Rundfunkandacht für den Norddeutschen Rundfunk

Robert Leicht

Ich folge Dir gleichfalls mit freudigen Schritten...

In dieser Woche wird es ernst – ernst mit der Sache Jesu. Am Ende dieser Passionswoche ist alles zuende. Aber damit fängt doch alles erst an. – Der Ernst dieser Woche ist uns eher fremd geworden. Weshalb muss da einer sterben - um zu leben? – Aber lässt uns das Drama, dieser tödliche Prozess Jesu wirklich so kalt? Die vielen Aufführungen der Bach’schen Passionsmusiken finden doch Zulauf, Jahr um Jahr! Publikum findet dieser Jesus von Nazareth also durchaus. Aber findet er auch Gefolgschaft? Und was hieße dies dann: Nachfolge – Nachfolge Jesu? Etwa ein Weg zum selben, zum selben fürchterlichen Ende?

Es wird also wirklich ernst in dieser Woche. Und was wird mit unserer Furcht davor? – Der für mich merkwürdigste Aspekt aller Passionsgeschichten ist das Verhalten der Jünger, also jener Männer, auf die Jesus von Nazareth sich verließ. Und die ihn, als es ernst wurde – verließen. Als dieser Joshua von Nazareth im Garten Gethsemane – beim nächtlichen Gebet – Blut und Wasser schwitzt, schlagen sich die Jünger in die Büsche – schlummern regelrecht eine Runde, bis er sie verzweifelt fragt: „Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ (Das hindert sie freilich nicht daran, sich gleich darauf noch einmal aufs Ohr zu legen: Seelenruhig…)

Und dann erst der Petrus: Als es ernst wird, verleugnet er seinen Herrn gleich dreimal hintereinander. Und das, obwohl er vorgewarnt war – und diese Warnung empört zurückwies: „Und wenn ich mit dir sterben müsste, will ich dich nicht verleugnen.“ Das gleiche sagten auch alle Jünger…

Mit solchen Leuten also fängt die Kirchengeschichte an. Ein Skandal? Für mich ist es eher tröstlich zu wissen, dass wir mit unserer Angst nicht alleine sind, wenn es ernst wird. Wenn uns also die Frage trifft: Was interessiert Dich an dieser Geschichte: Nur die Musik – oder auch der Text? – Mit solchen Leuten wie diesen fing die Geschichte an. Selbst mit solchen Leuten wie uns könnte sie weitergehen.

Erstaunlich bleibt es allemal, dass dieser Jesus von Nazareth immer wieder Nachfolger gefunden hat – bis in unsere Tage. Menschen, die dabei sogar ihre größte Angst, die Todesangst überwunden haben.

Und umso erstaunlicher die tänzerische Lebensfreude einer Arie, die uns durch diese Woche begleiten soll. In dieser Arie aus seiner Johannespassion – ja: tanzt Bach gewissermaßen ganz aus der Reihe – aus den dicht geschlossenen Reihen unserer Sicherheiten und Ängste. – Und wir mit ihm?

Sequitur: J. S. Bach, Johannes-Passion, Aria „Ich folge dir gleichfalls...“, von Takt 14 an
Es ist ja doch alles nur Angst…
Dienstag, den 18. April 2000

In dieser Woche wird es ernst mit der Sache des Joshua von Nazareth. Seine Jünger bekommen es mit der nackten Angst zu tun. Das ist ihnen nicht vorzuwerfen. Denn Jesus selber bekommt es mit der Angst zu tun. Aber seine Jünger lassen ihn in seiner Angst allein. Jesus von Nazareth spricht seine Angst aus; er bringt sie vor – vor sich, vor seine Jünger, vor seinen Herrn. Seine Jünger aber verdrängen ihre Angst – und schlagen sich in die Büsche: „Und wenn ich sterben müsste, so will ich dich doch nicht verleugnen...“

Dietrich Bonhoeffer, einer der Märtyrer des 20. Jahrhunderts, kann einem Angst machen – und zwar in der geradezu unheimlichen Strenge, mit der er uns auffordert, diesem Jesus von Nazareth nachzufolgen – ohne Rücksicht auf eigene Lebensplanungen. Bonhoeffers geschlossenstes Buch heißt ja auch ganz knapp: „Nachfolge“. Da kann man es wirklich mit der Angst zu tun bekommen – mit der Angst um unsere bürgerliche Sicherheit und Bequemlichkeit.

Bonhoeffer hatte die Herausforderung des Nationalsozialismus sehr früh durchschaut. Und er hatte noch etwas anderes durchschaut: Nämlich die Motive derer, die sich vor der Solidarisierung mit den verfolgten Juden drückten – und die für diese Drückebergerei allerlei theologische und kirchliche Haare spalteten. Im Herbst 1934 schreibt Bonhoeffer mit Blick auf die Nazi-Diktatur: „Es muss auch endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden – es ist ja doch alles nur Angst.“ Also nicht theologische Skrupelhaftigkeit. Denn welcher Grund stünde gegen die schlichte Einsicht: Wer Juden verfolgt – der verfolgt Menschen wie Dich und mich!? Einfach nur: Angst!

