen davon, daß das Ergebnis, die vermeintlich abschreckende Verschlechterung der Lebensbedingungen für Asylsuchende, überdies auch die Falschen, nämlich "echte Flüchtlinge", trifft, während gewiefte Asylbetrüger, Schleuser, Schlepper und Menschenhändler durch solche Maßnahmen ohnehin wenig zu beeindrucken sind.
  5. Die statistische Kurve der Asylgesuche erreichte 1980 einen ersten Höchststand von 92.918 Anträgen für 107.818 Personen. In den nächsten Jahren fielen die Zahlen wieder ab auf 16.335 Anträge für 19.737 Personen im Jahr 1983. Das hatte mit dem Rückgang der Zahl der Armutsflüchtlinge aufgrund von am 18.06.1980 von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen und mit der Einführung der erweiterten Sichtvermerkspflicht für eine Reihe von Hauptherkunftsländern zu tun. Seit Mitte der 1980er Jahre stiegen die Zahlen wieder zügig an und lagen 1986 bei 67.429 Anträgen für 99.669 Personen. Defensive Steuerungsmaßnahmen drückten die Kurve der Asylanträge 1987 wieder nach unten: Dazu zählten die Asylrechtsnovelle vom Januar 1987, die Einschränkung des Transitprivilegs für Reisende aus weiteren afrikanischen und asiatischen Ländern, Beförderungsverbote für Fluggesellschaften für sichtvermerkspflichtige Ausländer ohne gültige Einreise- oder Transitvisa ebenso wie die Sperre der Einreisewege über die DDR und Ostberlin seit Oktober 1986. Daß die Antragszahlen seit Ende der 1980er Jahre erneut und noch verstärkt weiter stiegen, hatte vor allem mit der zunehmenden Krisenentwicklung in Osteuropa zu tun, die, zusammen mit den Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge aus der "Dritten Welt", eine gravierende Gewichtsverlagerung zwischen europäischen und außereuropäischen Flüchtlingen in Gang setzte: 1988 durchbrachen die Zahlen erneut die Marke von 100.000 Personen (103.076), darunter vor allem Asylsuchende aus Polen. Die Zahlen kletterten im Jahr der europäischen Revolutionen 1989 auf 121.318, stiegen 1990 schließlich auf 193.063, 1991 auf 256.112 und 1992 auf 438.191. 1993 kam die Wende im Kurvenverlauf. Das hing nicht nur mit dem gegen die illegale Roma-Zuwanderung aus Rumänien gerichteten deutsch-rumänischen Rückübernahmeabkommen, sondern vor allem auch mit dem seit Juli 1993 gültigen neuen Asylrecht zusammen: die Gesamtzahl von Asylgesuchen lag 1993 bei 322.599, sank 1994 auf 127.210 und stagniert seit 1995 auf diesem Niveau.
  6. Im Verhältnis von europäischen und außereuropäischen Herkunftsländern aber hatte sich seit Mitte der 1980er Jahre ein drastischer Wandel vollzogen. Von den Asylbewerbern des Jahres 1993 kamen 72,1% aus Europa, 15,6% aus Asien und 11,7% aus Afrika. Seit 1986, als erst 25,3% der asylsuchenden Flüchtlinge in der Bundesrepublik aus europäischen und noch 74,8% aus außereuropäischen Ländern stammten, hatte sich das Verhältnis mithin geradewegs umgekehrt.
  7. Der seit Anfang der 1980er Jahre in unterschiedlicher Intensität immer wieder aufflammende und unter dem Eindruck des rapiden Anstiegs der Asylbewerberzahlen Anfang der 1990er Jahre in der Öffentlichkeit eskalierende Kampf um die Änderung des Grundrechts auf Asyl hat 1993 durch die Aufnahme von Art. 16a GG zu einer Grundgesetzänderung geführt, die der großen Mehrheit als die einzig mögliche Sicherung der Aufrechterhaltung des Asylrechts, den anderen als dessen Aufkündigung erschien. Mit dieser Grundgesetzänderung ist danach das Grundrecht auf Asyl nach Art. 16 GG seit dem 1. Juli 1993 in seinem persönlichen Geltungsbereich in einschneidender Weise beschränkt worden. Seitdem werden in aller Regel Asylbewerber abgewiesen, die über "sichere Drittstaaten" in Europa einreisen, von denen Deutschland lückenlos umschlossen ist, oder die aus "verfolgungsfreien Ländern" stammen. Folge: Die Bundesrepublik ist für Asylbewerber auf dem Landweg legal grundsätzlich nicht mehr erreichbar. Auf dem Luftweg eintreffende Asylsuchende aus "Nichtverfolgerstaaten" oder Antragsteller ohne gültige Papiere müssen auf den Flughäfen im Transitbereich bleiben und haben dort ein Schnellverfahren abzuwarten, das die Entscheidung bringt über Verweigerung oder Genehmigung der Einreise mit regulärem Asylverfahren vom Inland aus. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Beschränkungen mit seinen Urteilen vom 14. Mai 1996 im wesentlichen als verfassungskonform bestätigt.
