Predigt zum Buß- und Bettag 2025

Prälatin Anne Gidion am 19.11.25 in der Französischen Friedrichstadtkirche

Der Buß- und Bettag ist zutiefst aktuell. Buße befreit zur Selbsterkenntnis: Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Selbsterkenntnis hilft auch, auf eigene Schwächen zu schauen, und das zugleich aus dem Blickwinkel Gottes. Nur in seinen Augen sind wir die beste Version unserer Selbst.

Blick von der Empore in die französische Friedrichstattkirche zu Berlin
Wortlaut der Predigt

Liebe heilsam Unterbrechenden,

die Gerichtspredigt des Paulus im Eröffnungsteil des Römerbriefes ist der Predigttext am Buß- und Bettag 2025.

Ein wilder Text. Fremd. Krass. Ein Satz daraus würde ja schon völlig reichen für einen Tag. Für einen ganzen Tag. Sogar für einen Tag wie diesen.

Ein Blick zum Autor: Paulus ist Apostel. Das bedeutet: umfängliche Reisetätigkeit. Apostel ruhen sich nie aus und sind nie fertig. Erfolgschancen: geht so. Paulus will sein Geschäftsmodell durch Markterweiterung nach vorn bringen und seinen Radius erweitern – nach Westen. Auf dem Weg über Rom. Der Brief an die Gemeinde ist die Vorbereitung. Außerdem hofft er auf Unterstützung bei seinen Reiseplänen, frühes Fundraising.
Die Angesprochenen sind offenbar keine feste Gruppe.
Paulus schreibt nach Rom wohl im Jahr 56 aus Korinth. Und er geht offenbar von einer nicht besonders verbundenen, nicht notwendig jüdisch vorgeprägten Leserinnen- und Leserschaft aus – mittelkundig, milde verbunden, voller Fragen – in volatiler Zeit. Ungefähr so wie die Leserinnen und Leser Ihres Newsletters, wenn Sie einen haben. Möglicherweise interessiert, aber noch nicht verbunden. Auch deshalb atmet der ganze umfangreiche Römerbrief so etwas Grundsätzliches, Fundamentales.
Was wiederum die Reformatoren – Luther, Melanchthon, Calvin – dazu gebracht hat, ihn später als die Quelle für Reformation zu sehen.
Als Grundtext reformatorischer Theologie.
Gerechtigkeit – das ist die wichtigste Zutat des Glaubens. Und daraus gezogen für jeden/jede Einzelne/n als Ziel: Rechtfertigung.

Was heißt das heute? Was steckt darin für uns, jetzt heute,
am Buß- und Bettag?
Für mittel- und milde Verbundene, mittel- und milde Suchende. Oder mittel- und milde Erschöpfte? In Rom – oder Berlin.

1 Darum bist du unentschuldbar, o Mensch, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du, der Richtende dasselbe tust. 2 Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun.

Nur ein paar Sätze – und aus ist es mit „mittel“ oder „milde“.
Paulus spricht einen fiktiven Hörer an („o Mensch“) und meint damit alle Menschen, „die andere richten“ (κρίνειν).
κρίν steht hier für „verurteilen“, ein „negatives Urteil über den Lebensstil des anderen Menschen fällen“, schlecht reden.
Sowas würde hier natürlich nie jemand machen …

In einem Satz: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
So weit, so ethisch. Und irgendwie auch passend für Buß- und Bettag. Aber es steckt noch mehr darin.

Die wenigen Verse sind Teil einer großen Gerichtsrede – und durch die muss man erstmal durch. Das war normal für seine Zeit (und für die Reformatoren auch noch) und lange Jahre – mit Jüngstem Gericht kriegt man immer alle, dachte man zumindest lange Zeit. In den letzten Jahrzehnten ist das aus der Mode gekommen. Gott ist liebend – liebt alles, wie es eben ist, und Gericht und Sünde sind unbequem und theologisch wegsortiert. Die Lücke klafft.

