"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist."

5. Perspektiven für die Zukunft - Zukunft gestalten

5.1 Ausgangssituation

  1. Die Darstellung der verschiedenen Dimensionen der Migrationsproblematik belegt, daß das politische Handeln von einem umfassenden Konzept ineinander verschränkter Handlungsfelder ausgehen muß. Einzelne, nicht aufeinander abgestimmte Maßnahmen führen nicht weiter. Die folgenden Überlegungen und Vorschläge sollen hierzu ein Beitrag sein und zugleich die öffentliche Debatte anregen. Diese ist nötig, um angemessene und von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Konzepte zu entwickeln und zu verwirklichen.
  2. In der öffentlichen Auseinandersetzung werden die verschiedenen Dimensionen der Migration häufig miteinander vermengt und in ihrer Wertigkeit nicht genau unterschieden. So ist es von unterschiedlicher ethischer Relevanz und politischer Bedeutung, ob es um Menschen geht, die als Arbeitsmigranten mit ihren Familien bei uns leben, die aufgrund politischer Verfolgung das Asylrecht in Anspruch nehmen oder Schutz vor der Bedrohung von Leib und Leben bei Krieg und Bürgerkrieg suchen, oder ob es um Migration geht, die durch wirtschaftliche Not und das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen verschiedenen Regionen der Erde ausgelöst wird. Entsprechend den jeweiligen Ursachen von Migration sind rechtliche, wirtschaftliche und soziale Konzepte zu entwickeln, die allerdings eng aufeinander bezogen sein müssen.
  3. Ein solch umfassendes Konzept ist vor allem auch geeignet, das Grundrecht auf Asyl von asylfremden Inanspruchnahmen zu entlasten und wieder auf seinen eigentlichen Schutzzweck für politisch Verfolgte zurückzuführen. Der anhaltende Zuwanderungsdruck hat zu Veränderungen und Beschränkungen in der Asylrechtspraxis geführt. Die Kirchen haben immer wieder betont, daß die grundsätzliche Gültigkeit des Grundrechts auf Asyl nicht gefährdet oder gar preisgegeben werden dürfe. Es könne aber auch nicht für eine allgemeine Zuwanderung in Anspruch genommen werden. Die Probleme der rechtlichen Ausgestaltung und der Praxis des Grundrechts auf Asyl in Deutschland sind in den vergangenen Jahren von den Kirchen sorgfältig beobachtet und beschrieben worden. Dabei bleiben auch nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 zum Asylrecht Zweifel, ob politische Verfolgung stets mit ausreichender Sicherheit erkannt werden kann und rechtsstaatlich unangreifbar geprüft und festgestellt wird. Offen ist auch, ob das Konzept der sicheren Drittstaaten dazu führt, daß ein Asylsuchender dort entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention tatsächlich Schutz findet.
  4. Es ist ebenso notwendig, die Zuwanderung von Menschen, die sich nicht auf das Asylrecht berufen können, gesetzlich zu verbessern. Vordringlich ist dabei die praktikable Ausgestaltung der Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Integration in Europa und der weltweiten wirtschaftlichen Vernetzung ist es jedoch ebenso dringlich, daß die tatsächlich stattfindende Arbeits- und Wirtschaftsmigration gesteuert, begrenzt und sozial gestaltet wird.
  5. Zuwanderungsregelungen können nur dann wirksam sein, wenn zugleich die Fluchtursachen bekämpft werden. Dies ist eine politische Querschnittsaufgabe, in der Friedenspolitik, Rechtspolitik und Wirtschaftspolitik zu einer in sich schlüssigen Entwicklungspolitik zusammengeführt werden.
  6. Eine Gesamtregelung der Zuwanderung bliebe Stückwerk ohne eine rechtliche und soziale Integration und ohne wirksame Verbesserungen bei der politischen Mitbestimmung und den Bürgerrechten. Dazu gehört, den kulturellen Bedingungen der aufnehmenden Gesellschaft Rechnung zu tragen und auch vorhandene Vorbehalte und Befürchtungen ernst zu nehmen.