  8. Die Änderung des Grundrechts auf Asyl, die verschärfte Kontrolle der deutschen Ostgrenzen infolge des Schengener Abkommens sowie andere flankierende Maßnahmen haben die Asylbewerberzahlen inzwischen deutlich gesenkt (1996: 116.367). Gestiegen ist jedoch seither auch die Zahl der Personen ohne Aufenthaltsstatus - sei es aufgrund von illegalen Grenzübertritten, sei es durch Überschreiten der Aufenthaltsgenehmigung oder aus anderen Gründen.
  9. Stark angewachsen ist neben der Zahl der Asylbewerber die Zuwanderung von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen insbesondere seit dem blutigen Zerfall des ehemaligen Vielvölkerstaates Jugoslawien. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) lebten im Jahre 1995 in Deutschland an die 350.000 Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, mehr als doppelt so viele wie in allen anderen Staaten der Europäischen Union zusammen. Die Rückkehr der Bürgerkriegsflüchtlinge sowie die Frage ihrer Wiedereingliederung in eine zerstörte, wirtschaftlich ruinierte und gesellschaftlich aus den Fugen geratene Heimat, die nach vielfältigen internen Wanderungs-, Flucht- und Zwangsbewegungen für viele gar nicht mehr existiert, ist eines der schwierigsten Probleme der Migrationspolitik im europäischen Raum.
  10. Relativ jung noch ist die Zuwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die vor allem vor dem Hintergrund des düstersten Kapitels der deutschen Geschichte in Deutschland wie Kontingentflüchtlinge aufgenommen werden und deren Zahl Ende 1996 bei ca. 55.000 lag. Diese Zuwanderung stellt die jüdischen Gemeinden vor erhebliche Probleme der jüdischen Unterweisung und der Hilfe bei der sozialen und beruflichen Integration.

2.4 Aussiedler und Spätaussiedler: "Rückkehr in eine unbekannte Heimat"

  1. Die Aufnahme und Eingliederung der Deutschen aus den mittel-, südost- und osteuropäischen Ländern ist, als eine Art Rückwanderung in das ursprüngliche Heimatland über Generationen hinweg, eine Besonderheit im deutschen Wanderungsgeschehen. Diese Personengruppe, die im allgemeinen Sprachgebrauch als "Aussiedler" bezeichnet wird, während der gesetzliche Fachbegriff seit dem 01.01.1993 "Spätaussiedler" lautet, kommt in ein Deutschland, das ihre Vorfahren teils vor Generationen, teils vor Jahrhunderten oder, wie im Falle der "Siebenbürger Sachsen", schon im Spätmittelalter verlassen haben.
  2. Die Zahl der Spätaussiedler aus polnischen und rumänischen Gebieten ist seit längerem erheblich zurückgegangen, zumal seit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz die Anerkennung als Spätaussiedler über den Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit hinaus davon abhängig ist, daß Benachteiligungen oder Nachwirkungen zurückliegender Benachteiligungen aufgrund der deutschen Volkszugehörigkeit in der Zeit nach 1992 glaubhaft gemacht werden. Nur im Falle der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und den baltischen Staaten werden derartige Nachteile widerleglich angenommen, ansonsten müssen sie im einzelnen nachgewiesen werden. Aus dem GUS-Raum ist ein zwar nach wie vor hoher Zugang von Spätaussiedlern zu verzeichnen, doch ist inzwischen auch hier die Zahl stark rückläufig.
  3. Im Jahre 1996 sind über 40.000 Spätaussiedler weniger nach Deutschland gekommen als noch ein Jahr zuvor. Waren es 1995 noch knapp 218.000, betrug ihre Zahl 1996 knapp 178.000. Ebenso stark rückläufig ist die Zahl der Aussiedlungsanträge. Sie ist von über 260.000 im Jahre 1995 um über 91.000 auf knapp 169.000 im Jahre 1996 zurückgegangen. Der Rückgang dieser Zahlen hält in den ersten Monaten des Jahres 1997 unvermindert an.

