Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst am Sonntag, 20. März 2022 in der Johanniskirche in Erbach

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der EKD

Annette Kurschus

Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Predigttext: 1. Könige-Buch, Kapitel 19, 4-8

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

I.

Eine Tagesreise weit ist Elia gelaufen, buchstäblich um sein Leben. An seinem Mantel klebt noch das Blut der Getöteten. Seine Augenbrauen sind versengt. In seinem Haar hängt Brandgeruch. Den kann selbst der süße Duft von Ginsterblüten nicht überdecken. Dieser einsame Strauch da ist sein einziger Freund. Sonst hat er keinen, der ihm beisteht. Er lässt sich fallen, hockt da im Staub, niedergeschlagen, am Ende seiner Kräfte.

Es ist genug. Es ist genug! Ach Gott, nimm nun meine Seele.

Wie oft habe ich mich diesem Elia schon nah gefühlt in seiner erschöpften Verzweiflung. Es ist genug. Ehrlich gesagt ist es längst viel zu viel. Ich kann nicht mehr. Und ich will nicht mehr.

Unter dem Eindruck des gegenwärtigen Krieges sehe ich diesen Elia plötzlich mit empfindlicheren Augen. Und der vermeintlich vertraute Mann wird mir seltsam fremd. Ich kann nicht beiseiteschieben, was ich bisher großzügig in den Hintergrund drängte: dass er aus einem furchtbaren Gemetzel zu uns kommt, mit blutigen Händen.

Elia, der da erschöpft im Schatten des Ginsterstrauchs hockt, hat selbst eine finstere Schattenseite. Heute würde man ihn vermutlich einen Fanatiker nennen. Für ihn war genug nie genug. Bis aufs Blut verteidigte er seinen Gott. Er wollte es besser, noch radikaler machen als seine Vorfahren. Für ihn gab es nur Wahrheit oder Tod, und in diesem Eifer hat er selbst getötet, die Priester des fremdes Gottes Baal, hundertfach. Er war überzeugt: Er tut es für seinen Gott. Einen nach dem anderen hat er umgebracht, unten am Bach Kischon. Was muss das für eine Gewaltorgie gewesen sein.

Und nun ist er, der so viele in die Flucht getrieben hat, selbst auf der Flucht. So einen lässt man nicht entkommen. Aus dem gewaltigen Helden ist ein verzagter Zweifler geworden. Ein ausgebrannter Krieger, der an sich selbst verzweifelt, erschöpft vom Morden, selbst zerstört von der Zerstörung, die er angerichtet hat. Des Lebens müde.

II.

Es ist genug. Sagen viele, müde von den schrecklichen Nachrichten, und schalten ihren Fernseher oder das Radio aus. Es ist genug, ich kann es nicht mehr hören, ich will es nicht mehr sehen.

Es ist genug. Sagen andere und suchen nach Möglichkeiten, selbst zu helfen. Spenden oder packen an oder machen sich auf. Sind da, heißen Geflüchtete willkommen, öffnen die Türen ihrer Häuser und Wohnungen, kochen eine Suppe. Kleine Möglichkeiten, so scheint es – und doch so groß.

Es ist genug. Sagen unzählige Menschen auf der ganzen Welt und beten unablässig für den Frieden. Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Es ist genug. Sagt die junge Frau aus der Ukraine, die da im Bahnhof auf dem Boden kauert. Sie hat es aus ihrem Heimatdorf bis nach Deutschland geschafft. Jetzt sitzt sie erschöpft da, mit leerem Blick, den Kopf müde in die eine Hand gestützt, die andere Hand hält kraftlos das Handy. Neben ihr der kleine Junge, ein wenig verloren steht er da, mit hängendem Kopf, auf dem Rücken einen blauen Kinderrucksack. Oben heraus schaut sein Teddy und lächelt fröhlich in die Welt.

Es ist genug. Ob das endlich auch immer mehr Menschen in Russland sagen? Auch diejenigen, die bisher vom System profitiert haben?

Es ist genug. Dieser Satz aus dem Mund des Propheten Elia ist heute mein Evangelium.

Denn in diesem erschöpften Satz des müden Kriegers steckt ein Funke, der Hoffnung entfacht.