5.2 Internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Fluchtursachen

  1. Eine nachhaltige und spürbare Entschärfung der Ursachen wirtschaftlich motivierter Wanderungen erfordert die systematische Bekämpfung weltweiter Armut und Umweltzerstörung auf der Grundlage der Eigenverantwortung der Staaten für ihre Entwicklung und durch international koordinierte Maßnahmen auf globaler Ebene. Auch wenn sich die komplexen Ursachen und Folgen von Flucht- und Wanderungsbewegungen nicht allein durch entwicklungspolitische Maßnahmen und durch humanitäre Hilfe grundlegend verändern lassen, sind und bleiben sie unverzichtbar. Schon angesichts der Dimension der weltweiten Migrationsbewegungen und der relativ geringen Mittel, die insgesamt von den Geberstaaten zur Verfügung gestellt werden, muß der Beitrag der Entwicklungshilfe und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zur Lösung der Migrationsprobleme realistisch eingeschätzt werden. Zur Verbesserung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen die Industrienationen insbesondere ihre Märkte für die Produkte der Entwicklungsländer durch Abbau der Protektion für ihre Agrarprodukte und gewerblich-industriellen Waren öffnen und die Entwicklungsländer nicht zuletzt bei der Lösung ihrer Verschuldungsprobleme unterstützen. Ein abgestimmtes Handeln der internationalen Staatengemeinschaft ist darüber hinaus in der Umwelt- und Technologiepolitik sowie beim Ressourcentransfer nötig. Unabdingbar bleiben vor allem international gemeinsame und nachhaltige Bemühungen, den Frieden in allen Teilen der Welt zu erhalten oder wiederherzustellen. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für die dauerhafte Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Grundlagen in den einzelnen Staaten und der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
  2. Im Rahmen einer solchen kohärenten Flüchtlings- und Migrationspolitik ist es die Aufgabe einer zielorientierten entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, gemeinsam mit den Partnerländern und in enger Koordination mit anderen Partnern die Ursachen und negativen Folgerungen von Flucht und Migration zu vermeiden oder zu entschärfen. Jede Maßnahme, die unmittelbar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern selbst, auf die Beseitigung der Armut, bessere Bildungschancen und eine lebenswerte Umwelt gerichtet ist, dient zugleich auch der Verminderung von Flucht- und Migrationsursachen.
  3. Die Verminderung von Fluchtursachen umfaßt dabei zum einen Maßnahmen zur Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen, die insbesondere unmittelbar auf die Verbesserung der Menschenrechtslage, die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen sowie auf die Schaffung von demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen gerichtet sind. Die Verminderung von Fluchtursachen beinhaltet zum anderen Maßnahmen der Katastrophenvorbeugung, insbesondere beim Umwelt- und Ressourcenschutz und bei der Verbesserung des Katastrophenschutzes in den Entwicklungsländern.
  4. Die Verminderung von Migrationsursachen zielt demgegenüber in erster Linie auf die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse selbst. Hierfür kommen vor allem in Betracht die Stärkung der Wirtschaftskraft durch wachstums- und beschäftigungspolitische Maßnahmen insbesondere zur Entwicklung des ländlichen Raums, die Förderung von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die Förderung von kleineren und mittleren Unternehmen, eine arbeitsmarktgerechte Aus- und Fortbildung und die Verbesserung der sozialen Infrastruktur, besonders des Gesundheitswesens und der Bildung.
  5. Auch wenn solche Maßnahmen nicht kurzfristig meßbare Erfolge bringen, können sie jedoch Grundlage für viele sein, zum Aufbau und zur Stabilisierung des eigenen Gemeinwesens beizutragen und die Hoffnung zu haben, daß es mindestens ihren Kindern eines Tages in ihrem eigenen Land bessergehen werde. Allein diese Hoffnung ist oftmals ein Grund, die Heimat nicht zu verlassen.
  6. Entwicklungszusammenarbeit kann Armut entweder direkt bekämpfen durch Hilfe zur Selbsthilfe oder mittelbar durch Ausbau von überörtlichen Infrastruktursystemen des Bildungs-, Rechts- und Justizwesens beziehungsweise durch Maßnahmen des Umweltschutzes. Je mehr die "Armenorientierung" und die Partizipation der Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit verstärkt werden, desto mehr kann dies zur Vermeidung von Abwanderung und Flucht beitragen.
  7. Dieses Ziel der Entwicklungszusammenarbeit wird von vielen Organisationen, besonders von den kirchlichen Hilfswerken, in unserer eigenen Gesellschaft fortgeführt. Sie interessieren durch Solidaritätsaktionen, Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit die Menschen bei uns für die Entwicklungsprozesse in den armen Ländern.
  8. Der Ressourcenverbrauch der Industrieländer schränkt die Entwicklungsspielräume der Armutsländer ein, nutzt ihre knappen Ressourcen zum Einsatz für eigene Zwecke und entzieht sie damit oft dem Einsatz für die Armen und durch die Armen. Ähnliches gilt für die globalen "Umwelträume" an Wasser, Luft und Energie. Die Zukunftsfähigkeit der Armutsländer, die Zukunft der Armen, ob auf ihre Heimat oder auf Abwanderung ausgerichtet, hängt auch von der Entwicklungs- und Umweltverträglichkeit unserer Wirtschafts- und Lebensweise ab.
  9. Krieg und gewaltsame Konflikte in Herkunftsländern werden durch Waffenproduktion und Waffenhandel geschürt und verstärkt. In der Außen- und Sicherheitspolitik müssen mehr und mehr internationale statt nationale Interessen im Vordergrund stehen. Die Wirksamkeit der internationalen Institutionen und ihrer Instrumente zur Vermeidung, Eingrenzung und friedlichen Lösung gewaltsamer Konflikte sind zu verbessern. Migrationsmindernde Wirkung geht nicht zuletzt von den internationalen Kontrollen zur Durchsetzung der Menschenrechte aus. Die jüngste Geschichte der Länder des ehemaligen Jugoslawiens ist dafür ein beredtes Beispiel.
  10. Die friedens-, entwicklungs- und umweltverträgliche Abstimmung und die Kohärenz aller international wirksamen Politikbereiche, die mit Recht gefordert wird, ist weiter zu entwickeln und auszubauen.