    Über die Zahlen der Spätaussiedler, die in den nächsten Jahren noch nach Deutschland kommen wollen, gibt es unterschiedliche Annahmen. Die Zahl der Aufnahmeanträge für Spätaussiedler, die jährlich erteilt werden können, ist im Jahre 1993 mit der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (§ 27 Abs. 3) auf rund 225.000 Personen bei einer Abweichung von bis zehn v.H. nach oben oder unten festgelegt worden. Die Bundesregierung geht davon aus, daß insbesondere in den Republiken der ehemaligen UdSSR und den übrigen ost- und südosteuropäischen Ländern noch mehrere Millionen Deutsche leben, deren Lebensgrundlagen während und infolge des Zweiten Weltkrieges durch gewaltsame Umsiedlungen, Vertreibungsmaßnahmen, Zerstreuung und Unterdrückung derart erschüttert wurden, daß die Folgen durch die gegenwärtigen Umwandlungen der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen noch nicht aufgehoben sind, und die deshalb ein Recht auf Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland haben. Trotz des deutlichen Rückgangs der Zahl der Spätaussiedler in der jüngsten Zeit ist deshalb davon auszugehen, daß ihr Zugang nach Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten bei unveränderten Aufnahmekriterien auf einem weiterhin hohen Niveau anhalten wird.
  4. Die Informationen über Deutschland sind in den Herkunftsgebieten seit den frühen 1990er Jahren besser geworden, was zu tun hat mit verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten besonders durch schon registrierte Verwandte und Bekannte und in der Integrationsarbeit engagierte staatliche und nichtstaatliche Organisationen und Institutionen. Unter diesen nehmen die Kirchen mit ihren Werken Caritas, Diakonisches Werk, Renovabis, Hoffnung für Osteuropa und anderen eine herausragende Stellung ein. Auch zeigen offensichtlich die vielfältigen Hilfs- und Fördermaßnahmen der Bundesregierung vor allem in den deutschen Siedlungsschwerpunkten in der russischen Föderation zunehmend Wirkung.

    Doch die Spätaussiedler sind, ihres Rechtsanspruches auf die deutsche Staatsangehörigkeit wegen, zwar nicht im rechtlichen Sinne als Einwanderer zu verstehen; sie stehen aber in Deutschland kulturell, sozial und psychisch vor vergleichbaren Problemen, deren Bewältigung erschwert werden kann, wenn sie nicht in ihrer besonderen Situation verstanden werden und die Aussiedlerintegration mit derjenigen von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg in eins gesetzt wird.
  5. Die Aussiedlungsbewegung hat zeitweilig zu Folgewanderungen geführt, die viele nicht oder noch nicht zureichend motivierte Menschen zur Aussiedlung bewogen und eine sich selbst beschleunigende Eigendynamik entwickelt haben. Dort, wo Personen deutscher Volkszugehörigkeit lange als Minderheiten wirtschaftlich, sozial oder kulturell unterdrückt wurden, wurde ihr Rückhalt in der Gruppe durch die Abwanderung noch geschwächt. Dort, wo sie von Deutschland aus wirtschaftlich und kulturell gefördert wurden, um ihnen ein Bleiben zu ermöglichen, traten zuweilen Spannungen zwischen Deutschen und anderen Gruppen im Ausgangsraum auf, die auch nicht durchweg mit Gesamtförderungen zu bewältigen waren. Zur allgemeinen Unsicherheit und politischen Instabilität kommen weitere Belastungen und Befürchtungen hinzu, die den Aussiedlungsdruck verstärken; dazu gehören ethnische Auseinandersetzungen, soziale, bildungsmäßige und wirtschaftliche Benachteiligungen sowie ungewisse Zukunftsperspektiven.
  6. Seitdem der Zuzug von Aussiedlern ein größeres Ausmaß angenommen hat, wird die Eingliederung zu einer immer wichtigeren und zugleich immer schwierigeren gesellschaftlichen Herausforderung. Die Eingliederungsarbeit gegenüber den Aussiedlern konnte zunächst in mancherlei Hinsicht als ein mustergültiges, auch auf reguläre Einwandererintegration übertragbares Beispiel gelten. Das hat sich seit den frühen 1990er Jahren deutlich verändert: Gesellschaftspolitisch bedenklich ist die drastische Senkung der Eingliederungshilfen, obwohl in vielen Fällen die Deutschkenntnisse der Spätaussiedler immer unzureichender sind. Hinzu kommt, daß bei der angespannten Arbeitsmarktlage beruflich geringer qualifizierte Arbeitssuchende trotz allen Fleißes zunehmend Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Betroffen sind vor allem junge, im Eingliederungsprozeß immer häufiger enttäuschte und dadurch demotivierte und desorientierte Aussiedler.
