Wieviel Wissen tut uns gut?

1. Einleitung

Es gehört zu den natürlichen Wünschen von Eltern, daß sie schon vor der Geburt ihres Kindes wissen wollen: "Bekommen wir ein gesundes Kind?" Noch vor 30 Jahren war man auf Tasten und Horchen angewiesen. Diese Methoden sind heute in den Hintergrund getreten. Seit Mitte der 60er Jahre ist es durch den medizinischen Fortschritt zu einer Neugestaltung der Schwangerenvorsorge gekommen. Die Untersuchungsmethoden konnten so weit entwikkelt und verfeinert werden, daß sie immer mehr Informationen über das Leben des ungeborenen Kindes bieten.

Ultraschalluntersuchungen gehören inzwischen zum Standard der allgemeinen Schwangerenvorsorge. Sie erlauben Einblicke in die Gebärmutter der schwangeren Frau und entwerfen Bilder von dem sich entwickelnden Kind. In seltenen Fällen eröffnen sie die Möglichkeit, zu einem frühen Zeitpunkt - während der Schwangerschaft bzw. während oder unmittelbar nach der Geburt - die Behandlung von Kindern mit Erkrankungen oder Fehlentwicklungen einzuleiten. Aber auch andere vorgeburtliche Untersuchungsmethoden bieten immer genauere Kenntnisse über das Leben des ungeborenen Kindes. So können heute mit Hilfe der pränatalen Diagnostik (vorgeburtliche Untersuchungsmethoden) die Risiken für das Auftreten bestimmter Krankheiten erkannt werden, ohne daß jedoch in jedem Fall dafür Therapien angeboten werden können.

Es entspricht dem Wunsch von Eltern, daß schon vor der Geburt alles für ihr Kind getan wird, was medizinisch möglich ist. Auch spielen das Verlangen nach größtmöglicher Sicherheit in einer unsicheren Welt und das Bedürfnis, Risiken frühzeitig zu erfahren und abzuwehren, eine Rolle. Mitunter mag dahinter auch der unrealistische "Traum vom perfekten Kind" stehen, das sein ganzes Leben lang von körperlichen und geistigen Behinderungen sowie von Risiken für ernste Erkrankungen frei sein möge.

So verständlich solche Wünsche von Eltern sind, so wichtig ist es, festzuhalten: Die vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden können die Geburt eines gesunden Kindes nicht garantieren, selbst nicht bei einem unauffälligen Ergebnis. Gezielte pränatale Diagnostik klärt lediglich, ob ein Kind eine bestimmte Erkrankung oder Fehlentwicklung hat oder nicht. In den meisten Fällen wird ein Normalbefund erhoben. In seltenen Fällen wird eine schwerwiegende Erkrankung oder Fehlentwicklung diagnostiziert. Dies kann zu einem Konflikt bei der Schwangeren und ihrem Partner führen, der sie auch einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen läßt.

Die Kirchen ermutigen alle Eltern sowie ärztliche, psychologische und soziale Beraterinnen und Berater, zu jedem Kind vorbehaltlos Ja zu sagen. Dabei sehen sie ihre Aufgabe zum einen darin, über ethische Bewußtseinsbildung und Schärfung des Gewissens zu einer positiven Einstellung gegenüber kranken und behinderten Menschen in unserer Gesellschaft beizutragen. Zum anderen zeigen die Kirchen mit ihren ambulanten und stationären caritativen und diakonischen Einrichtungen auch Wege der Hilfe für die betroffenen Frauen und Paare auf. Damit tragen sie aktiv zu einer positiven Einstellung gegenüber behinderten Menschen und zu deren Lebensqualität in unserer Gesellschaft bei.