5.3 Zugangsregelungen

5.3.1 Europäische Zuwanderungs- und Asylpolitik

  1. Die notwendige politische Gestaltung der Zuwanderung nach Deutschland für Nicht-EU-Bürger wird ohne ein gemeinsames europäisches Konzept keine Aussicht auf Erfolg haben. Die nur beschränkten Kompetenzen der Europäischen Union erschweren zwar die Vereinheitlichung der Regelung für die Zuwanderung von Arbeitnehmern und Flüchtlingen. Dennoch müssen Möglichkeiten zur Entwicklung einer abgestimmten europäischen Ausländerpolitik gesucht und konsequent genutzt werden. Ohne gemeinsame Anstrengungen aller europäischen Staaten wird der künftig noch zunehmende Einwanderungsdruck nicht in friedlichen Bahnen gehalten und menschenwürdig gesteuert werden können. Die Regelungen für die Aufnahme von Arbeitnehmern und Flüchtlingen, die nicht aus EU-Mitgliedstaaten stammen, müssen insgesamt den menschenrechtlichen und humanitären Traditionen Europas gerecht werden.
  2. Wer als Arbeitnehmer eines Drittstaates in einem EU-Mitgliedstaat lebt, sollte die Möglichkeit erhalten, sich ähnlich wie ein Unionsbürger auch in anderen Mitgliedstaaten aufzuhalten und frei zu bewegen. Die Gemeinsamkeiten des Binnenmarktes verlangen auch Erleichterungen für Nichtunionsbürger, die sich am Ausbau der wirtschaftlichen Grundlagen der Gemeinschaft beteiligen. Der im europäischen Recht garantierte Schutz des Familienlebens sollte auch der Familie von Drittstaatsangehörigen zugute kommen, damit Eheleute und Kinder in Europa einheitliche Grundlagen für die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit vorfinden.
  3. Europa darf sich nicht gegen die weitere Aufnahme von politisch Verfolgten und anderen Flüchtlingen sperren. Insbesondere darf es nicht zu einer Abschottung gegenüber Asylsuchenden dadurch kommen, daß ihnen aufgrund weiterer Drittstaatenregelungen die Einreise in ein verfolgungsfreies Land unmöglich wird. Die Zuständigkeitsabkommen von Schengen und Dublin bedürfen der Ergänzung durch die Vereinbarung einheitlicher Standards für die Flüchtlingsanerkennung. Ziel der Harmonisierung muß ein möglichst optimaler Schutz von Flüchtlingen durch Flüchtlings- und Menschenrechte sein, nicht der kleinste gemeinsame Nenner auf der Basis rechtlich unverbindlicher Erklärungen.
  4. Deshalb sollten für ganz Europa ein Rechtsanspruch auf Asyl angestrebt und diejenigen Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft verbindlich festgelegt werden, die das Exekutivkomitee des UNHCR einhellig befürwortet hat. Auf diese Weise könnten insbesondere die Probleme der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, der Flüchtlingsfrauen und -kinder, der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer sowie der erst im Exil politisch und religiös aktiv gewordenen Ausländer im Rahmen der Asylgewährung sachgerechter gelöst werden, als dies bisher aufgrund unterschiedlicher Auslegungen möglich ist. Ferner muß eine angemessene europäische Lastenverteilung erreicht werden. Die Übereinkommen von Schengen und Dublin über die internationale Zuständigkeit für Asylverfahren sollten ergänzt werden durch Abmachungen über Mindeststandards für die nationalen Asylverfahren.
  5. Die derart abgestimmte Asylpolitik muß durch Vereinbarungen über den Schutz für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ergänzt werden. Wie das Beispiel der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien schmerzlich vor Augen geführt hat, fehlt es im Kreis der europäischen Staaten teilweise an der erforderlichen Solidarität mit den Opfern kriegerischer oder anderer gewalttätiger Kollektivauseinandersetzungen. Die Bereitschaft zur Hilfe und zum Beistand in existentiellen Notlagen kann nur erhalten und gestärkt werden, wenn die daraus erwachsenden Aufgaben und Lasten europaweit gerecht verteilt werden.
  6. Eine europäische Lastenverteilung, verstanden als europäische Verantwortung zum Schutz der Flüchtlinge im Falle von Massenfluchtbewegungen, ermöglicht auch Erstaufnahmestaaten die vorübergehende Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen. Lastenverteilung kann dabei sowohl die Beteiligung bei der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen als auch die Gewährung von finanziellen Mitteln an Aufnahmestaaten umfassen, um Zwangsumsiedlungen zu vermeiden.
  7. Die erforderliche Lastenverteilungspolitik auf europäischer Ebene muß Maßnahmen im Herkunftsland, in den Erstaufnahmestaaten und in den Aufnahmestaaten im übrigen umfassen. Diese Solidarität ist völkerrechtlich insbesondere in der Charta der Vereinten Nationen und den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften verankert. Indem die Europäische Union den Flüchtling und Vertriebenen als Rechtssubjekt achtet, verwirklicht sie ein Menschenrechtsprinzip, nämlich Menschen, die in ihrem Heimatland bedroht werden, Schutz an einem sicheren Ort zu garantieren. Dieses Prinzip stellt einen wichtigen Bestandteil des internationalen Schutzes von Flüchtlingen dar, zu dem sich die Völkergemeinschaft in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (und dem Zusatzprotokoll von 1967) verpflichtet hat.
  8. Die Harmonisierung der Zuwanderungspolitik sollte sich nicht auf die Unionsstaaten beschränken, sondern über deren Kreis hinausgreifen. Soweit die Kompetenzen der Union und des Europarates nicht ausreichen, müssen alle Möglichkeiten multilateraler Vereinbarungen genutzt werden, um Europa nicht nur zu einem grenzenlosen Binnenmarkt, sondern auch als einen verläßlichen Hort für Schutzbedürftige zu erhalten und fortzuentwickeln. Für die Aufnahme weiterer Länder in die Union und den Europarat sollten nicht vorwiegend ökonomische und politische Kriterien den Ausschlag geben; es sollten vielmehr menschenrechtliche und humanitäre Aspekte noch stärker berücksichtigt werden. Vor allem muß ein weitaus größerer Wert als bisher auf die Ursachenbekämpfung zur Verhinderung von Flucht, auf die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen und auf die Hilfe bei der Lösung humanitärer Probleme gelegt werden.

