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2. Pränatale und prädiktive Diagnostik

Pränatale Diagnostik umfaßt alle diagnostischen Maßnahmen, durch die Erkrankungen oder Fehlentwicklungen des ungeborenen Kindes vorgeburtlich erkannt und gegebenenfalls ausgeschlossen werden können. Sie setzt im weitesten Sinne mit jeder Schwangerenvorsorgeuntersuchung ein, die jeder Frau angeboten wird, und dient ausschließlich der individuellen Betreuung von Mutter und Kind während der Schwangerschaft und bei der Geburtsvorbereitung. Ziel aller pränatalen Diagnostik ist es, durch geeignete Untersuchungsverfahren Entwicklungsstörungen zu erkennen, durch Früherkennung eine optimale Behandlung der Schwangeren und des ungeborenen Kindes zu gewährleisten, Befürchtungen und Sorgen der Schwangeren zu objektivieren oder abzubauen.

Bei jeder Schwangerschaft besteht ein Basisrisiko für Erkrankungen oder Fehlentwicklungen des Kindes. Die Größenordnung für die Häufigkeit solcher Störungen, an deren Entstehung genetische Faktoren ganz oder teilweise beteiligt sind, wird in der Regel mit 3-5% angegeben. Nur ein Teil dieser Störungen wird bei der routinemäßigen Schwangerenbetreuung erkannt. Auch durch die beste Betreuung kann dieses Risiko nicht vollständig beseitigt werden.

Die allgemeine Schwangerenvorsorgeuntersuchung mit Hilfe von Ultraschall und klinischen Meßwerten wird als ungezielte vorgeburtliche Diagnostik bezeichnet; die gezielte vorgeburtliche Diagnostik richtet sich dagegen auf einen Verdacht für das Vorliegen einer bestimmten Erkrankung oder Fehlentwicklung. Die Ultraschalluntersuchung macht die Gebärmutter, die Fruchtblase und die Entwicklung des Kindes sichtbar und aufgrund medizinischer Vergleichsdaten beurteilbar. Untersuchungen von mütterlichem Blut und Urin sowie Blutdruckkontrollen vervollständigen die Betreuung einer unauffälligen Schwangerschaft.

Die gezielte vorgeburtliche Diagnostik wird bei einem konkreten Verdacht auf bestimmte Störungen angewandt. Sie kann nur eingesetzt werden, wenn die methodischen Möglichkeiten zur Abklärung vorhanden sind und das Ergebnis ausreichende Sicherheit verspricht. Ein medizinischer Anlaß für das Angebot einer spezifischen Pränataldiagnostik wird in der Regel dann gesehen, wenn ein speziell erhöhtes Risiko für eine erkennbare Störung bekannt ist. Die Schwangere hat dann Anspruch auf vollständige Information und kompetente Beratung, bevor sie der pränatalen Diagnostik gegebenenfalls zustimmt und den Weg der Abklärung wählt.

Das bekannteste Risiko besteht in der Geburt eines Kindes mit einer Chromosomenstörung. Die Häufigkeit kindlicher Chromosomenstörungen unter Neugeborenen liegt in der Altersgruppe der 20-30jährigen in der Größenordnung von ca. 0,2% und steigt von 0,6% bei der 35-jährigen, 1% bei der 38-jährigen auf über 2% bei der 41-jährigen und über 5% bei der 45-jährigen Frau. Diese Zahlen bedeuten auch, daß in etwa 97% aller vorgeburtlichen Chromosomendiagnosen ein unauffälliges Ergebnis mitgeteilt werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, daß diejenigen Frauen, die vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch nehmen, grundlos besorgt gewesen wären. Sie haben für sich persönlich das Risiko einer möglichen Erkrankung des Kindes als so gravierend eingeschätzt, daß sie diesen Weg gewählt haben.

