Predigt zur Eröffnung der Woche für das Leben am 4. Mai 2019 in Hannover

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Matthäus 14,22-33

Gleich darauf forderte Jesus die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg. Das Boot war aber schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; und er ging auf dem See. Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, er sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: „Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ Darauf erwiderte ihm Petrus: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme.“ Jesus sagte: „Komm!“ Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: „Herr, rette mich!“ Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Und als er ins Boot gestiegen war, legte sich der Wind. Die Jünger aber im Boot fielen vor Jesus nieder und sagten: „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.“

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Gemeinde,

„Warum soll ich denn weiterleben?“ Die Frage meiner Kommilitonin hatte es in sich. Es war während meiner Studienzeit. Was antworten, ohne Platituden von sich zu geben? Ich sprach davon, dass für Gott jeder einzelne Mensch kostbar ist, dass jeder Mensch, auch sie, zum Bilde Gottes geschaffen und unendlich wertvoll ist. „Aber es vermisst mich doch keiner wirklich!“ Ich begann von ihren Eltern und ihrer Familie zu sprechen und auch von uns im erweiterten Freundeskreis, die sich regelmäßig an ihrer Musik freuen, die gerne mit ihr zusammen sind. „Ich habe keine wirklichen Freunde. Und die Partnerin, die ich mir wünsche habe ich auch nicht. Meiner Familie bin ich eher eine Last.“

Was sagen? Mein eigenes Leben – so reich gefüllt mit Familie und Freunden war es, dass nicht wirklich mehr Platz war für sie. Und nun aus seelsorgerlichen Gründen eine enge Freundschaft vorgeben, die es so nicht wirklich gab? Ich geriet ins Stammeln. Und ich glaube, ich habe einfach gesagt: „Bitte mach es nicht! Vertrau darauf, dass sich neue Lebensmöglichkeiten öffnen werden!“

Seelsorge an Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, bringt uns manchmal an Grenzen. Das habe ich damals erfahren. Und seitdem empfinde ich einen riesengroßen Respekt gegenüber allen Menschen, die das zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben – ob haupt- oder ehrenamtlich. Die Menschen, die ehrenamtlich in der Telefonseelsorge arbeiten, die Hauptamtlichen in der Beratungsarbeit, Selbsthilfegruppen wie die AGUS der Angehörigen um Suizid und viele andere.

„Leben schützen. Menschen begleiten. Suizide verhindern“ So heißt das Motto der diesjährigen 25. Woche für das Leben. Jedes Jahr nehmen sich ca. 10.000 Menschen das Leben, weil sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen, weil sie verzweifelt, hoffnungslos oder krank sind. Wir wollen in dieser Woche für das Leben den Hintergründen von Depression und Todeswünschen nachgehen und Wege für eine bessere Versorgung suizidgefährdeter Menschen eröffnen.

Und ich bin dankbar, dass wir diese Woche wieder ökumenisch begehen. Ob wir als Kirchen in der Zukunft die Herzen der Menschen erreichen, ob wir das wirklich ausstrahlen, wovon wir sprechen, wird sich wesentlich daran entscheiden, ob wir den Menschen den Vorrang geben vor der Pflege unserer konfessionellen Identitäten. Wenn wir gemeinsam den Menschen besser beistehen können, als wenn wir je getrennt agieren, dann ist klar, was wir tun müssen. Weder ein Helfender noch ein Hilfsbedürftiger ist zuerst katholisch oder evangelisch oder auch nur zuerst ein Christ, sondern er ist zuerst Mensch. Und wenn er Christ ist, dann ist er wirklich zuerst Christ und nicht katholisch oder evangelisch. Deswegen wünsche ich mir, dass wir gerade in Seelsorge und Diakonie als christliche Kirchen noch viel mehr gemeinsam machen als wir das bisher tun.

Warum nehmen Menschen sich das Leben? Da ist der Mensch, der an Depressionen leidet, der aus seinen dunklen Gefühlen einfach nicht mehr herauskommt und keinen Weg mehr sieht. Da ist der Familienvater, der nicht mehr herauskommt aus seinen Lebenslügen, der immer tiefer in der Verschuldung steckt und irgendwann nicht mehr aus seiner Sackgasse herauskommt. Da ist der unheilbar Kranke, der seinem Leben ein Ende machen will, solange er noch bei Kräften ist. Da ist die Frau, deren Lebensplan durch Trennung und Arbeitsplatzverlust zusammenbricht, die ihren Verlust an Selbstachtung mit Alkohol zu kompensieren versucht und sich am Ende aufgibt.

Von Gott spüren sie nichts mehr. Trost bleibt ihnen versagt. Gutes Zureden ist für sie Geschwätz.

Die, die ihr Leben selbst beenden, hinterlassen ihre Lieben, wenn sie welche haben, voller Schmerz, verzweifelt, ohnmächtig und oft auch wütend, und mit ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Schuld- und Ohnmachtsgefühlen. Wie konnte er mir das nur antun? Warum hat sie nichts gesagt? Warum habe ich es nicht gemerkt? Was habe ich falsch gemacht?

Studien sagen, dass ein Mensch, der sich das Leben nimmt, mindestens 10 Menschen aus seinem Lebenskreis in eine schwere Krise stürzt. Das sind bei 10 000 Suizidenten pro Jahr in Deutschland mindestens 100 000 Menschen. Auch an sie denken wir heute in besonderer Weise.

Für sie wie für ihre Lieben, die ihr Leben beenden, wird zur sehr realen Erfahrung was die Geschichte aus der Bibel, die wir gerade als Evangeliumslesung gehört haben, erzählt,: Sie verlieren den Grund unter den Füßen, versinken in ihrer Verzweiflung, Ohnmacht, vielleicht Wut. So wie der sinkende Petrus.

Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ sagt Jesus. Und Petrus versucht es. Er steigt aus dem Boot und geht über das Wasser auf Jesus zu. Und dann bekommt er Angst und beginnt unterzugehen. Und er schreit „Herr, rette mich!“. Und Jesus streckt sofort die Hand aus, ergreift ihn und sagt zu ihm: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“

Wie viele der 10 000 Menschen, die sich im vergangenen Jahr das Leben genommen haben, mögen auch so gerufen haben: „Herr, rette mich!“ Vielleicht haben nicht alle die Sprache des Glaubens gesprochen und zu Jesus gebetet. Vielleicht war es nur ein stiller Schrei nach Rettung, der noch nicht einmal wusste, an wen er sich richten kann. Aber es hat niemand gerettet. Es hat niemand seine Hand ausgestreckt und das Versinken verhindert.

Es ist schwer, das auszuhalten, einfach auszuhalten, dass keine Rettung da war. Dass ein Leben in Verzweiflung zuende gegangen ist, dass die, die zurückbleiben vor einem inneren und manchmal auch äußeren Scherbenhaufen sitzen. Dass alle, die sich bemüht haben, einen Menschen aus seiner Verzweiflung herauszuholen, - die Angehörigen und Freunde durch seelischen Beistand, die Ärzte durch die besten Medikamente – dass sie alle sich vergeblich bemüht haben. Und es nichts zu beschönigen gibt mit geistlichen Trostworten.

Wie können wir da überhaupt noch von Gott reden? Angesichts von so viel Verzweiflung? Angesichts von so viel unerhörten Gebeten?

Wir können nicht nur von Gott reden. Wir müssen sogar von Gott reden. Weil wir das alles gerade in der Karwoche mit durchlebt haben. Weil wir den Menschen, den sie bei seiner Geburt als Heiland der Welt begrüßt haben, gerade betrauert haben. Weil wir mit ihm in Gethsemane waren, als er – wie Matthäus berichtet - anfing zu trauern und zu zagen und zu seinen Jüngern sagt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir!“ Und sie einfach einschlafen. Und wie er dann zu Gott betet: „Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. Und wie der Kelch dann nicht vorüber geht. Wie der Heiland der Welt jämmerlich am Kreuz endet und mit einem Schrei der Gottverlassenheit stirbt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Jesus schreit für alle, die heute so verzweifelt sind, dass sie gar nicht mehr schreien können, die aber genau wie er die Erfahrung tiefer Gottverlassenheit machen.

Wir wissen alle, dass nach den Karfreitag Ostern gekommen ist. Vor zwei Wochen haben wir dieses Fest gefeiert und haben gerufen: Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!

Wie können wir dieser Gewissheit in unserer Seele Raum geben, ohne den Karfreitag zu überspielen? Ohne die Verzweiflung dann doch wieder schönzureden?

Indem wir die radikale Liebe Gottes ernstnehmen. Eine radikale Liebe, die so weit reicht, dass sie auch noch in die Abgründe der Verzweiflung vordringt. Eine Liebe, die ganz bei denen ist, die fassungslos zurückbleiben. Und eine Liebe, die stärker ist als die Verlorenheit, mit der die Verstorbenen in den Tod gegangen sind. Die Arme desjenigen, der in seiner menschlichen Gestalt die Verzweiflung selbst erfahren hat, die Arme des gekreuzigten Gottes sind offen.

Es ist eine historische Schuld der Kirche, dass sie viel zu lange diese offenen Arme Gottes dementiert hat, dass sie Menschen, die sich das Leben genommen haben, als Selbstmörder moralisch verdammt hat, dass sie ihnen das Begräbnis verweigert hat, dass sie die Schuldgefühle der Angehörigen damit potenziert hat. Dass sie das Zeugnis der Auferstehung schuldig geblieben ist.

Wie könnte Gott die fallen lassen, die für sich nur noch den Todes-Ausweg gesehen haben, wo er ihre Verzweiflung doch so gut kennt! Seit dem Leiden und Sterben Christi – bis hinein in die Gottesferne und Gottverlassenheit - gibt es keine Wege mehr, die der Gottessohn nicht schon gegangen ist und wo er uns allein lassen würde – Christus ist da, auch und gerade in der größten Dunkelheit.

Genau deswegen hat der Osterruf solche Kraft! Christus ist auferstanden. Weder Tod noch Leben oder irgendetwas anderes - nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn! Die Toten sind in Gottes guter Hand. Und für unser Leben öffnet sich die Zukunft. Das Licht mag zaghaft sein. Aber die Dunkelheit ist überwunden.

„Herr, rette mich“, sagt Petrus. Und er ergreift die ausgestreckte Hand. Lasst uns, liebe Gemeinde, solche ausgestreckten Hände sein. In unseren Beratungsdiensten, in der persönlichen Begleitung von verzweifelten Menschen, in dem, was wir als Kirchen an Liebe, an Nähe, an Erreichbarkeit ausstrahlen. Lasst uns solche ausgestreckten Hände sein und dabei wissen, dass niemand tiefer fallen kann als in Gottes Hand.

Meine Kommilitonin im Studium, der gegenüber ich ins Stammeln geriet, hat sich das Leben nicht genommen. Sie hat ihr Lebensglück gefunden. Ich habe es als Geschenk Gottes erlebt. Sie hat eine Lebenspartnerin gefunden, wurde Mutter von mehreren Pflegekindern und fand in ihrem Beruf Erfüllung.

Manchmal tut Gott Wunder. Fallenlassen wird er uns nie.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN