"... und der Fremdling, der in deinen Toren ist."

3. Ursachen von Flucht, Zuwanderungen und anderen Migrationsbewegungen

  1. Die dargestellten Zuwanderungsprozesse in Deutschland stehen in einem größeren Zusammenhang. Wir haben es weltweit mit umfassenden Flucht- und Wanderungsbewegungen zu tun, deren Dimensionen dargestellt und Ursachen analysiert werden müssen, ehe Konzepte zur Überwindung der schwerwiegenden Probleme und zur konstruktiven Gestaltung gemacht werden können.
  2. Die schnelle Zunahme der Migration im Weltmaßstab ist zu einem der prägenden Merkmale der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geworden. Noch immer sind es in erster Linie Bürgerkriege, zwischenstaatliche Kriege und Verletzungen der Menschenrechte, die die großen Wanderungsprobleme nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst haben. In vielen Weltregionen haben einschneidende wirtschaftliche und soziale Veränderungen eine bereits vorhandene konfliktgeladene Atmosphäre weiter verschärft. Während einesteils Hunderte von Millionen Menschen in absoluter Armut leben, hat anderenteils in bestimmten Regionen der Welt der Lebensstandard ein Niveau erreicht, das in der Geschichte der Menschheit einmalig ist. Bei den Ursachen von Wanderungsbewegungen greifen, vereinfacht dargestellt, zwei große Faktorenkomplexe ineinander: Zum einen Lebensumstände in den Ausgangsräumen, die als drückend und schwierig, gefährlich, ja lebensbedrohlich beurteilt werden und denen man sich deshalb zu entziehen sucht - sog. Schubkräfte; zum anderen Lebensbedingungen in den Zielgebieten, die - umgekehrt - als angenehm und erstrebenswert empfunden werden (z. B. politische Freiheit, persönliche Sicherheit, Arbeitsplätze, materieller Wohlstand) und in deren Genuß man durch Wanderung zu gelangen hofft - sog. Sogkräfte. Dabei können diese Schub- und Sogkräfte höchst unterschiedlich auftreten - isoliert, einzeln und für sich (z. B. bei Flucht- und Zwangswanderungen), aber auch gleichzeitig und in den verschiedensten Stärkeverhältnissen. Daß die Migrationsbereitschaft dann am größten ist, wenn die eigenen Lebensumstände besonders desolat erscheinen und gleichzeitig die Anziehungskräfte anderer Regionen besonders groß sind, liegt auf der Hand.