Andere Eltern, bei deren Kindern oder in deren Familien bereits schwerwiegende Erkrankungen vorgekommen sind, können wesentlich höhere Risiken für das Auftreten der gleichartigen Erkrankung bei Kindern haben. Diese Risiken können je nach Ursache in der Größenordnung von 5-50% liegen. Für viele Erkrankungen, die durch die Veränderung eines einzelnen Gens bedingt sind (sog. monogene Erkrankungen), steht heute eine vorgeburtliche Diagnosemöglichkeit zur Verfügung.

Der Einsatz von Untersuchungsmethoden richtet sich nach den speziellen Risiken. Geht es um das Risiko einer Chromosomenstörung des Kindes, so ist die Chromosomenanalyse an dessen Zellen das geeigneteste Verfahren. Handelt es sich um ein Risiko für eine bestimmte genetisch bedingte Erkrankung, so wird diejenige Methode angewandt, die zum Nachweis geeignet ist. Zunehmend sind dies molekulargenetische Techniken, die zur Gendiagnose eingesetzt werden. Für alle diese Untersuchungen benötigt man Zellen bzw. Gewebe des Kindes, das nicht ohne Risiko für Mutter und Kind entnommen werden kann. So liegt das Risiko für eine durch den Eingriff ausgelöste Fehlgeburt bei der Amniozentese in der Größenordnung von 0,5-1% und bei der Chorionzottenbiopsie in der Größenordnung von 2-4%. Über dieses Eingriffsrisiko muß beraten werden, und es muß in die Abwägung mit eingehen, auch wenn es grundsätzlich anders zu bewerten ist als ein Erkrankungsrisiko.

Frauen, Männer und ihre betreuenden Ärztinnen und Ärzte sind daran interessiert, genauere Aussagen zu kindlichen Erkrankungen und Fehlentwicklungsrisiken zu erhalten bzw. zu machen, ohne daß Eingriffe erforderlich sind, die ihrerseits ein Risiko für das ungeborene menschliche Leben bedeuten. Die bekannteste pränatale Untersuchungsmethode ohne einen Eingriff ist nach dem Ultraschall der sog. Triple-Test, dessen Ergebnis zu einer genaueren Aussage über das individuelle Risiko für bestimmte Chromosomenveränderungen und Fehlbildungen führt. Er kann bei der Entscheidung über weitergehende pränataldiagnostische Maßnahmen berücksichtigt werden. Letztlich erlaubt aber nur die gezielte vorgeburtliche Diagnostik den Ausschluß oder die Bestätigung des Vorliegens der befürchteten Störung.

Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, daß pränatale Diagnostik alle denkbaren gesundheitlichen Störungen des Kindes vorhersagen und damit ausschließen kann. Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik im Einzelfall müssen mit den Eltern besprochen werden. In diesem Zusammenhang sind die Risiken für ein krankes Kind verständlich zu machen, die Sicherheit der Diagnostik und die Bedeutung der Befunde zu erläutern sowie die Eltern auf den Konflikt vorzubereiten, der im Fall der Bestätigung der Diagnose zu erwarten ist. Dies ist die Aufgabe der ärztlichen Beratung vor Beginn einer Pränataldiagnostik.

Wird bei einer vorgeburtlichen Diagnostik ein auffälliger Befund erhoben, müssen die Eltern in einem weiteren Beratungsgespräch über das Ergebnis eingehend informiert und beraten werden. Häufig setzen sich erst dann die Eltern mit den Handlungsalternativen Annahme des Kindes und Austragen der Schwangerschaft oder Schwangerschaftsabbruch auseinander. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein auffälliger Befund und die sich hieraus ergebenden Aussagen zu der zu erwartenden Entwicklung des Kindes keine ausreichende Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch darstellen. Alleiniger Grund hierfür kann nach geltendem Recht die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Mutter sein, wenn diese Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (sog. medizinische Indikation). In diesem Fall ist nach dem Wortlaut des § 218a Abs. 2 StGB ein Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig.