Es kann und es darf und es wird nicht immer so weitergehen, steckt darin. Es wird ein Ende geben – und einen Neuanfang. Weil Gott selbst es verheißen hat.

III.

Der fanatische Gotteskrieger kann nicht mehr. Er ist am Ende mit seinem Hass und seiner Gewalt und seinem Gemetzel.

Der ganze Einsatz: sinnlos.

Das wahnsinnige Töten: sinnlos.

Der grandiose Sieg: sinnlos.

Elia ist auf ganzer Linie gescheitert.

Sein aggressives Wüten hat nichts, überhaupt nichts gebracht.

Und da, als er am Ende ist, kommt ein Engel zu ihm. Ein Bote Gottes.

Nicht einmal kommt der, sondern zweimal. Behutsam und beharrlich. Sanft und voller Kraft. Nein, Elia soll jetzt nicht sterben. Er darf sich jetzt nicht wegducken. Mit genau dieser selbstzerstörerischen Erfahrung im Rücken soll er leben. Jetzt erst recht. Leben soll er. Und zwar anders als bisher. Neu.

Ohne Mord und Totschlag.

Ohne grandiose Machtphantasien.

Ohne diesen blinden und gefährlichen Eifer – und wäre es auch ein Eifer für Gott. Ohne vernichtende Hassgedanken.

Neu anfangen soll Elia. Und weitergehen.

Dieser Neuanfang hat tatsächlich eine Art Sterben bei sich.

Ein heilsames Sterben – zu neuem Leben hin.

Die Geschichte erzählt auf buchstäblich berührende Weise davon:  Zweimal legt der müde Krieger sich nieder, zweimal schläft er, zweimal rührt ihn der Engel leise an, zweimal hört der Kriegserschöpfte: Steh auf und iss!

Der Mann, der auf Hass und Gewalt setzte, der alte Elia, stirbt. Auferstehen und seinen Weg finden muss ein neuer Elia, einer, der weiß, wann es genug ist. Und der das Leben will – für sich und für andere.

Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir.

Und tatsächlich: Er steht auf und isst und geht, durch die Wegzehrung des Engels gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte lang.

IV.

Es ist genug.

Wie gern würden wir diesen Satz hören aus Präsident Putins Mund. Nein, er ist kein Krieger für eine heilige Sache. Nein, er ist kein Prophet, der gegen die Sünde kämpft. Nein, er ist kein moderner Elia, der verhindern will, dass die Gottlosigkeit in der Welt zunimmt. Nein, es ist kaum zu ertragen, was der Patriarch Kirill in seiner Predigt sagt.

Präsident Putin ist nicht der Prophet Elia. Aber ich wünschte mir so sehr, dass er – wie Elia – sagt: Es ist genug!

Genug Tote, genug Verletzte, genug fürs Leben Traumatisierte, auch unter den russischen Soldaten, genug Zerstörung in Charkiw und Mariupol und in den anderen Städten. Genug, genug, genug.

Und in jedem dieser Genugs klingt mit: Es ist längst viel zu viel.

Es ist genug:

Dieser Satz markiert nicht das Ende. Für Elia nicht – und für niemanden, der diesen Satz ruft oder stöhnt, schreit oder klagt oder flüstert.

Es liegt ein weiter Weg vor uns.

Ein sehr langer Weg nach allem, was wir ahnen.

Vermutlich wird er weiter sein als eine Tagesreise.

Und länger dauern als vierzig Tage und vierzig Nächte.

Gott braucht jetzt mehr als einen Engel, der mit unendlicher Geduld Brot und Wasser reicht. Wahre Heerscharen von Engeln braucht Gott. Menschen, die sich von ihm einspannen lassen und zu den Geflüchteten gehen und schauen, was sie brauchen: den Schlaf zum Ausruhen, das geröstete Brot und den Krug Wasser, das Wort, das zum Aufstehen hilft. Wegzehrung, die sie stärkt, den langen und mühsamen Weg weiterzugehen.

Brot und Wasser stehen dafür:

Auch du bekommst neue Kraft. Kraft, um loszugehen und zu leben und zu lieben und Frieden zu stiften. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Predigt zum Download