5.3.2 Gesamtkonzept für die Zuwanderung

  1. Die in Deutschland geltenden legislativen und administrativen Regeln über Einreise und Aufenthalt von Zuwanderern werden den Anforderungen in Einzelbereichen nicht mehr gerecht. Die gewandelte Stellung Deutschlands in der Staatenwelt zum Ausgang dieses Jahrhunderts verlangt teilweise eine Neubestimmung der Einstellung gegenüber Angehörigen anderer Staaten. Zur Sicherung der notwendigen Bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört es auch, Konsequenzen aus seiner Rolle als Mittelpunkt des Lebens und Arbeitens vieler Nichtdeutscher zu ziehen.
  2. Das mit der Öffnung Osteuropas sichtbar gewordene Wirtschaftsgefälle und die damit verbundenen Wanderungsbewegungen zwingen zu einer Neuorientierung. Die Hilfe für die Reformstaaten im Osten und Südosten Europas muß durch ausländerpolitische Maßnahmen unterstützt und abgesichert werden. Welche Mittel hierfür am besten geeignet sind, ob Finanz- oder Ausbildungshilfe oder aber die zeitweilige Zulassung von Arbeitskräften zum deutschen Arbeitsmarkt, muß mit Rücksicht auf die Interessen dieser Staaten und ihrer Bürger entschieden werden. Die Belange der in Deutschland lebenden Menschen - Einheimische wie Ausländer - dürfen dabei nicht außer acht gelassen werden.
  3. Die bisherigen Modelle müssen überdacht, neue Wege müssen gesucht werden. Vor allem kann auf eine von Experten schon früher vermißte Gesamtkonzeption für Zuwanderung und Eingliederung jetzt nicht mehr verzichtet werden. Ohne durchschaubare und verläßliche Zuwanderungsregeln gerät Deutschland in Gefahr, das Verhältnis zu den Zuwanderern nur unter tagespolitischen Gesichtspunkten zu betrachten.
  4. Die Rechtsstellung von Ausländern ist herkömmlich Gegenstand ganz verschiedenartiger Gesetze. Diese waren in den letzten Jahrzehnten aufgrund aktueller Bedürfnisse mehrfachen Änderungen unterworfen, ohne daß jeweils die Auswirkungen auf andere Regelwerke ausreichend geprüft und die notwendigen Angleichungen vorgenommen worden sind. Das Gesamtgefüge ist nurmehr von Spezialisten durchschaubar.
  5. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Änderungen des Asylrechts im wesentlichen als verfassungsgemäß bestätigt hat, sind insoweit neue einschneidende Regelungen nicht zu erwarten. Vor der Asylrechtsänderung 1993 sind seitens der Kirchen Mindestanforderungen formuliert worden, insbesondere hinsichtlich eines offenen Zugangs in die Bundesrepublik Deutschland, eines an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Verfahrens und eines wirksamen Abschiebungsschutzes. Diese Mindestanforderungen sind durch die erfolgten Gesetzesänderungen nicht in befriedigender Weise erfüllt worden. Darüber hinaus müssen die Regelungen über Anordnung und Vollzug der Abschiebungshaft sowie die tatsächlichen Haftbedingungen strikt an der Achtung der Menschenwürde und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet werden.
  6. Inzwischen ist der weitere Zuzug der Spätaussiedler durch Gesetz auf jährlich maximal knapp 250.000 Personen beschränkt. Damit ist die Aufnahme planbar und kommt mittelfristig zum Abschluß. Durch Ausführungsbestimmungen wird der geregelte Zuzug im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gesichert. Das schließt nicht aus, im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für Zuwanderung andere rechtliche Regelungen für den Zuzug deutscher Staatsangehöriger und Volkszugehöriger aus den Aussiedlungsgebieten zu finden.
  7. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz wurde unter anderem aus deutschlandpolitischen Gründen vor der Beendigung der Teilung nicht den Zeiterfordernissen angepaßt. Seine Einbürgerungsbestimmungen sind nicht genügend mit den im neuen Ausländergesetz gewährten Ansprüchen auf Einbürgerung abgestimmt. Diese stehen andererseits mit den Regeln über die Aufenthaltsverfestigung nicht voll im Einklang. So wird für die Aufenthaltsberechtigung als der höchsten Stufe der Aufenthaltstitel die Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen für 60 Monate verlangt, während die Einbürgerung auch ohne diese Bedingung beansprucht werden kann. Die Reform sollte zugunsten von in Deutschland geborenen Kindern bereits lange rechtmäßig hier lebender Eltern auch Elemente des Territorialprinzips ("ius soli") anstelle der bislang ausschließlichen Orientierung am Abstammungsprinzip ("ius sanguinis") aufnehmen.
  8. Um die äußerst unbefriedigende Lage der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge angemessen zu gestalten, ist es geboten, die zu ihren Gunsten erlassenen Bestimmungen um ein gerechte Kostenregelung zwischen Bund und Ländern zu ergänzen. Dies ist ein wesentlicher, bisher nicht eingelöster Bestandteil des 1993 für die Asylrechtsänderung gefundenen Kompromisses. Durch einen befriedigenden Schutz der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge kann ein wirksamer Beitrag zum Erhalt des Friedens und zur Lösung des Weltflüchtlingsproblems geleistet werden. Auch hierbei ist ein System europäischer Lastenverteilung unverzichtbar.
  9. Die Ziele der Ausländerrechtsreform von 1990, Erwartens- und Rechtssicherheit zu schaffen und damit die Integration der Ausländer zu erleichtern sowie die Akzeptanz auf seiten der deutschen Bevölkerung zu verbessern, wurden nicht in dem erwarteten Umfange erreicht. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und nicht allein durch gesetzgeberische Maßnahmen zu beheben. Dennoch erscheint es unumgänglich, die normativen Grundlagen für Einreise und Aufenthalt sowie die Einbürgerung von Ausländern zu überdenken, anhand veränderter Ausgangsdaten neu zu gewichten und überschaubar zu ordnen.
  10. Zu diesem Zweck muß das Ausländerrecht aus dem Bereich des Polizeirechts gelöst werden. Es geht nicht an, Ausländer maßgeblich aus der Perspektive der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu betrachten, ihre persönlichen Bedürfnisse dem staatlichen Interesse an der Gefahrenabwehr unterzuordnen und damit den Schutz ihrer personalen Würde hintanzustellen. Die mit dem Zuzug und dem Aufenthalt von Wanderarbeitnehmern und deren Familienangehörigen zusammenhängenden Fragen müssen zuvörderst unter den Gesichtspunkten von Menschenwürde, Arbeitsrechten, Familienschutz und Verhältnismäßigkeit gesehen und einer Lösung zugeführt werden. Nur wenn das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen auch rechtlich als Gegenstand der gemeinsamen Daseinsvorsorge ausgestaltet wird, werden die Ausländer von dem Anschein befreit, sie gefährdeten die einheimische Bevölkerung bereits durch ihre bloße Existenz. Dazu bedarf es einer klaren Wegweisung, mit welchem Ziel, in welchen Formen und unter welchen Voraussetzungen künftig eine Zuwanderung gestattet sein soll und die notwendigen Beiträge beider Seiten - der Ausländer wie der Deutschen - für eine erfolgreiche Integration geleistet werden können.
  11. Vor allem sollten diejenigen Korrekturen zugunsten von Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen vorgenommen werden, die sich aufgrund der zwischenzeitlichen praktischen Erfahrungen und zur besseren Integration als notwendig erwiesen haben, nämlich Verbesserungen für Wiederkehrer, nachziehende Familienangehörige, Ehegatten, nichteheliche Kinder und ihre Väter sowie Bewerber um eine Aufenthaltsberechtigung ohne fünfjährige Rentenanwartschaften. Die sehr differenzierten Voraussetzungen für die Zulassung des Erwerbsaufenthalts von Arbeitnehmern aus anderen als EU-Staaten, also die Ausnahmen vom Anwerbestopp, müssen durch das Gesetz selbst festgelegt werden. Die auf Assoziationsrecht beruhende Rechtsstellung der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen bedarf unbedingt der Klarstellung durch Gesetz. Sie kann um der Glaubwürdigkeit der deutschen und der europäischen Ausländerpolitik willen nicht länger dem Ermessen der Behörden und der langwierigen und kostspieligen Prozeßführung im Einzelfall überlassen bleiben.
  12. Die im Interesse der heimischen Wirtschaft und strukturellen Förderung anderer Länder erlassenen Vorschriften über temporäre Aufenthaltsrechte für Arbeitnehmer sollten ebenfalls in das Gesetz selbst aufgenommen und nicht weiter dem Verordnungsgeber überlassen werden. Die notwendige Flexibilität könnte dadurch sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber einen zahlenmäßigen Spielraum vorgibt und die Verwaltung ermächtigt wird, diesen mit Zustimmung des Bundesrates je nach Wirtschaftslage auszufüllen.
  13. Ob die geforderten Bestimmungen in mehreren Gesetzen oder in einem einzigen Gesetzeswerk eine Regelung erfahren, ist eher zweitrangig. Wesentlich ist vor allem, daß alle Regelungen jeglicher Zuwanderung jederzeit dem Anspruch auf strikte Einhaltung der Menschenwürde und dem Gebot der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit entsprechen. Diese Prinzipien dürfen auch nicht im Rahmen des Ermessenshandeln von Behörden in Frage gestellt werden. Schließlich sollte der Überlegung nachgegangen werden, ob für Zuwanderung nicht Quoten für zu bestimmende Kontingente festgelegt werden können. Dabei wird nicht verkannt, daß die Einführung von Quoten und möglichen Auswahlkriterien problematisch sein kann. So dürfen Asylbewerber, Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und deren Zusatzprotokoll von 1967, Staatsangehörige eines Drittstaates, und Personen, die im Rahmen der Familienzusammenführung aufgenommen werden, nicht unter entsprechende Höchstgrenzen fallen, da sie ein unantastbares und unveräußerliches Recht auf einen rechtmäßigen und unbefristeten Aufenthalt haben.
  14. Auf eindeutige politische Vorgaben aufgebaute gesetzliche Zuwanderungsregelungen könnten nach alldem nicht nur die Rechtslage für Ausländer wie für Deutsche transparenter machen, sondern auch den Anteil der in Deutschland ohne Aufenthaltsstatus lebenden Menschen verringern und damit die Bereitschaft zur Achtung und Anerkennung des Gesetzes stärken. Dabei ist jedoch wichtig anzuerkennen, daß kein wie immer geartetes akzeptables Instrument unerlaubte Zuwanderung gänzlich verhindern kann und daß es für Folgeprobleme solcher Zuwanderung keine abschließenden Lösungen gibt. Dennoch gilt: Je größer der Migrationsdruck in Zukunft sein wird, desto wichtiger werden Rechtsklarheit und -sicherheit in allen Zuwanderungsbereichen.