Der Weg zur Pränataldiagnostik führt für die meisten Frauen über eine erste Information der Frauenärztin/des Frauenarztes oder durch informierte Laien. Durch die Information über kindliche Erkrankungsrisiken wird zunächst unvermeidlich Beunruhigung ausgelöst. Die Möglichkeit, Störungen zu erkennen, und die eventuellen Konsequenzen eines Befundes können zu einer Entscheidungsunsicherheit und dem Gefühl führen, sich nicht vorbehaltlos auf die Schwangerschaft und das Kind einstellen zu können. Manche Frauen versuchen, diesen Konflikt für sich dadurch zu lösen, daß sie pränatale Diagnostik in Anspruch nehmen, um sich Klarheit zu verschaffen und der weiteren Schwangerschaft beruhigt entgegenzusehen. Andere entscheiden sich gegen die pränatale Diagnostik, da sie Eingriffsrisiken und eventuelle negative Konsequenzen für das Ungeborene bei einem auffälligen Befund befürchten oder ablehnen.

Diese jeweilige Entscheidung ist zu respektieren und insbesondere dann zu stärken und zu fördern, wenn sich aus dem Befund einer Pränataldiagnostik keine unmittelbaren Behandlungskonsequenzen für Mutter und Kind ergeben. In der Situation nach einem auffälligen Pränataldiagnostik-Befund kommt der Beratung eine entscheidende Bedeutung zu. Um die Ratsuchende zur Selbsthilfe und zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung für das ungeborene Kind zu befähigen, muß die Beratung sowohl umfassend auf die Lebenssituation der Frau eingehen als auch Perspektiven für ein Leben mit dem behinderten Kind eröffnen und beiden gegebenenfalls Begleitung anbieten und Hilfen vermitteln.

Als prädiktive genetische Diagnostik werden Untersuchungen bezeichnet, die bei bereits geborenen Menschen durchgeführt werden und die sich auf Erbanlagen beziehen, die im späteren Leben zu einer Erkrankung führen. Eine solche Diagnostik steht inzwischen für mehrere Erkrankungen zur Verfügung, die durch einen Einzel-Gen-Defekt verursacht werden (z.B. Huntington Krankheit, bestimmte Darmkrebsformen u.a.). Sie kann in medizinischer Hinsicht als geraten und in ethischer Hinsicht als verantwortbar angesehen werden, wenn sie im Blick auf eine verhinderbare oder behandelbare Erkrankung wichtig ist und für die eigene Lebensplanung berücksichtigt werden kann. Sie ist jedoch problematisch bei Erkrankungen, für die es keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Vorsorge oder Behandlung gibt. Die Erzeugung des Wissens über das unausweichliche, wenn auch unter Umständen vom Zeitpunkt und Verlauf her unbekannte Auftreten einer solchen Erkrankung ist immer konflikthaltig. Dennoch kann das Ergebnis einer solchen Diagnostik für die Lebens- und Familienplanung einer Person von so großer Bedeutung sein, daß sie diese Untersuchung nach entsprechender Beratung und Aufklärung für sich wünscht.

Weitaus problematischer als bei Erkrankungen, die durch ein Einzel-Gen bedingt sind, ist die prädiktive Diagnose bei multifaktoriellen Erkrankungen. Diese Diagnostik liefert in der Regel nur Hinweise auf Faktoren, die zu einer bestimmten Krankheit disponieren und erfordert eine Bewertung sowohl der Wahrscheinlichkeit der Erkrankung als auch der Schwere und der Bedeutung einer eventuellen Erkrankung im späteren Leben. Die Aussagen sind naturgemäß mit großen Unsicherheiten behaftet. Deshalb ist eine prädiktive Diagnostik für solche Erkrankungen nur dann sinnvoll, wenn sie einen Bezug zur konkreten Situation der untersuchten Person und deren Lebensumständen hat. Nur so kann ein eventuelles Ergebnis in sinnvolle, hilfreiche Entscheidungen, Einstellungen und Handlungen bzw. Lebensweisen umgesetzt werden.

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