3.1 Dimensionen des Weltmigrationsproblems

  1. Über das Ausmaß der weltweiten Wanderungsbewegungen gibt es keine verläßlichen Zahlen. Dies hat auch damit zu tun, daß ihre Definititon und Erfassung außerordentlich komplex ist. Ein besonderes Problem ist dabei die Abgrenzung zwischen Vertreibung, Flucht, erzwungener und freiwilliger Wanderung. So kann das wirtschaftliche Gefälle Wanderungen auslösen. Bei fortschreitenden Verelendungsprozessen, die das Minimum einer menschenwürdigen Existenz gefährden oder unterschreiten, muß dann aber von "Armutsflucht" gesprochen werden.
  2. Insgesamt beziffern die Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die sich auf der Flucht befinden und Sicherheit und neue Lebensperspektiven suchen, auf derzeit ca. 100 Millionen. Das internationale Rote Kreuz schätzt, daß die Zahl der Flüchtlinge weltweit um die Jahrtausendwende auf über 500 Millionen anwachsen wird. Als einen Indikator für die schnelle Zunahme der Zahl der Flüchtlinge und Migranten kann man die Gruppe jener Flüchtlingen verstehen, über die es die vergleichsweise besten Statistiken, nämlich die Menschen, die als Flüchtlinge vor Krieg, Bürgerkrieg und Verfolgung durch das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zahlenmäßig erfaßt werden. Registrierte der UNHCR 1970 weltweit "nur" 2,4 Millionen Flüchtlinge, so war ihre Zahl ein Jahrzehnt später schon auf 5,7 Millionen gestiegen. Nur ein weiteres Jahrzehnt später, 1990, hatte sich ihre Zahl bereits auf 14,9 Millionen erhöht. 1995 gibt das Amt eine Zahl von 27,4 Millionen Menschen an, in der 5,4 Millionen "Binnenflüchtlinge" enthalten sind (UNHCR-Report 1995/96).
  3. Starke Zunahme verzeichnet auch eine weitere Gruppe von Migranten, die zwar nicht unter den Genfer Flüchtlingsbegriff fällt, mithin auch nicht durch das humanitäre Völkerrecht geschützt wird, deren Leben und Gesundheit ebenfalls unmittelbar bedroht sind - nämlich die "Armutsflüchtlinge". Sie bilden die Mehrheit der heutigen Migranten. Über sie werden keinerlei Statistiken geführt. Deshalb gibt es hinsichtlich ihrer Zahl nur vage und zum Teil weit divergierende Schätzungen, denen zufolge sich die Gesamtzahl der "Armuts-" und "Wirtschaftsflüchtlinge" inzwischen auf mehrere hundert Millionen Menschen summiert mit ständig steigender Tendenz.
  4. Noch schwerer zu beziffern ist eine dritte Kategorie von Flüchtlingen, die seit Beginn der 1980er Jahre zunehmend in die Schlagzeilen geriet: die "Umweltflüchtlinge". Ein Bericht des UN-Umweltprogramms definierte sie als Menschen, "die gezwungen sind, ihre traditionelle Umgebung vorübergehend oder gar dauerhaft zu verlassen, da Umweltschäden (seien diese natürlicher Art oder durch den Menschen ausgelöst) ihre Existenz in Gefahr brachten und/oder ihre Lebensqualität schwerwiegend beeinträchtigten". Obwohl in vielen Regionen der Welt - insbesondere des "Ostens" und "Südens" - die Zahl der Umweltflüchtlinge zunimmt, fehlen über ihre Gesamtzahl bislang zuverlässige Statistiken. Wie weit die Schätzungen auch immer divergieren - ob es sich bei ihnen "nur" um 50 Millionen oder um mehr Menschen handelt -, unumstritten ist, daß auch die Zahl der Umweltflüchtlinge deutlich steigt.
  5. Ebenso unübersehbar wie der schnelle und anhaltende Anstieg der Migrations- und Fluchtbewegungen seit den 1970er Jahren ist ein zweites Charakteristikum der heutigen Situation: ihre Konzentration auf jene Regionen der Welt, die konventionell mit dem inzwischen immer diffuser werdenden Begriff des "Südens" bezeichnet werden. So entfielen von den 7,4 Millionen Menschen, die sich 1980 weltweit grenzüberschreitend auf der Flucht befanden, nur 0,6 Millionen auf Europa. Ein Jahrzehnt später hatte sich trotz starker Zunahme der Asylanträge in Europa - von 70.600 im Jahre 1983 auf 550.500 im Jahre 1990 (s. UNHCR-Report 1994) - der Anteil der in den westlichen Ländern lebenden Flüchtlinge an der Gesamtzahl der Flüchtlinge in aller Welt weiter verringert. Von den 17,2 Millionen Flüchtlingen, die Ende 1990 weltweit gezählt wurden, befanden sich nur 0,9 Millionen in Europa. Erst zu Beginn der 1990er Jahre trieb der blutige Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaates die Flüchtlingszahlen auch in Europa in die Höhe. 1995 gibt der UNHCR die Zahl der Flüchtlinge in seiner Zuständigkeit nur in Europa mit 6,5 Millionen an.