  7. Erkennbar wachsen neuerdings gesellschaftliche Probleme bei der Aussiedlerintegration; sie treten zum Beispiel bei der Begegnung zwischen der jungen Aussiedlergeneration und der zweiten bzw. dritten Ausländergeneration auf. Hinzu kommt eine gegenwärtig in der deutschen Aufnahmegesellschaft wieder wachsende Skepsis gegenüber den Spätaussiedlern, die sich besonders dort zeigt, wo in unvertretbarer Weise Vorbehalte in der Öffentlichkeit geschürt werden.

2.5 Die Notwendigkeit einer Migrationspolitik als Gesellschaftspolitik

  1. Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit sind in den frühen 1990er Jahren zu gesellschaftlichen Problemen erster Ordnung im vereinigten Deutschland geworden. Das hatte nicht nur mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Öffnung der Grenzen im Osten, mit dem rapiden Anstieg der Zahlen von Asylbewerbern, von Aussiedlern aus Osteuropa und von Übersiedlern aus der DDR oder allgemeinhin mit den Zusatzbelastungen des Vereinigungsprozesses zu tun. Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit hatten auch in allgemeiner Desorientierung, Ratlosigkeit und mangelnden Perspektiven ihre Ursachen. Sie erreichten ihren Gipfelpunkt, als die Angst vieler Bürger in der immer gravierender und unübersehbarer werdenden, von der Politik über Jahre hinweg dementierten Einwanderungssituation auf die Unfähigkeit der Politik stieß, sich rechtzeitig auf umfassende Konzepte und Maßnahmen zu einigen, wie sie auch die Kirchen seit den 70er Jahren immer wieder angemahnt haben. Die Begegnung der Angst von unten mit der Entscheidungsunfähigkeit von oben war mitverantwortlich für jene Folgewirkungen, vor denen kritische Stimmen über viele Jahre hinweg vergeblich gewarnt hatten.
  2. Fremdenangst, gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindliche Gewaltakzeptanz waren deshalb nicht etwa nur unvermeidbare Begleiterscheinungen von Zuwanderung und Eingliederung, sondern auch vermeidbare Folgen ihrer mangelnden Gestaltung. Vor dem Hintergrund der weltweit aufsehenerregenden Exzesse auf deutschen Straßen wurde der im parteipolitischen Asylstreit geschnürte gordische Knoten mit dem "Asylkompromiß" vom Dezember 1992 durchschlagen, der Mitte 1993 Gesetzeskraft erlangte. Der Asylkompromiß hätte zu einem großen Migrationskompromiß werden können. Dafür war er aber nicht umfassend genug angelegt. Es fehlte z. B. an der längst überfälligen Reform des Einbürgerungs- und des sonstigen Staatsangehörigkeitsrechts. Soweit hinsichtlich der Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen Regelungen vereinbart wurden, scheiterte deren Anwendung an der mangelnden Fähigkeit von Bund und Ländern, sich über die Verteilung der Kosten zu verständigen. Die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden deshalb entweder in das für sie meist nicht passende Asylverfahren gedrängt oder nahmen zu Lasten der Kommunen Sozialhilfe in Anspruch.
  3. Spätestens seit den Erfahrungen der frühen 1990er Jahre aber ist offenkundig: Migrationspolitik ist Gesellschaftspolitik im weitesten Sinne; denn Migrationsfragen sind heute nicht mehr Randprobleme, sondern zentrale gesellschaftspolitische Aufgaben und werden aller Voraussicht nach in ihrer Bedeutung künftig noch zunehmen. Migrationspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich auf einen möglichst breiten Grundkonsens stützen kann. Sie kann in einer freiheitlichen Demokratie nicht gegen die einheimische Mehrheit durchgesetzt werden, wenn gefährliche Folgen, vor allem zu Lasten zugewanderter Minderheiten, aber auch des politischen Systems insgesamt, vermieden werden sollen. Für ihre Akzeptanz und die der zugewanderten Minderheiten muß mithin - wie bei der Aussiedlerintegration - bei der einheimischen Mehrheit geworben werden.
  4. Multikulturelle und polyethnische Koexistenz in kultureller Toleranz und sozialem Frieden hängen deshalb entscheidend davon ab, ob und inwieweit Politik und Gesellschaft in Deutschland bereit sind, sich den Herausforderungen in den Problemfeldern von Migration, Integration und Minderheiten mit übergreifenden und weitsichtigen Konzeptionen zu stellen.
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