5.3.3 Rechtliche Integration

  1. Eine Gesamtregelung der Zuwanderung bliebe Stückwerk ohne eine verstärkte rechtliche Integration und ohne wirksame Verbesserungen bei der politischen Mitbestimmung und den Bürgerrechten. Die Lage der auf Dauer bei uns und mit uns lebenden Ausländer sollte nicht allein nach den geltenden Rechtsregelungen über die Stellung von Minderheiten betrachtet werden. Es gilt auch, Schwierigkeiten tatsächlicher Art bei der von beiden Seiten erwünschten Integration durch eine darüber hinausgehende Gesetzgebung zu beheben.
  2. Es ist an der Zeit, alle verfassungsrechtlichen Möglichkeiten für Veränderungen des Einbürgerungs- und des sonstigen Staatsangehörigkeitsrechts auszuschöpfen, um die Eingliederung von Ausländern nicht an Regeln scheitern zu lassen, die der weithin gegebenen Einwanderungssituation nicht mehr gerecht werden. Auch in diesem Zusammenhang sind nicht die rechtstechnischen Mittel ausschlaggebend, sondern das politische Ziel und die Bereitschaft, Einbürgerungsbegehren auch als Bereicherung für das Staatsvolk zu begreifen und zu unterstützen. Zu diesem Zweck sollte die Erweiterung der Anspruchstatbestände ebenso in Betracht gezogen werden wie eine begrenzte Einführung des Territorialitätsprinzips und die Hinnahme einer Mehrstaatigkeit, wenn die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit des Herkunftsstaates für den Betroffenen unzumutbar ist.
  3. Der Zwang zum Verzicht auf die Herkunftsstaatsangehörigkeit trifft vielfach auf emotionale Barrieren der Betroffenen. Er bedeutet für viele einen Bruch mit der Kultur, mit der Geschichte und Vergangenheit, vor allem aber einen Bruch mit menschlichen und familiären Bindungen. Denn der bisher geforderte Verzicht auf die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes bedeutet für viele ein erzwungenes Abschneiden von den Wurzeln der Herkunftskultur. Auch die zweite und dritte Generation fühlt sich oft mit ihrer Identität noch in der elterlichen Kultur verwurzelt.
  4. Unabdingbar bleibt eine sachgerechte Lösung für Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ihre Aufnahme in den deutschen Staatsverband ist spürbar zu erleichtern, um ihre beständige Ausgrenzung und damit einhergehende soziale Diskriminierungen zu vermeiden. Dabei muß das Kindeswohl im Vordergrund stehen. Zwar darf die Staatsangehörigkeit Zuwanderern und deren Familienangehörigen nicht aufgedrängt werden. Aber auf die legitimen Wünsche und die objektiven Belange von Kindern und Jugendlichen muß mehr als bisher Rücksicht genommen werden. Es wäre weder gerecht noch klug, den in Deutschland heranwachsenden jungen Menschen von ausländischen Eltern das staatsangehörigkeitsrechtliche Anderssein tagtäglich vor Augen zu führen und gleichzeitig Hürden bestehen zu lassen, die sie von der Einbürgerung fernhalten.
  5. Nach der Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger bedarf es einer erneuten sorgfältigen Prüfung, auf welche Weise die Teilhabe der Nichtdeutschen an der politischen Verantwortung für das Gemeinwesen gefördert und gestärkt werden kann. Da die Verleihung des vollen Wahlrechts an alle Ausländer an verfassungsrechtlichen Hürden scheitert, sollten andere Möglichkeiten der politischen Partizipation untersucht werden, die über die beratenden Kompetenzen der Ausländerbeiräte und der Ausländerbeauftragten hinausgehen.

