Wieviel Wissen tut uns gut?

4. Mit Wissen verantwortlich umgehen

  1. Die Erforschung des menschlichen Genoms und die Fortschritte der pränatalen Diagnostik haben unsere Erkenntnismöglichkeiten enorm erweitert. Offen ist freilich, wem solches Wissen im konkreten Fall zugute kommt, wer Gewinn aus erweitertem Wissen und Erkenntnis ziehen kann. Die Wissenschaft als solche? Die Gesellschaft, die unter Umständen Kosten spart? Das betroffene Individuum? Nichtwissen kann zwar schaden; aber zuviel Wissen kann ebenfalls fragwürdige Auswirkungen haben. Wer nämlich über alle denkbaren Risiken aufgeklärt wird, kann durch solches Wissen auch verunsichert, belastet und verängstigt werden. Gerade die Einsicht in die persönlichen Anlagen kann fragwürdige Nebenwirkungen im Blick auf die eigene Lebensdeutung und Lebensführung, vor allem im Blick auf die Zukunftsperspektive auslösen. Es entspricht nicht zuletzt christlicher Verantwortung, dem einzelnen und der Gesellschaft zu vermitteln, daß das Wissen um die genetische Ausstattung und Disposition des Menschen zwar eine relative Bedeutung im Hinblick auf einzelne Lebensentscheidungen und das Lebensschicksal haben kann, daß aber weit grundlegender und wichtiger die Glaubensgewißheit ist, daß wir - ob gesund oder krank, behindert oder nicht-behindert - getragen sind von der Liebe Gottes. Diese Zuversicht schenkt dann auch die Gewißheit in der Auseinandersetzung mit dem Wissen um eine akut bestehende oder für die Zukunft prognostizierte Krankheit.
  2. Die Frage, wem eine Vergrößerung des Wissens zugute kommt, verschärft sich außerdem noch, wenn man bedenkt, daß Wissen Macht bedeutet und verleiht. Die These, je mehr man an Wissen und Informationen besitze, desto weniger müsse man nach ethischer Beurteilung entscheiden und verantworten, ist also umzukehren. Mit dem Ausmaß des Zuwachses an Wissen wächst auch die Verantwortung für den Gebrauch von und für den Umgang mit Wissen. Denn ein höheres Maß an Wissen erweitert die Möglichkeiten der Wahl und nötigt zur Entscheidung. Der Entscheidungsdruck verstärkt sich noch, wenn man dabei über Dispositionen und Schädigungen informiert wird, aber gleichzeitig erfährt, daß man nichts ändern bzw. nicht therapieren kann. In manchen oder gar vielen Fällen beruhigt somit Wissen, wenn der Befund nichts Negatives ergibt; in anderen Fällen können Wissen und Prognosen die Verängstigung und Unsicherheit noch verstärken. Auch in diesem Fall vertraut christlicher Glaube auf die im Geschick Jesu bekräftigte Zusage Gottes, besonders den Schwachen und Leidenden nahe zu sein, Gelassenheit und Zuversicht zu schenken.
  3. Wissen, Informiertsein und ethische Beurteilung sind nicht dasselbe. Ein ethisches Urteil wird im Ernstfall zur Norm eigener Entscheidung. Eine wichtige Aufgabe der Kirche ist es daher, mit ihrer Lehre, Beratung und seelsorgerlichen Begleitung zur Gewissensbildung beizutragen und anzuleiten und damit ein selbständiges ethisches Urteil der Betroffenen und aller an der pränatalen und prädiktiven Diagnostik Beteiligten zu ermöglichen. Dazu sind ethische Fragen und Probleme bewußt zu machen und mögliche Alternativen vorzustellen und zur Erwägung zu geben. Über Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin ist nicht nur zu informieren. Zur verantwortlichen Gewissensbildung gehört auch die Vermittlung von ethischen Maßstäben und die Sensibilität für zumutbare und menschlich tragbare Entscheidungen. In diesem Zusammenhang erhält die kirchliche Beratung einen eigenen Stellenwert.
  4. Ein besonderes Problem stellt sodann die theoretische Legitimation von Wissenwollen und Neugierde dar. Es ist ein Urbedürfnis des Menschen, immer mehr wissen zu wollen. Man kann Neugierde nicht verbieten. Dennoch ist zu unterscheiden zwischen zwei Arten von Neugierde. Die theoretische Neugierde, das Wissensstreben, das Grundlagenforschung und Wissenschaft vorantreibt, kann und darf man nicht behindern oder gar verbieten. Davon zu unterscheiden ist die praktische oder persönliche Neugierde. Diese dringt in der Lebenswelt oft unbefugt in den persönlichen Bereich des Nächsten ein. Es gibt aber Grenzen des Ausforschens des Menschen. Es gibt kein Recht, das erlaubt, daß jeder alles über jeden weiß, von dem er etwas wissen möchte. Der Schutz der Privatsphäre und das "informationelle Selbstbestimmungsrecht" der individuellen Person sind zu wahren und zu schützen, auch bei pränataler und prädiktiver Diagnostik. So führt die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Neugierde zurück zur Frage, wem welches Wissen konkret nützt. Die Frage wird noch schwieriger, wenn man bedenkt, daß in der wissenschaftlichen Medizin Grundlagenforschung und praktische Anwendung sich heute nicht scharf und eindeutig voneinander abgrenzen lassen, sondern miteinander verzahnt sind. Um so dringlicher ist es, Grenzen des Wissens zu markieren und einen Bereich zu sichern, der dem einzelnen ein Recht auf Nichtwissen zugesteht. Der Mensch ist sich selbst und anderen ein Geheimnis. Allein vor Gott ist der Mensch in seinem letzten Grund offenbar, wie der Psalmist sagt: "Meine Glieder waren dir nicht verborgen, deine Augen sahen, wie ich entstand." (Ps 139)
  5. Wissen und Gewißheit sind nicht dasselbe. Wissen schenkt und begründet nicht Lebensgewißheit. Alles menschliche Wissen ist vielmehr begrenzt. Wissen garantiert auch nicht letzte Gewißheiten. Es bleibt im menschlichen Leben immer ein Rest an Unsicherheit und Ungewißheit. Das Nichtvorhersehbare läßt sich nicht völlig ausschalten - mag man dieses Unvorhersehbare Zufall, Schicksal, Fügung oder Gottes Willen nennen. Leben ohne Risiko und ohne Überraschungen, Unerwartetes gibt es nicht. Weil Wissen nicht Lebensgewißheit stiftet, ist auf den Beitrag des Glaubens aufmerksam zu machen. Lebensgewißheit beruht auf der Zuversicht, daß unser Leben in allem, das uns widerfährt, in Gottes Hand steht. Der christliche Glaube ist zwar kein Ersatz von Wissen; er schafft aber im Vertrauen auf Gottes Liebe und Gnade Lebenszuversicht. Gerade angesichts menschlich schwieriger Aspekte und Implikationen pränataler Diagnostik, prädiktiver Medizin und genetischer Untersuchungen kann der Glaube zur Lebensgewißheit und Hoffnung befreien. Der Glaube will zum Leben ermutigen, helfen, Lebensangst auszuhalten und zu überwinden. Er kann die Kraft schenken, selbständig und gewissenhaft zu entscheiden. Die Erkenntnis des Glaubens, das Grundvertrauen auf Gottes Zusagen des Lebensgeleits und seiner Gnade zu verkündigen und damit eine Grundorientierung des Lebens zu eröffnen und zu geben, ist die besondere Aufgabe christlicher Verkündigung, während die Gewinnung ethischer Maßstäbe eine allgemeinmenschliche Aufgabe ist. Bei all dem gilt es zu bedenken: Auch aus noch so vielen biologischen Daten über die Struktur des Menschen vermögen wir nicht den Sinn unserer Existenz herauszulesen. Ihren Lebenssinn gewinnen Menschen nicht aus ihren Chromosomen und Genen, sondern aus dem Umgang mit ihrer "Natur" in sozialen, persönlichen und religiösen Beziehungen. Lebenssinn ist mehr als Funktionieren. Er ist nicht machbar, sondern Sache des Glaubens. Biologisches Wissen mag zwar bewußteres menschliches Handeln ermöglichen, kann aber persönliche Lebensperspektiven nicht ersetzen.