  6. Die Situation im "Süden" wird gravierend dadurch verschärft, daß sich die vielen Millionen von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen nicht gleichmäßig verteilen, sondern auf einige Gebiete und Länder konzentrieren. Zu den Schwerpunkten gehörte in den 1980er Jahren in Südostasien lange Zeit Thailand, wo hunderttausende indochinesischer Flüchtlinge Zuflucht gesucht und gefunden hatten; in Südasien sind Pakistan und der Iran zu nennen, die bis heute jeweils weit über 3 Millionen afghanischer Flüchtlinge beherbergen, in Ostafrika Äthiopien, der Sudan und Somalia, wo sich über 2 Millionen Flüchtlinge aufhielten, während im südlichen Afrika deutlich mehr als 4 Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Angola und Mosambik, lebten. Neu hinzugekommen ist das Flüchtlingsdrama in Ostzaire, Burundi und Ruanda. - Auch zu Beginn der 1990er Jahre war die Situation für viele Länder des "Südens" unverändert bedrückend.
  7. Von den unfreiwilligen Flüchtlingen aus politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gründen sind die Arbeitsmigranten zu unterscheiden. Dies sind Menschen, die ihre Herkunftsgebiete aufgrund einer geplanten, durch Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis in der Regel legalisierten, freiwilligen Entscheidung verlassen, um die Bedingungen zum Erwerb ihres Lebensunterhalts und ihrer Zukunftsperspektiven anderwärts zu ermöglichen. Für sie ist typisch, daß sie jederzeit und ohne rechtliche Probleme in ihre Heimat zurückkehren könnten. Die Zahl der Menschen, die außerhalb ihres Heimatlandes leben und legal unter geregelten Bedingungen einem Erwerb im Ausland nachgehen, wird auf 25 bis 30 Millionen Menschen geschätzt.
  8. Der Begriff der internationalen Migration schließt Binnenwanderungen innnerhalb eines Staates, vor allem vom Land in die Städte und von weniger entwickelten in besser entwickelte Landesteile, nicht ein. Sie sind für die Länder der "Dritten Welt" von gravierender Bedeutung. Für das letzte Jahrzehnt wurde die Zahl der vor allem die ländlichen Gebiete verlassenden Menschen (Landflucht) weltweit auf 400 Millionen bis 1 Milliarde geschätzt.
  9. Für eine zukünftige Migrations- und Flüchtlingspolitik ist eine genauere Abgrenzung und Zuordnung der Phänomene von Migration und Flucht notwendig. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention, die mittlerweile von 107 Staaten anerkannt ist, gilt als Flüchtling jede Person, die "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will ...." Damit ist das individuelle Recht auf Schutz vor Verfolgung einer Person festgeschrieben, die ihrerseits die Beweislast für ihre Verfolgung zu tragen hat.
  10. Die immer stärker werdende Ausweitung von individueller Flucht hin zu einem Massenphänomen läßt jedoch zunehmend die Gewalt-, Umwelt- und Armutsflüchtlinge, deren Flucht durch allgemeine Bedrohung und Verelendung und nicht durch individuelle Verfolgung verursacht wird, ins Blickfeld geraten. Daher dürfen die Grenzen des Asylrechts nicht gleichzeitig auch die Grenzen des gesamten Flüchtlingsschutzes sein. Dieser kann gerade auch die menschenrechtliche und wirtschaftlich existentielle Not von Flüchtlingen weltweit nicht außer acht lassen, solange diese Fluchtursachen nicht durchgreifend bekämpft und gemindert worden. Eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist als eine gemeinsame europäische Aufgabe wahrzunehmen. Ebenso sollten politische Instrumente von Konfliktverhütung und Friedensförderung ausgebaut werden. Die Erweiterung des Aufgabenfeldes des UNHCR zum Schutz und zur humanitären Hilfe von Binnenflüchtlingen in drohenden oder entbrannten Konflikten ist sinnvoll und vorbildhaft und sollte weitergeführt werden.