5.4 Soziale und kulturelle Bedingungen der Integration

  1. Voraussetzung für wirkliche soziale Integration ist die abgesicherte, schrittweise rechtliche Integration bis hin zur Einbürgerung. Erfahrungen insbesondere mit der in Deutschland herangewachsenen sogenannten zweiten Migrantengeneration zeigen, daß ab einem bestimmten Zeitpunkt die soziale Integration ins Stocken gerät, wenn nicht die Einbürgerung rechtlich wie auch emotional erreichbar gemacht wird. Die Rahmenbedingungen für die Integration muß die Aufnahmegesellschaft setzen, rechtlich wie durch das gesamte gesellschaftliche Klima. Es liegt dann an den Zugewanderten, die Angebote zur Integration anzunehmen. Über die Folgen der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer und ihre rechtliche und gesellschaftliche Stellung hat nie eine umfassende öffentliche Diskussion stattgefunden. Deshalb gibt es in Deutschland bisher auch keinen politischen Konsens, der auch in sozial und wirtschaftlich schwierigeren Zeiten Bestand haben könnte.
  2. Eine wichtige Unterstützung der Integration ist das Angebot von Integrationshilfen. Sie umfaßt ein breites Aufgabenfeld. An erster Stelle stehen die vielfältigen Hilfen zur ersten Orientierung der Zuwanderer in einem für sie nur schwer zugänglichen gesellschaftlichen Umfeld. Aber auch für die seit langem in Deutschland dauerhaft lebende Zuwanderungsbevölkerung gibt es meist über zwei bis drei Generationen tiefgreifende Probleme in vielen Lebensbereichen. Vor allem in der Familie kommt es zu oft schmerzhaften Veränderungen im Beziehungsgefüge und des je eigenen Selbstverständnisses. Begleitende und unterstützende Dienste, ergänzt durch ehrenamtliches Engagement in Kirchengemeinden und den Kommunen sowie durch Selbsthilfe der verschiedenen Gruppen, sind unerläßlich.

5.4.1 Arbeitsleben

  1. Die wirtschaftliche Sicherung durch einen Arbeitsplatz und das damit verbundene eigene Einkommen ist für die soziale Integration wie auch die eigenständige Lebensgestaltung und -planung eine wichtige Voraussetzung. Die Integrationserfolge bei der Gruppe der Arbeitsmigranten belegen dies. Sie beruhen bis weit in die 1980er Jahre hauptsächlich auf durchlässigen und wachsenden Arbeitsmärkten und auf Bildungserfolgen ausländischer Kinder und Jugendlicher. Heute sind unter den schwierigeren wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen die verschärften Probleme und Konkurrenzen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich nicht mehr zu übersehen. Sie wirken sich nicht zuletzt auch auf die Aussiedler aus, die in letzter Zeit nach Deutschland gekommen sind. Die Zahl der arbeitslosen Zuwanderer, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, steigt.
  2. Wer als Ausländer ein Recht auf Zuwanderung hat, wie z. B. Zehntausende von Familienangehörigen, braucht von Anfang an Integrationschancen in Wirtschaft und Gesellschaft. Für sie ist die Erteilung einer Arbeits- oder Gewerbeerlaubnis ohne Wartezeiten deshalb unverzichtbar. Auch für Zuwanderer mit vorübergehendem Aufenthaltsstatus, wie Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, müssen wirtschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden. Teilhabe am Arbeitsmarkt heißt immer auch Teilhabe an Qualifizierungsmöglichkeiten. Nur so können Fertigkeiten erworben oder weiterentwickelt werden, die bei der Rückkehr in das Heimatland oder Weiterreise in einen Drittstaat Lebensperspektien eröffnen. Abhängigkeit von den Leistungen der Sozialhilfe oder dem Asylbewerberleistungsgesetz über mehrere Jahre führt in den allermeisten Fällen zur Verkümmerung der Fähigkeiten, die im Arbeitsleben gefordert sind.
  3. Neu ist der inzwischen zunehmende Anteil der in Deutschland altgewordenen Einwanderer. Die Arbeitsmigranten der ersten Generation, Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland gekommen, wachsen ins Rentenalter. Die meisten wollen bei ihren Kindern und Enkelkindern bleiben, und sie wissen das System der sozialen Sicherung in Deutschland zu schätzen. Deshalb ist es wichtig und sinnvoll, die für Deutsche eingerichtete Altenhilfe zu öffnen und Initiativen von und mit Migranten ins Leben zu rufen und zu fördern, damit Altwerden für sie nicht zur unerträglichen Belastung wird.

5.4.2 Schulische und berufliche Qualifikation

  1. Die Zahl der Schulabbrecher bei den nichtdeutschen Kindern stagniert seit einigen Jahren bei ca. 25%. Wichtig bleibt daher, für die sogenannte zweite und dritte Generation der Zuwanderer schul- und berufsbegleitende Unterstützung zur Verfügung zu stellen, damit die notwendige berufliche Qualifizierung möglich wird. Diese Kinder und Jugendlichen haben keine Alternative zu einem Leben in Deutschland. Ähnliche Entwicklungen bahnen sich bei den Kindern aus Aussiedlerfamilien an. Es kann nur allen daran gelegen sein, daß sie eines Tages erfolgreich in das Berufsleben integriert sind. Ein größerer Teil der zugewanderten Ausländer- und Aussiedlerfamilien braucht mindestens über zwei Generationen hinweg Unterstützungs- und Förderungsprogramme (z. B. Sprache, Berufsausbildung und Umschulung), um berufliche Aufstiegschancen zu haben. Für diese Ausgleichs- und Förderprogramme wird gegenwärtig immer weniger Geld zur Verfügung gestellt.
  2. Im Bereich der beruflichen Qualifikation sind jugendliche Flüchtlinge deutlich benachteiligt. Dieser Zustand ist für die Betroffenen, aber auch für das Gemeinwohl schädlich. Schulische Bildung ist Integrationschance und gleichzeitig auch Grundlage einer Wiedereingliederung im Falle einer Rückkehr oder Weiterwanderung. Dies gilt genauso für die Berufsausbildung. Schon allein deshalb sollten jugendliche Flüchtlinge nicht von Gesetzes wegen davon ausgeschlossen werden.
  3. Da wir es nicht nur mit Zuwanderung, sondern auch mit Abwanderung zu tun haben, gehören zu einer aktiven Migrationspolitik auch Programme für Beratung und Unterstützung für freiwillige Rückkehr oder Weiterwanderung, insbesondere Informationen und Beratung zum Beispiel über die Situation im Heimatland, Ausbildungsfragen, finanzielle Starthilfen und die Überleitung von erworbenen Ansprüchen aus der Sozialversicherung.