Pränatale Diagnostik und voraussagende Medizin haben das Wissen der pränatalen Medizin und die Einsicht in das vorgeburtliche Leben wesentlich erweitert und vergrößert. Mit dem Wissen wachsen die Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Der Fortschritt in der Erkenntnis der biologischen Natur des Menschen und die Aufklärung des Genoms können dazu beitragen, Ängste und Befürchtungen durch die Feststellung zu beseitigen, daß keine Störung oder Schädigung vorliegen. Diese Chancen der Diagnose vor und während einer Schwangerschaft nehmen Sorgen. Deshalb werden die Möglichkeiten pränataler Diagnostik von vielen Menschen dankbar in Anspruch genommen.

Zugleich sind allerdings neue Risiken und Gefährdungen entstanden. Behinderte Menschen und Behindertenverbände befürchten beispielsweise eine Stigmatisierung von behinderten Menschen aufgrund der aus einer Feststellung vorgeburtlicher Schäden erwachsenden Folgen. Das größere Wissen eröffnet nämlich neue Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten. Menschliches Nachdenken betont schon seit der griechischen Philosophie, daß Wissen eine natürliche Veranlagung des Menschen sei. Sie verweist dazu stets auf den praktischen Nutzen von Erkenntnis und von Fortschritten in der Beherrschung der Natur. Gerade die medizinische Bekämpfung von Krankheit und Leiden bot und bietet dafür reiche Anschauung.

Biblische Einsicht hat demgegenüber im Bilde vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen die Zweideutigkeit allen menschlichen Wissens beschrieben. Der Mensch soll diese Welt, den Garten, bebauen und bewahren (1. Mose/Gen 2,15-17). Der Mensch aber ließ und läßt sich verführen und will selbst wie Gott werden (1. Mose/Gen 3,1-7). Wenn Menschen aber nicht mehr Geschöpf sein wollen, sondern sich selbst zum Schöpfer machen, dann überschreiten sie die ihnen als Geschöpf gesetzten Grenzen und verlieren dadurch auch das Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse. Diese biblische Wahrheit gilt für alle menschlichen Erkenntnisse und alles menschliche Tun. Denn weil Wissen Macht verleiht, können Menschen Wissen auch mißbrauchen und in Überheblichkeit die dem Menschen gesetzten Grenzen mißachten und überschreiten.

Die Kirchen erinnern mit ihrer Botschaft an diese biblische Wahrheit. Diese Wahrheit gilt auch für die pränatale Diagnostik und für die vorausschauende Medizin insgesamt. Christlicher Glaube macht damit deutlich, daß nicht die technische Machbarkeit ausschlaggebend sein kann, sondern daß erst Verantwortung und Mitmenschlichkeit, die Bereitschaft zum Mitleiden und die Wahrnehmung von Belastungen und Beeinträchtigungen der Wirklichkeit des Lebens in Glück und Unglück, in Heilung und Leiden gerecht werden.

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