3.2 Krieg und Menschenrechtsverletzungen

  1. Politische, ideologische und gesellschaftliche Gegensätze führen, auch vor dem Hintergrund der ungerechten Verteilung der Güter und Chancen und der damit verbundenen wirtschaftlichen Verelendung, oft zu innergesellschaftlichen, aber auch zwischenstaatlichen Konflikten. Eine Politik, die sich in einer "unheiligen Allianz" der Interessen der herrschenden Schichten eines Landes mit wirtschaftlichen Interessen in reichen Industrieländern gegen die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung richtet, ist auf Dauer ohne Repression nach innen nicht möglich. Undemokratische Strukturen, Unterdrückung der politischen Opposition, andauernde Verletzung von Menschenrechten und Bürgerkriege sind die Folge. Wohl ebensohäufig gehören zu den politischen Fluchtursachen auch die Machterhaltungsmethoden diktatorischer und autoritärer Regime, die alle Ansätze zu Selbstorganisation, Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung und Zugang zu den Ressourcen in ihren Gesellschaften mit Gewalt unterdrücken. Die militärischen und organisatorischen Mittel dazu wurden bisher oft von den westlichen und östlichen Industriestaaten aus weltpolitischen Machtkalkülen zur Verfügung gestellt. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes werden in den Kriegsgebieten jedoch nicht nur vorher importierte Waffen eingesetzt. Durch den Abbau der Waffenpotentiale im Ost-West-Konflikt sind große Mengen von Waffen billiger denn je zu haben. Waffenexporte ermöglichen häufig erst die Austragung gewaltförmiger Konflikte. Diese rühren vielfach aus ethnischen, religiösen und kulturellen, oft weit in die Geschichte zurückreichenden Gegensätzen innerhalb der Staaten, die zudem an ihrem kolonialen Erbe zu tragen haben. Die kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren in ihrer großen Mehrheit innergesellschaftliche Konflikte. Viele Konflikte, die durch die Blockbildung der Nachkriegszeit unter Kontrolle gehalten wurden, brachen nach deren Wegfall mit besonderer Härte auf. Unaufgearbeitete historische Konflikte und blockiertes Streben nach Unabhängigkeit und ethnischer, religiöser und kultureller Eigenständigkeit brachen sich Bahn, ohne daß politische Modelle eines friedlichen Zusammenlebens etwa in föderalen Staatsgebilden vorhanden waren.
  2. Es darf schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß der mit kriegerischen Auseinandersetzungen einhergehende Ressourcenverbrauch jede nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage erschwert und so Krieg und wirtschaftliche Verelendung sich gegenseitig antreiben.

