Mit Spannungen leben

Vorwort

Seit homosexuelle Menschen sich verstärkt in der Öffentlichkeit zu ihrer Prägung und Lebensweise bekennen, ist für die Gesellschaft im allgemeinen und für die Kirche im besonderen die Frage unumgänglich geworden, welche Stellung sie zur Homosexualität einnehmen. Das immer schon vorhandene, häufig aber verschwiegene Problem, wie sich die Kirche zu ihren homosexuellen Mitgliedern verhalten solle, ist so zu einem unabweisbaren Thema auch innerkirchlicher Auseinandersetzungen geworden.

Über die damit aufgebrochenen Fragen bestehen zwischen den ökumenischen Schwesterkirchen, aber auch innerhalb der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland teilweise tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten. Dieser Streit wird mit großem Engagement, gelegentlich sogar mit erheblicher Schärfe geführt, weil es in ihm nach Meinung vieler Beteiligter um Grundfragen des christlichen Glaubens, der Auslegung biblischer Schriften und des kirchlichen Bekenntnisses geht.

Um angesichts dieser Herausforderung innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland zu einer sachlichen Klärung zu finden und womöglich zu einem Konsens zu helfen, setzte der Rat der Evangelischen Kirche im März 1994 eine ad-hoc-Kommission "Homosexualität" ein, und erteilte in vier Leitfragen den folgenden Arbeitsauftrag:

  1. Was haben wir als christliche Kirche im Blick auf den Umgang der Menschen mit ihrer Sexualität und die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von Menschen zu fördern? Welche ethische und kulturelle Orientierung haben wir zu unterstützen?
         
  2. Das bedeutet es konkret für das Verhalten der Kirche und der Christen, Lebensweisen, die von dem ethisch und kulturell gewollten Leitbild abweichen, zu achten? Wie können wir sie so achten, daß die betroffenen Menschen vor moralischen Verurteilungen geschützt sind und das Leitbild gleichwohl weder beschädigt noch verunklart wird? Welche besonderen Anforderungen und Zumutungen ergeben sich daraus für die Übernahme eines pfarramtlichen Dienstes?
         
  3. Was ist von der Einschätzung zu halten, an der Stellung zur Homosexualität entscheide sich die Bindung der evangelischen Kirche an die Heilige Schrift?
         
  4. Was ist von der Einschätzung zu halten, daß in der Frage der Homosexualität die Einheit der evangelischen Kirche auf dem Spiel stehe?

In insgesamt zehn mehrtägigen Sitzungen hat sich die ad-hoc-Kommission mit den ihrer Meinung nach relevanten Aspekten des Themas beschäftigt, dabei

  • die theologische und außertheologische Literatur möglichst umfassend herangezogen;
  • die vorliegenden kirchlichen Stellungnahmen und den sich in ihnen abzeichnenden Konsens berücksichtigt;
  • mit homosexuell geprägten Menschen unterschiedlicher theologischer Richtungen Gespräche geführt und
  • sich aufgrund dieser Informationen in einem intensiven Diskussionsprozeß auf die hier veröffentlichte Orientierungshilfe verständigt.     

Die Tatsache, daß der vorliegende Text das einmütige Ergebnis eines teilweise zähen Ringens zwischen sehr unterschiedlichen Positionen ist, ermutigt zu der Hoffnung, daß die in dieser Orientierungshilfe gefundenen gemeinsamen Positionen sich auch in der kirchlichen (und gesellschaftlichen) Öffentlichkeit als Basis für einen tragfähigen Konsens erweisen. Meines Erachtens leistet der vorliegende Text den wichtigen Dienst, die Diskussion innerhalb der Kirche sachlicher führen zu können, damit nicht in einem unverhältnismäßig hohen Maße Zeit und Kräfte gebunden werden.

Der Rat ist der ad-hoc-Kommission "Homosexualität" dankbar, daß sie den Auftrag zügig ausgeführt hat. Er hat die Ausarbeitung auf seinen Sitzungen am 25. Januar 1996 und am 23. Februar 1996 eingehend beraten und sich zu eigen gemacht. Er veröffentlicht die Orientierungshilfe als seinen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion.

Hannover, den 26. Februar 1996
Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland

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