Vielleicht müssten wir, wenn es wieder einmal ganz ernst wird in unserem Leben, zuerst unsere eigenen Ausreden durchschauen. Wenn wir beizeiten unserer Angst ins Auge schauen, müssen wir hinterher nicht so oft von Schuld reden.

Am Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler stellt Bonhoeffer in einem Brief aus dem Gefängnis an den jüngst verstorbenen Eberhard Bethge die unnachsichtige Strenge seines Buchs zur „Nachfolge“ in Frage. Er habe vormals versucht, glauben zu lernen, in dem er so etwas wie ein heiliges Leben führen wollte. Jetzt erkenne er, dass man nur glauben lernen könne, wenn man völlig darauf verzichte, aus sich selbst etwas zu machen – einen Heiligen, einen bekehrten Sünder, einen Gerechten… Und vielleicht auch: einen angstfreien Menschen.

Dieser Jesus von Nazareth – er brachte, als es ernst wurde, seine Angst zur Sprache. Vielleicht sollten wir ihm zunächst darin nachfolgen?

Sequitur: J. S. Bach, Johannes-Passion, Aria „Ich folge dir gleichfalls...“, von Takt 14 an


Sie gingen für ihr Volk
Mittwoch, den 19. April 2000

In dieser Passionswoche wird es ernst mit der Sache des Jesus von Nazareth. Aber haben wir eigentlich heute noch ein Gespür dafür, was das heißt: Nun wird es aber wirklich ernst! In einer Zeit, in der – wie es heißt – alles möglich ist (anything goes!), ist nichts mehr wirklich möglich – und nichts mehr wirklich ernst.

Für die Jüdin Edith Stein müssen Lebensfragen so ernst gewesen sein, dass diese Fragen sie auf eine lange Wanderschaft schickten – durch ihren jüdischen Glauben, durch eine Zeit des Atheismus, durch das Studium der Philosophie zum katholischen Glauben – und schließlich in ein Kloster der Carmeliterinnen.

Im August 1942 wurde Edith Stein nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Als die Nazis sie zusammen mit ihrer Schwester aufgriffen, da sagte Edith Stein: „Komm, Rosa, wir gehen für unser Volk.“

Man wagt sich kaum zu fragen, ob die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn Edith Stein im Frühjahr 1933 mit einer ihr so wichtigen Bitte durchgedrungen wäre. Sie hatte nämlich, erfolglos, um eine Audienz beim Papst ersucht, weil sie ihm nahe bringen wollte: Eine deutliche Enzyklika aus Rom könnte der steigenden Flut des Antisemitismus in Deutschland entgegenwirken.

Als ein anderer Papst, als Johannes Paul II. sie im Mai 1987 selig sprach, wurde Kritik laut: Dies sei eine ungerechtfertigte Vereinnahmung – denn Edith Stein sei nicht umgebracht worden, weil sie Katholikin, sondern weil sie Jüdin war. Wer wollte diese Tatsache bestreiten?

„Komm, Rosa, wir gehen für unser Volk.“ Für Edith Stein ging es offenbar um eine doppelte Nachfolge: um eine Nachfolge in der Tradition ihres jüdischen Volkes – und um eine Nachfolge in der Sache des Joshua von Nazareth.

Keine falsche Vereinnahmung, das gewiss nicht! Aber auch Christen bleibt dieses Paradox der doppelten Nachfolge nicht erspart. Die Nachfolge Christi – das heißt zugleich: dem frommen Juden Jesus von Nazareth nachzufolgen. Eines geht nicht ohne das andere! Denn dieser Jesus von Nazareth wollte in seinem Bewusstsein, es werde nun ernst mit dieser Welt, eher der letzte, der ultimative fromme Jude sein – als der erste Christ.

Ein Paradox der doppelten Nachfolge – und ein doppeltes Paradox zugleich: Nämlich das Paradox von Identität und Differenz zwischen Juden und Christen.

Um nichts anderes ging es bei der jüngsten Pilgerreise des Papstes ins Heilige Land. Und damit erst gewinnt das freudige Leitmotiv dieser ernsten Woche seinen befreienden Klang:

Sequitur: J. S. Bach, Johannes-Passion, Aria „Ich folge dir gleichfalls...“, von Takt 14 an


Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst
Donnerstag, den 20. April 2000

In dieser Woche wird es ernst mit der Sache des Jesus von Nazareth. Da bekommen wir es mit der Angst zu tun. Wie die Jünger. Und weil die es mit der Angst zu tun bekamen, schlugen sie sich ins Gebüsch und wollten die Stunde lieber verschlafen.

Wem es ernst ist mit dieser Woche, der muss sich also fragen, wovor er selber Angst hat. Wovor er lieber ausweichen möchte – hinters Gebüsch, in den frommen Christen- und Kirchenschlaf. Und wen er lieber nicht kennen möchte.

Der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg hatte schon 1935 gegen die Konzentrationslager protestiert. Nach der Pogromnacht von 1938 hielt er in der St. Hedwigs-Kathedrale zu Berlin regelmäßig Fürbitte für die verfolgten Juden. Der Gestapo war er ein Dorn im Auge – aber wegen seiner Popularität wagte sie zunächst nicht, gegen ihn vorzugehen.