3.3 Wirtschaftliche Ursachen der Migration

  1. Flüchtlinge sind heute mehr denn je Teil eines komplexen Migrationsphänomens, bei dem politische, ethnische, wirtschaftliche, ökologische und menschenrechtliche Faktoren sich als Ursachen für Bevölkerungsbewegungen bündeln. So wie die weltweiten Migrationsströme immer größer und komplexer werden, wird auch die Grenze zwischen Flüchtlingen und Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen, immer unschärfer. Bewaffnete Konflikte und politisches Chaos sind fast unweigerlich mit einem wirtschaftlichen Niedergang verbunden. Länder, in denen Gewalt herrscht, weisen normalerweise eine niedrigere oder negative wirtschaftliche Entwicklung, sinkende Sozialleistungen, hohe Inflation und steigende Arbeitslosigkeit auf. Vor diesem Hintergrund gibt es viele verständliche Gründe, das Heimatland zu verlassen. Der Wunsch nach persönlicher und wirtschaftlicher Sicherheit gehört jeweils dazu.
  2. Innerhalb der ärmeren Weltregionen entwickeln und verändern sich die Migrationsströme analog zu den Veränderungen des relativen Wohlstandes und der Stabilität von Staaten. In einer Welt mit immer größerem Einkommensgefälle, in der die Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Arbeitsplätze, in der mehr Bürgerkriege als je zuvor in der modernen Geschichte ausgetragen werden und Menschenrechtsverletzungen noch immer an der Tagesordnung sind, verwundert es nicht, daß immer mehr Menschen von einem Teil der Erde in einen anderen zu gelangen suchen. Der Migrationsprozeß beginnt in vielen Fällen schon innerhalb des Landes selbst mit der Flucht aus ländlichen Gebieten in die rasch anwachsenden urbanen Zentren. Grenzüberschreitende Migration in bessergestellte Nachbarländer ist die nächste Stufe. Der sich auf diese Weise aufbauende Wanderungsdruck auf die Industrieländer nimmt kontinuierlich zu.
  3. Das bestehende Weltwirtschaftsystem wird nach wie vor weitgehend vom industrialisierten Norden dominiert, wenn auch die Bedeutung der sogenannten "Tigerstaaten" sowie Indiens, Südamerikas und Chinas wächst. Angesichts der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen in einzelnen Regionen lassen sich nur in begrenztem Maße generalisierende Aussagen machen. Während beispielsweise in zahlreichen Staaten ein in der ganzen Menschheitsgeschichte einmaliger Wohlstand und ein enormes Wirtschaftswachstum entstanden, kam es vor allem im Afrika südlich der Sahara vielfach zur Zerstörung der vorhandenen wirtschaftlichen Grundlagen, die der Bevölkerung eine Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse aus eigener Kraft ermöglichten. Der wirtschaftliche Niedergang mancher Staaten wird durch das Problem der Verschuldung extrem verschärft. Der Anteil der reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung am globalen Einkommen erhöhte sich zwischen 1960 und 1991 von 70 auf nunmehr 85 Prozent, während der Anteil der ärmsten 20 Prozent von 2,3 auf 1,4 Prozent fiel. In vielen Ländern ist eine wirtschaftliche Entwicklung, die an den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung orientiert ist, praktisch unmöglich geworden.
  4. Zu einer wirtschaftlichen und sozialen Verelendung in den weniger entwickelten Ländern trägt außerdem bei, daß politische und wirtschaftliche Eliten nicht selten gegen die Grundbedürfnisse ihrer eigenen Bevölkerung handeln. Dies führt häufig zu einer einseitigen Verteilung der Einkommen, einer exportorientierten Agrarpolitik zu Lasten der Versorgung der eigenen Bevölkerung sowie zu ausbleibenden Reformen. Korruption, Mißmanagement und Ineffektivität verschärfen die Situation. Ein Großteil der Bevölkerung findet überhaupt keine bezahlte Arbeit oder arbeitet unter schlechten und unwürdigen Bedingungen. Die Suche nach Arbeit ist deshalb ein wesentlicher Migrationsgrund.
  5. Im Ergebnis verstärken diese Faktoren und ihre Wechselwirkung die wirtschaftliche Marginalisierung weiter Regionen der Erde. Gleichzeitig jedoch führen die modernen Technologien zu einer weltweiten Verflechtung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Weit auseinanderklaffende Lebensstandards treffen unmittelbar oder medial vermittelt aufeinander. Unterschiedliche Lebensstile und kulturelle Prägungen und damit verbundene Bedürfnisse und Konsuminteressen werden durch die modernen Kommunikationsmittel des Verkehrs und der Informationstechnologien weltweit verbreitet. Dies verstärkt den Impuls und die Möglichkeit zur Migration, um dem Gefälle zu besseren Arbeits- und Konsummöglichkeiten zu folgen. Gerade Menschen mit einer in ihrem Land überdurchschnittlichen Ausbildung und besonderer Initiative wandern in die Wachstumszentren und schwächen damit wiederum die Entwicklungspotentiale ihrer Herkunftsländer. Dies führt in einen Teufelskreis, der die bestehenden Ungleichheiten und die Marginalisierung der Zurückbleibenden weiter verschärft.

3.4 Ökologische Ursachen von Flucht und Migration

  1. Die vorherrschende Form des weltweiten Wirtschaftens, die von dem Prinzip der Nachhaltigkeit nach wie vor weit entfernt ist, geht weithin mit ökologischem Raubbau und Umweltzerstörung einher. Auch dies wird in verstärktem Maße zu einem Flucht- und Wanderungsgrund. Allein in den achtziger Jahren fielen - nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) - 1,5 Milliarden Hektar Weide- und Ackerland der fortschreitenden Versalzung und Verwüstung der Böden zum Opfer. Andererseits gibt es zunehmend Gebiete, die durch Überflutungen und Naturkatastrophen bedroht sind. Nicht unerwähnt bleiben dürfen solche Gebiete, die durch unmittelbare Verseuchung aus industriellen Katastrophen oder durch kriegerische Handlungen unbewohnbar geworden sind. Auf 600 bis 700 Millionen Menschen wird die Zahl derer geschätzt, die in ökologisch gefährdeten Gebieten leben (zum Beispiel große Teile Bangladeschs, die von Überflutung bedroht sind, oder die Randzonen von Wüsten, etwa im Sahel in Afrika). Viele von ihnen werden in andere Regionen ausweichen müssen. Wenn nicht energisch gegengesteuert wird, wird das ökologische Ungleichgewicht weiter zunehmen. Es wird zu einer wachsenden Zahl von Umweltflüchtlingen kommen, die in der Regel zugleich Armutsflüchtlinge sein werden.