5.4.3 Wohnumfeld

  1. Die Kommunen tragen in besonderer Weise Verantwortung für die Gestaltung der sozialen Integration. Sie muß auch in den Stadtteilen und Nachbarschaften gelingen. Dort, wo Siedlungskonzentrationen von Zuwanderern auf Zeit (Siedlungskolonien) oder auf Dauer ('Ausländerghettos') entstehen, gibt es zuweilen wenig persönliche Beziehungen zu den Einheimischen, vor allem in der Freizeit. Solche Siedlungsverdichtungen sind als Übergangserscheinungen im Eingliederungsprozeß weder für Zuwandererbevölkerung noch für Aufnahmegesellschaft problematisch, denn sie bilden auch Stätten der Zuflucht in der Identitätskrise im Eingliederungsprozeß. Sie können allerdings zum Hemmnis der Eingliederung für diejenigen werden, die zu lange oder gar auf Dauer in solchen Siedlungskolonien bleiben. Andererseits kann auch die Vereinzelung von Ausländer- oder Aussiedlerfamilien in ihrem Wohnumfeld zur Isolation führen. Selbst kleine nachbarschaftliche Konflikte, wie sie überall vorkommen, können leicht zum Nährboden für wachsende Vorurteile werden. Die Wohnungsfrage ist z. Zt. eines der größten Probleme vor allem der jungen Familien der sogenannten zweiten Generation der Ausländer. Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt regeln sich für Zuwanderer unter etwas anderen Voraussetzungen als für Einheimische. Die zugewanderten Familien wohnen häufig beengter, sind oft größer und pflegen den Zusammenhalt mit Verwandten und Freunden intensiver. Sie haben es schwerer, eine angemessene Wohnung zu finden, da es noch immer Vermieter gibt, die Migrantenfamilien als Mieter grundsätzlich ablehnen. Dies ist einer der Gründe, warum sie manchmal das Wohnen in den Stadtteilen vorziehen, in denen Menschen gleicher Herkunft überwiegend wohnen.

5.4.4 Kulturelle Bedingungen der Integration

  1. Es ist ein Zeichen von wachsendem Realismus und von Normalität, wenn im Alltag respektiert wird, daß Menschen unterschiedlichen kulturellen, ethnischen, religiösen oder sprachlichen Gruppen angehören. Das trägt zu der Erkenntnis bei, daß Konflikte nicht durch Einebnung und Verleugnung solcher Unterschiede vermieden werden können. Der mitmenschliche Umgang wird zunächst einmal komplizierter und undurchschaubarer. Neue Wege der Konfliktlösung und der Vermittlung werden notwendig. Mehr und mehr gewinnt die Fähigkeit an Bedeutung, sich auf Vielfalt einlassen und damit selbstverständlich umgehen zu können.

5.4.4.1 Gegenseitiges Verständnis und Verhältnis der kulturellen Gegebenheiten

  1. Ein wesentlicher Bereich der kulturellen Integration läuft über die Eingliederung der Kinder in das bestehende Schulsystem. Formale Schulabschlüsse gibt es bis auf ganz wenige Ausnahmen nur, wenn die schulische Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen wird. Schule ist auch für die deutschen Kinder ein wichtiger Ort, an dem sie fundierte Informationen z. B. über Herkunftskulturen und -länder bekommen können. Darüber hinaus ist die Schule für alle Kinder und Jugendlichen ein zentraler Ort, erste Fähigkeiten für den interkulturellen Umgang zu erwerben.
  2. Zu den kulturellen Bedingungen der Integration gehört es aber auch, sowohl für die einheimische Mehrheit als auch für die Zugewanderten, möglichst gute Kenntnisse über die eigenen kulturellen Wurzeln und das eigene Wertesystem zu besitzen. Nur wer weiß, woher er selbst kommt und auf welchem Fundament er steht, kann selbstbewußt, tolerant und vorurteilslos mit Menschen anderer Herkunft umgehen und zusammenleben. Dann lassen sich auch kulturell bedingte Konflikte leichter bewältigen.
  3. Wir leben nicht in einer homogenen Gesellschaft. Diese hat es in der Geschichte nie gegeben. Die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt wird eher zu- als abnehmen. Die Fähigkeit, damit umzugehen, kann gelernt werden. So gibt es zum Beispiel in den Niederlanden gute Erfahrungen mit Trainingskursen, die die kulturübergreifende Verständigung, interkulturelle Konfliktfähigkeit und Toleranz fördern. Entscheidend ist, daß die einheimische Bevölkerung für einen solchen Integrationprozeß offen ist. Vor allem Haupt- und Ehrenamtliche in der Migrationsarbeit bemühen sich um Informationen über die kulturellen Hintergründe, aber auch über Gründe von Flucht und Abwanderung. Wichtiger ist jedoch, daß im gesamten Bildungsbereich, in den verschiedenen Diensten, in der Verwaltung, in den Medien und in der konkreten Alltagsgestaltung interkulturelle Aspekte berücksichtigt werden.
  4. Miteinander leben zu lernen beginnt im Kindergarten und setzt sich in der Schule, in der außerschulischen Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung fort. Es verhilft dazu, das Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft, Sprache und Kultur als bereichernde Herausforderung zu erfahren und mit unvermeidbaren Konflikten, die sich aus dem Zusammenleben ergeben, besser umzugehen. Interkulturelles Lernen entwickelt sich zunehmend zu einem Schwerpunkt kirchlicher Jugendarbeit. Internationale Jugendaustauschprogramme sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Sie sollten weiter kirchliche und öffentliche Förderung erhalten. Eine Verbindung von internationalen Programmen mit Modellen interkulturellen Lernens im Inland muß immer wieder hergestellt werden. Die Erfahrungen, die so gesammelt werden, lassen sich auch für andere Handlungsfelder nutzbar machen. Zum interkulturellen Lernen gehört, daß die verschiedenen Sprachen, Kulturen und religiösen Bekenntnisse stärker im Unterricht berücksichtigt werden. Schule kann nicht alle Defizite ausgleichen, aber die Anwesenheit von Minderheiten bei uns muß sich im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule auch in der pädagogischen Praxis wiederfinden. So bietet sich zum Beispiel an, daß mehr Lehrerinnen und Lehrer aus anderen EU-Staaten in Deutschland unterrichten.