Die Jünger Jesu zogen es vor, in der ernstesten Stunde zu schlafen. Petrus gar wollte so tun, als kenne er ihn nicht. Und mit solchen Leuten fing die Kirchengeschichte an. Keine starken Figuren, möchte man sagen.

Für Bernhard Lichtenberg rückte die ernsteste Stunde heran, als er nicht nur – vor lauter Angst – im Stich gelassen wurde, als er nicht nur verleugnet wurde, sondern regelrecht verraten. Am 23. Oktober 1941 erstatteten zwei Studentinnen, die sein Abendgebet mit den Fürbitten für die verfolgten Juden besucht hatten, Anzeige gegen ihn. Er wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt – wegen „Kanzelmissbrauchs und Vergehens gegen das Heimtückegesetz“. Danach sollte der auf den Tod kranke Mann nach Dachau überführt werden; er starb auf dem Weg dorthin.

In den Vernehmungsprotokollen heißt es: „Zu den Maßnahmen des Staates gegen die Juden...nimmt Lichtenberg wie folgt Stellung: Diese Maßnahmen muss er als katholischer Priester ablehnen, weil sie unchristlich sind und er diese auf Grund des Gebotes: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’ mit seinem priesterlichen Gewissen nicht vereinbaren kann.“

Ein Akt der doppelten Nachfolge – der Nachfolge Christi und der Nachfolge des Juden Joshua von Nazareth. Keine Ruhepause hinter dem Gebüsch also, kein „Ich kenne dieser Menschen nicht“ – sondern ein Bekenntnis vor der Öffentlichkeit, mitten in Berlin. Ein Bekenntnis trotz aller Angst. Denn vor den Nazi-Richtern hatte Lichtenberg bekannt: „Es gibt Stunden, in denen auch ein Priester versucht ist, zu verzweifeln.“ – Auch mit diesem Satz im Ohr hören wir das merkwürdig freudige Leitmotiv dieser ernsten Woche:

Sequitur: J. S. Bach, Johannes-Passion, Aria „Ich folge dir gleichfalls...“, von Takt 14 an


Zwischen Tod und Leben
Samstag, den 22. April 2000

Gestern war also aus allem tödlicher Ernst geworden. Die Prozess des Jesus von Nazareth war verloren, das Todesurteil grausam vollstreckt. Die ganze Sache, so schien es, verspielt. Mit dem Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast DU mich verlassen!“ war alles gesagt – und doch wohl auch verloren. Oder was sollten die Jünger sonst denken? Am Tag danach…

Was half es ihnen da, dass der Hauptmann am Fuße des Kreuzes danach, im Schock über das unvermittelte Erdbeben sagte: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“? Nachdem der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, den die Nazis zu Tode geschunden hatten, im November 1943 zu Grabe getragen worden war, trat eine Fremder aus der Volksmenge und sprach zu einem der Trauernden: „Sie haben heute einen Heiligen begraben.“ Danach…

Am Tag danach, nachdem der Weg vom Leben zum Tod gegangen war – was blieb da von der Nachfolge, zwischen Leben und Tod? An einem Tag, an dem die Jünger gar nicht ahnen konnten, dass sie schon – zwischen Tod und Leben standen?

Dieser Samstag nach dem Karfreitag muss für alle Nachfolger der fürchterlichste Tag sein, ein Tag nicht des Entsetzens und der Trauer – sondern ein Tag des Zweifels, des abgrundtiefen Zweifels. War nicht alles falsch gewesen?

Hans Bernd von Haeften gehörte zum Widerstand des 20. Juli gegen Adolf Hitler. Im Prozess vor dem Volksgerichtshof sprach er den sofort vom Blutrichter Freisler unterbrochenen historischen Satz: „Nach der Auffassung, die ich von der weltgeschichtlichen Rolle des Führers habe, nämlich, dass er ein großer Vollstrecker des Bösen ist...“

In seinem Abschiedsbrief offenbart Haeften seine abgrundtiefen Zweifel über den Anschlag auf Hitler, an dem er sich bewusst in der Nachfolge des Jesus von Nazareth beteiligt hatte: „Ich habe das fünfte Gebot nicht heilig gehalten (obwohl ich einmal Werner [den Bruder] damit zurückgerissen habe)…“ War also alles falsch und sinnlos gewesen?

Vor dem Ernst dieser Nachfolge kann man es mit der Angst zu tun bekommen. Nicht nur vorher! Sondern auch hinterher – weil das Falsche leichter zu durchschauen ist als das Richtige. Weil die Zweifel noch abgründiger sein können als die Angst.

Wer aber so zweifelt wie die Jünger, wie Haeften, wie Lichtenberg, wie die Märtyrer des 20. Jahrhunderts, deren wir uns in dieser Woche erinnerten – der steht nicht nur zwischen Leben und Tod, sondern schon zwischen Tod und Leben. Und hört deshalb schon das Leitmotiv für diese Woche:

Sequitur: J. S. Bach, Johannes-Passion, Aria „Ich folge dir gleichfalls...“, von Takt 14 an