3.5 Erhöhter Wanderungsdruck infolge politischer Umwälzungen

  1. Die historischen Umwälzungen seit Beginn der 90er Jahre haben zu fundamental veränderten Bedingungen und einer neuen Dimension der Wanderungs- und Fluchtbewegungen geführt. Zugleich mit den undurchlässigen Grenzen aus Mauern und Stacheldraht sind die Migrationsgrenzen zwischen Ost und West gefallen. Einerseits wirken sich die Liberalisierung der Gesellschaften Osteuropas und ihre neue Orientierung nach Westen unmittelbar auf die Möglichkeit und den Willen zur Zuwanderung vor allem nach Mitteleuropa aus. Dies wird im wesentlichen von der immer noch sehr labilen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung dieser Staaten abhängen. Andererseits bewirken die mit dem Zerfall des Ostblocks und der ehemaligen Sowjetunion einhergehenden innerstaatlichen Repressionen und kriegerischen Konflikte eine verstärkte Fluchtbewegung. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge in Deutschland kamen Anfang der neunziger Jahre aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mehr als zwei Drittel der Flüchtlinge kommen aus Südosteuropa und aus der Türkei.
  2. Allerdings ist festzustellen, daß vor allem aus Osteuropa mit einer nur schwer einzuschätzenden Zahl von illegalen Zuwanderern oder solchen ohne Aufenthaltsstatus zu rechnen ist. Dies hat auch damit zu tun, daß die Asylverfahren in Mitteleuropa in den letzten Jahren erheblich restriktiver gehandhabt werden, andere Möglichkeiten legaler Zuwanderung jedoch nicht geschaffen wurden. Zu bedenken bleibt, daß illegale Zuwanderung nicht zu unterschätzenden sozialen und politischen Sprengstoff in sich birgt.
  3. Die Zuwanderung aus Ost- und Südosteuropa wird in ihrer Größenordnung in erheblichen Maße von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Staaten des ehemaligen Ostblocks abhängen. Ihrer politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung durch entschiedene und nachhaltige Hilfe kommt darum um so mehr Bedeutung zu.
  4. Dem wirtschaftlichen Gefälle folgen auch Wanderungsbewegungen, die aus oder über Nordafrika nach Südeuropa drängen. In diesen Staaten verbinden sich politische Radikalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch religiösen Fundamentalismus und ein hohes Bevölkerungswachstum zu einer gefährlichen Konstellation.
  5. Nicht nur in Europa, sondern auch in den jeweiligen Einflußsphären hat das Ende des Ost-West-Gegensatzes zum Wegfall von Grenzen und zu deren weitaus größeren Durchlässigkeit, aber auch zu neuen Grenzen oder Grenzansprüchen geführt. Die regulative und disziplinierende Funktion der Hegemonialmächte besteht nicht mehr. Eine neue internationale Weltordnung, etwa in einer reformierten und gestärkten UNO, die mäßigend in diesen regionalen Konflikten wirken könnte, hat sich noch nicht herausgebildet. Ein unübersichtliches multipolares politisches Kräftefeld mit Regionen ohne gestaltende politische Macht hat vielfältige politische und auch territoriale Konflikte zugelassen, die vor allem in Afrika und Asien zu neuen Kriegen und damit zu neuen Flüchtlingsströmen geführt haben. Aufgestaute Wanderungspotentiale brachen sich Bahn. Alte historische Verbindungen wurden wieder wirksam.
  6. Schließlich darf bei der Bewertung der sich verändernden historischen Rahmenbedingungen für Migration der Prozeß der europäischen Einigung nicht vergessen werden. Mit dem europäischen Binnenmarkt, der einen freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit mit sich gebracht hat, ist eine weitgehende Binnenwanderung insbesondere von Arbeitsmigranten in der Europäischen Union möglich geworden, die für das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten in den Mitgliedsstaaten der EU erhebliche Auswirkungen haben kann. Auch die damit verbundenen Integrations- und Anpassungsleistungen, die politisch gewollt und daher gesellschaftlich zu akzeptieren sind, dürfen nicht unterschätzt werden.