Zurück zu Paulus. Der bereitet seine Jerusalemreise vor – und dafür ist es ihm wichtig, den Unterschied zwischen seinen beiden Adressatenkreisen Juden und Christen möglichst aufzuheben. Auch da – bitte hören Sie das nicht mit heutigen Ohren, auch wenn es schwer ist.
Für Paulus ist entscheidend: Kein Ansehen der Person vor Gott. Alle müssen durch das Gericht durch. Alle sind am Ende einfach: alle. Nicht diese oder jener, nicht irgendeine Kategorie: Alle sind eben einfach nur: alle. Und damit auch wir.

Und so ist der Gedanke vom Gericht modern und furios und allumfassend.

Ja: Richte nicht, damit Du nicht gerichtet wirst.
Ein Satz wie eine Stickerei auf einem Küchenhandtuch. Fürs Poesiealbum. Eine Losung – wie wir sie gern verteilen zum neuen Jahr.

Noch einmal im Zusammenhang in anderer Übersetzung:

3 Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und dasselbe tust, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? 5 Du aber, mit deiner Verstocktheit und deinem unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 der einem jeden geben wird nach seinen Werken: 7 ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; 8 Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; 9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; 10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. 11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.

Bibeltexte sind wie Diamanten. Frisch poliert, bricht sich in ihnen neu das Licht, egal, wie alt sie sind. In diesen Zeiten grandioser Performances von noch grandioseren Staatenlenkern funkelt dieser besonders hell. Die römischen Kaiser Nero und Caligula lassen heutige Machthaber überm Atlantik und Richtung Ural über die Jahrtausende hinweg grüßen. Eine furiose Anklage gegen alle Formen von Selbstüberhebung zwischen hier und Alaska.

Paulus redet sich in Rage: Alle Menschen, das reicht nicht. Was aber kann es noch mehr geben?

Kategoriewechsel. Es geht um DEN Menschen. Paulus stellt den Menschen vor Gericht: „O Mensch“!

Und wer könnte besser den Ankläger geben als Paulus!
Er war selbst Verfolger. Er kennt seine Menschen, er kennt DEN Menschen. Paulus geht in die Rolle des Anklägers. Und weil das einem Paulus nicht reicht, übernimmt Paulus alle Rollen in diesem Spiel, in dem es um alle und alles geht.
Und zugleich klagt nicht nur an, er verteidigt auch. Er nimmt alle Menschen aus dem Blickwinkel von Gottes Güte ins Visier wie eine gute Verteidigung. Es geht im Tiefsten um die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen und sich selbst zurückzunehmen zugunsten der anderen und der Zukunft.

Paulus ist Ankläger und Verteidiger in einem. Güte – „ohne Ansehen der Person“ – erlaubt es, sich selbst nüchtern zu sehen, die eigenen Schattenanteilen zu akzeptieren, sich selbst und die eigene Rolle in Frage zu stellen und damit zu einem ausbalancierten Verhältnis zum anderen Menschen zu kommen.

Wie geht es Ihnen mit dem Wort ALLE? Mich beleidigt dieses Wort auch ein bisschen. Denn ich bin so ganz anders als alle. Ich bin ich. Ich bin besonders. Ja, ich bin auch speziell. Gelegentlich seltsam. Aber vor allem: anders als ALLE. Ich bin doch ICH! (mit Robert Gernhardt: Ich bin nicht „wir“ und ich kenne viele, die auch nicht „wir“ sind …)

Paulus geht es um einen lebenslangen Prozess. Selbstreflexion:
In der großen Härte und Klarheit ist das nur mit Gottes Güte auszuhalten. Und: Das ist die einzige Grenze gegen Selbstgerechtigkeit.
Gegen das Nicht Ernstnehmen anderer. Gegen das Wegdefinieren von allem, was mir nicht ins Bild passt. Gegen diese Quelle mancher Polarisierung dieser Tage.

Buß- und Bettag.
Zutiefst aktuell. Buße befreit zur Selbsterkenntnis. Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.
Selbsterkenntnis hilft beim Blick auf eigene Schwäche.
Und das zugleich aus dem Blickwinkel Gottes. Denn in seinen – nur in seinen! – Augen sind wir die beste Version unserer Selbst.

Heute und immer.

Amen