Doch das allein reicht nicht aus. Auch die Kirchengemeinden sind aufgerufen, sich mit Engagement und Phantasie Familien mit behinderten Kindern zuzuwenden. Diese erwarten, am kirchlichen Gemeindeleben mit seinen weltlichen und liturgischen Festen und Feiern teilnehmen zu können, dazu eingeladen zu sein und die Voraussetzungen dafür zu erhalten. Solche Angebote und Hilfen sind glaubwürdige Zeugnisse von der Zusage Gottes, daß jedes Kind liebenswert ist. Jedes menschliche Leben ist von Gottes Fürsorge begleitet.

Die Kirchen haben begrüßt, daß nach dem Wortlaut des § 218 StGB von 1995 die embryopathische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer zu erwartenden schweren Erkrankung des Kindes weggefallen ist. Aber sie befürchten im Zusammenhang mit dem Wegfall der embryopathischen Indikation einen Mißbrauch der medizinischen Indikation. Der Gesetzgeber hat die medizinische Indikation wie folgt formuliert: "Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist dann nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann". Es besteht hier die Gefahr, daß bei falscher Auslegung der medizinischen Indikation Abtreibungen allein auf der Grundlage eines Pränatalbefundes mit der ausschließlichen Begründung der zu erwartenden Behinderung des Kindes vorgenommen werden.

Die pränatale Diagnostik ist Teil eines modernen Medizinzweiges, der pränatalen Medizin. Weil die pränatale Diagnostik immer auch voraussagenden Charakter hat, überschneidet sie sich mit einer neuen Art von Diagnostik, die "prädiktiv" (voraussagend) genannt wird. Diese bietet nicht nur für ungeborene Kinder Untersuchungsmethoden zur Feststellung von Erkrankungen an. Auch für die Zeit nach der Geburt gibt es inzwischen immer mehr Möglichkeiten, ihre gesundheitliche Entwicklung vorauszusagen. Solche Voraussage wird notwendig und richtig, wenn das Vorauswissen der Vorbeugung, Hilfe und Heilung sowie der persönlichen Orientierung dienen soll. Vorauswissen wird aber dann problematisch, wenn es künftige Krankheiten und Schäden aufdeckt, die einerseits unvermeidbar und andererseits unheilbar sind.

Ermöglicht wird solches Vorauswissen infolge der zunehmenden Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen. Seit Jahren sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt damit beschäftigt, den gesamten Bauplan des menschlichen Erbgutes, das Genom, zu erforschen. Sie versprechen sich davon für die Medizin bessere Diagnose- und Prognosemöglichkeiten hinsichtlich des Erkrankungsrisikos und neue Therapien für genetisch bedingte Erkrankungen.

Dabei liegt das Mißverständnis nahe, der Mensch sei nichts anderes als sein Genom. Ein Mensch ist aber mehr als die Summe seiner Gene. Die genetische Ausstattung gehört zwar zur Natur des Menschen. Aber der Mensch ist nicht nur Natur, er hat eine Geschichte, eine Biographie. Ohne Natur kann der Mensch nicht existieren. Aber er ist nicht nur biologische Natur, sondern Person. Person ist der Mensch im Gegenüber. Als Christen glauben wir, daß Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat (1. Mose/Gen 1,27). Jeder Mensch ist als Person Ebenbild Gottes. Als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch von Gott gewollt, d.h. von Gott bejaht und angenommen in seiner unaustauschbaren Eigenart. Das beinhaltet zudem: Als Ebenbild Gottes hat jeder Mensch eine eigene Würde und einen unverfügbaren Eigenwert. Deshalb darf niemand einem Mitmenschen das Leben nehmen: Wer sich am Menschen vergreift, vergreift sich letztlich an Gott (vgl. 1. Mose/Gen 9,16). Schöpfer, Bewahrer und Vollender des Lebens ist allein Gott. Menschliches Leben ist somit in sich wertvoll; es ist heilig. Unabhängig davon, welchen Grad an Gesundheit, Erkenntnis, Selbstbewußtsein oder körperlicher, geistiger und seelischer Leistungsfähigkeit es besitzt, ist das Leben des Menschen vorgeburtlich und dann bis zum Tod zu schützen.

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