3.6 Demographische Entwicklung

  1. Nach den neuesten Berechnungen der Vereinten Nationen ("World Population Prospects: The 1996 Revision") leben gegenwärtig etwa 5,77 Milliarden Menschen auf der Erde, im Jahre 2015 sollen es 7,3 Milliarden sein. Die aktuelle Jahreszuwachsrate von 1,37 % oder in absoluten Zahlen 81 Millionen Menschen wurde erneut niedriger angesetzt als noch vor wenigen Jahren. Die Weltbevölkerung wird für das Jahr 2050, je nachdem, welche Annahmen zugrundegelegt werden, auf 7,7 bis 11,2 Milliarden vorausgeschätzt, wobei in Anbetracht einer Verlangsamung der Wachstumsrate eine nochmalige Verdoppelung der Weltbevölkerung bis 2050 bei Zugrundelegen der hohen Schätzungsvariante weniger wahrscheinlich ist. Der demographische Wandel hat auch in armen Ländern mit immer noch hohen Kinderzahlen bereits begonnen.
  2. Gleichwohl brauchen in den nächsten 50 Jahren noch erheblich mehr Menschen als heute Raum und die nötigen Ressourcen wenigstens für die Befriedigung ihrer teilweise gestiegenen Grundbedürfnisse. Anhaltspunkte dafür, ob dies gelingen kann, bieten statistische Daten zur Bewältigung des bisherigen Bevölkerungswachstums und der Armutsbekämpfung.
  3. Immerhin lebt die wachsende Bevölkerung der Dritten Welt heute deutlich gesünder und länger als noch vor 25 Jahren. Ebenfalls hat sich dort nach Angaben der Weltbank das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in den vergangenen 25 Jahren beinahe verdoppelt. Dennoch hat die Zahl der Armen prozentual nur geringfügig abgenommen, absolut ist sie weiter im Steigen begriffen. So lebten 1993 nur 812 Mio. Menschen, weniger als ein Sechstel der Weltbevölkerung, in den reichen Ländern mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von etwas über 23.000 $ pro Kopf, während ca. 30% der Bevölkerung oder in absoluten Zahlen 1,31 Mrd. Menschen in den armen Ländern lebten, in denen sie mit 1 $ pro Tag auskommen mußten; weitere fast 1,78 Mrd. Menschen müssen mit 2 $ pro Tag zurechtkommen. Die Zahl der absolut Armen von 30 % der Weltbevölkerung hat sich in den letzten Jahren damit zwar nicht relativ, aber absolut vergrößert.
  4. Dieses Wohlstandsgefälle, das zwischen armen und reichen Ländern derzeit weiter wächst, kann wesentlicher Auslöser für Migration sein. Ob dafür die demographische Entwicklung jeweils in erster Linie maßgeblich ist oder ob und inwieweit das Bevölkerungswachstum die vorab diskutierten Ursachen für Migration verschärft, muß im Einzelfall untersucht werden. Nachdenklich stimmen muß, daß kriegerische Konflikte, die in der Hauptsache Migrationen auslösen, derzeit nicht zwischen Ländern mit diesem Wohlstandsgefälle stattfinden, sondern innerhalb bestimmter Länder ausbrechen, also interne Gründe haben. Sie sind häufig darauf zurückzuführen, daß sich die Eliten in den Ländern mit solchen Konflikten einer modernen Entwicklung, d. h. zum Beispiel einer entwicklungsfreundlicheren Politik, verweigern und verhindern, daß die zur Verfügung stehenden Ressourcen auch in ökologischer Hinsicht verträglich zum Wohle der Bevölkerung genutzt werden können.
  5. Selbstverständlich müssen die regionalen Unterschiede der demographischen Entwicklung berücksichtigt werden. Während zum Beispiel in fast allen europäischen Staaten bei wachsendem Bruttosozialprodukt die Bevölkerungszahlen stabil bzw. leicht rückläufig sind, haben wir im Nahen Osten und in den Staaten Nordafrikas bei politisch und wirtschaftlich zum Teil schwierigen und angespannten Verhältnissen noch erhebliche Steigerungen des Bevölkerungswachstums zu verzeichnen. Aus der Verbindung politisch und wirtschaftlich solch schwieriger und angespannter Verhältnisse bei derzeit noch anhaltendem starkem Bevölkerungswachstum wird deutlich, daß mit Zuwanderungsdruck aus dieser Region auf Europa zu rechnen ist.
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