5.4.4.2 Gemeinsames Fundament für Vielfalt

  1. Das Zusammenleben in unserer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft muß auf der Grundlage der für alle verbindlichen Grundrechte und -freiheiten gestaltet werden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bietet dieses Fundament und zugleich den Rahmen für die rechtliche und soziale Gestaltung der Gesellschaft. Sie ist in Deutschland weniger durch ethnische Minderheiten mit deutscher Staatsangehörigkeit als vielmehr durch die Einwanderungssituation mit Menschen fremder Staatsangehörigkeit gekennzeichnet.
  2. Zuwanderer haben ein Recht auf Wahrung, Pflege und Fortentwicklung ihrer kulturellen Identität, sofern deren Verwirklichung mit den Grundwerten der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist und sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung handeln. Ein wichtiges Ziel ist die gleichberechtigte Beteiligung der eingewanderten Bevölkerung am öffentlichen Leben. Ihre Selbstorganisationen bieten ihnen häufig die erste Möglichkeit, sich konstruktiv zu engagieren. Die finanzielle und ideelle Unterstützung der Selbstorganisationen gehört deshalb zu den wirksamsten Integrationshilfen. Dies muß sich auch in den Etats der öffentlichen Hände auf allen Ebenen niederschlagen. Andererseits sollten deutsche Organisationen und Vereinigungen sich verstärkt den Migranten öffnen und ihnen echte Beteiligungschancen geben.
  3. Es ist das gute Recht von Zuwanderern, politisch aktiv zu werden, auch wenn in ihren Heimatstaaten politische und kriegerische Konflikte ausgetragen werden. Dieses Recht kann nicht bestritten werden, solange dies mit friedlichen und legalen Mitteln geschieht.

5.4.4.3 Das Verhältnis zu Muslimen unter besonderer Berücksichtigung der Rahmenbedingungen für die Erteilung von Religionsunterricht

  1. In der Bundesrepublik Deutschland leben derzeit ca. 2,5 Mio. Muslime. Mit Juden und Christen stehen sie in einer gemeinsamen abrahamitischen Tradition. Aufgrund dieser fundamentalen Gemeinsamkeit im monotheistischen Gottesglauben sollte das Verhältnis zwischen den Mitgliedern dieser Religionen in besonderer Weise von gegenseitiger Achtung und Toleranz geprägt sein.
  2. Muslime genießen bei uns im Rahmen des Grundgesetzes in gleicher Weise Religionsfreiheit wie Mitglieder der christlichen Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften. Sie haben das Recht, ihren Glauben frei zu bekennen, sich für ihre religiöse Betätigung zu organisieren und zu versammeln. Ebenso steht muslimischen Eltern das Recht zu, ihren Glauben und ihre Traditionen an ihre Kinder weiterzugeben. Da der Islam in sehr unterschiedlichen Ausprägungen gelebt wird, haben sich inzwischen in Deutschland viele hundert Moscheevereine unterschiedlicher Glaubensrichtung gebildet. Manche haben sich zu bundesweiten Verbänden zusammengeschlossen. In einigen Städten gibt es Moscheebauten; die Regel sind allerdings Gebetsräume, die von außen oft kaum als solche zu erkennen sind, da es sich meist um umgebaute Gewerberäume handelt.
  3. Muslimen steht es frei, eigene Organisationen oder Institutionen sozialer Arbeit ins Leben zu rufen.
  4. Wie Angehörigen anderer Religionen sind jedoch auch Muslimen für ein Leben nach ihren religiösen Überzeugungen und Geboten in Deutschland Grenzen durch die verfassungsmäßige Ordnung gesetzt. Insbesondere sind nach dem Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Geschlechter und ein rechtsstaatliches Strafrecht gewährleistet. Die Einführung eines islamisch geprägten Strafrechts wäre daher mit unserer Verfassung ebensowenig vereinbar wie die Übernahme bestimmter muslimischer Grundsätze in unser Ehe- und Familienrecht. Besonders im Verhältnis der Ehegatten untereinander und bei der Kindererziehung dürfen fundamentale Grundwerte wie die Gleichberechtigung der Frau und das Kindeswohl nicht mit Rücksicht auf religiöse Vorstellungen hintangestellt werden. Familienrechtliche Entscheidungen anderer Staaten sind andererseits als rechtswirksam anzuerkennen, solange sie nicht gegen die deutsche Rechtsordnung verstoßen.
  5. Das heute bestehende Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in Deutschland ist historisch gewachsen. Das Grundgesetz garantiert den Religionsgesellschaften wie schon die Weimarer Reichsverfassung organisatorische Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Es stellt ihnen verläßliche Grundlagen für eine autonome Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten und die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zur Verfügung. Ob sie bei Vorliegen der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen die Rechtsform der öffentlich-rechtlichen Körperschaft und die damit verbundenen besonderen Rechte und Pflichten anstreben wollen, ist ihrer eigenen Entscheidung überlassen. Eine entscheidende Voraussetzung für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an allgemeinbildenden Schulen gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ist, daß dem Staat auf der Grundlage einer festen Organisationsstruktur der muslimischen Gemeinschaft ein Ansprechpartner zur Verfügung steht, der imstande ist, die für ein ordentliches Lehrfach erforderlichen inhaltlichen und schulpädagogischen Voraussetzungen sicherzustellen. An einer solchen, für das Zusammenwirken mit dem Staat erforderlichen repräsentativen Instanz der Muslime, die nicht notwendigerweise den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben muß, fehlt es bisher. Ungeachtet dessen steht selbstverständlich auch muslimischen Gemeinschaften das Recht zu, Kinder wie Erwachsene religiös zu unterweisen. Sie sollten dabei unterstützt und nicht behindert werden, damit auch in diesem Bereich ein positives Beispiel für ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Religionen in aller Welt gegeben wird. Damit könnte gleichzeitig Entwicklungen vorgebeugt werden, die mit unseren Vorstellungen von der Freiheit der Religionen nicht zu vereinbaren sind.
  6. Hilfen zur Integration von muslimischen Schülerinnen und Schülern sind eine wesentliche Aufgabe der öffentlichen Schulen. Dabei kommt dem Angebot eines muslimischen religiösen Unterrichtes an öffentlichen Schulen eine wesentliche integrationspolitische Bedeutung zu. Ein weiteres wichtiges Ziel ist, sowohl muslimischen wie christlichen und anderen Kindern und Jugendlichen im Schulalltag den Islam als eine Religion zu vermitteln, die Achtung in dieser Gesellschaft verdient. Ebenso verbindet sich mit einem solchen Unterricht für Kinder und Jugendliche muslimischen Glaubens die berechtigte Hoffnung, die integrationshemmenden Einflüsse kleiner islamischer Gruppen mit fundamentalistischem Gedankengut einschränken zu können. Die Entscheidung darüber, in welcher Form eine derartige religiöse Erziehung angeboten werden kann, darf nicht an den islamischen Gemeinden und Dachverbänden vorbei konzipiert werden.
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