"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"

Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015

1. Einleitung

Die Welt steht vor einer epochalen Wende. Das unkritische Festhalten am Entwicklungsmodell einer wachstumsorientierten und ressourcenintensiven Industriegesellschaft, das in Europa seinen Ausgang nahm und von vielen Ländern nachgeahmt wurde und wird, führt global gesehen in eine Sackgasse. Die sozialen Verwerfungen und die ökologischen Zerstörungen, die mit diesem Gesellschafts- und Wirtschaftskonzept einhergehen, sind nicht mehr zu übersehen. Sie sind wissenschaftlich umfassend dokumentiert. Menschengemachter Klimawandel und Raubbau an der Umwelt zerstören schon heute die Existenzgrundlagen von Millionen von Menschen. Die sozialen Folgen, die eine ungebremste Fortsetzung bisheriger Trends der Umweltzerstörung erwarten lässt, sind Anlass zu größter Sorge. Trotz der Dynamik des weltwirtschaftlichen Wachstums ist es bisher nicht gelungen, extreme Armut und Hunger in der Welt zu überwinden. Sie wurden zwar deutlich reduziert, doch die Schere zwischen Wohlstand und Armut klafft weiter auseinander. Die Globalisierung einer westlichen Entwicklungsidee und die geschürte trügerische Renaissance einer »nachholenden Entwicklung« der Schwellenländer dürften die Krise weiter verschärfen.

Über Auswege aus der Krise dieses Entwicklungsmodells wird heute überall in der Welt nachgedacht. Dabei spielt der so genannte Post-2015-Agenda-Prozess eine herausragende Rolle. Die Staatengemeinschaft hat sich unter dem Dach der VN vorgenommen, nach dem Auslaufen der MDGs neue Ziele für eine global nachhaltige Entwicklung festzulegen, die für alle Staaten – nicht nur für die Entwicklungsländer – gelten sollen. Die sich in Umrissen abzeichnende Post-2015-Agenda bietet die Chance für eine neue Weichenstellung der weltweiten Entwicklung. Dennoch ist ein Masterplan für ein praktikables Modell einer alternativen ressourcenarmen, klimaverträglichen und sozial gerechten Entwicklung nicht in Sicht. Die Transformation in eine zukunftsfähige Gesellschaft kann als ein »wissensbasierter gesellschaftlicher Suchprozess« [1] verstanden werden, der sich einer Zentralisierung entzieht. Alle gesellschaftlichen Kräfte sind aufgefordert, sich an dieser Suche nach neuen Maßstäben für die Gestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der sozialen Ordnung zu beteiligen. Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung möchte mit diesem Text einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über neue Maßstäbe und Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung leisten.

Die Kirchen sind in besonderer Weise herausgefordert, die sozialen und spirituellen Konstituenten eines guten Lebens – aus christlicher Sicht eines Lebens in Fülle – zu benennen. In dieser Studie wird erläutert, unter welchen Bedingungen gutes Leben für alle Menschen unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen möglich ist und welche Maßstäbe uns demgemäß auf dem Weg zu einem neuen Verständnis einer global gerechten und zukunftsfähigen Entwicklung leiten können. Dabei muss aber immer mitbedacht werden, dass in einer globalisierten Welt die christliche Sicht nur eine Perspektive unter vielen sein kann. Im Lichte dieser Erläuterungen und der dabei begründeten Maßstäbe sollen Handlungsempfehlungen für die notwendigen Schritte zu einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und deren Bedeutung für die Entwicklungszusammenarbeit und die ökumenischen Beziehungen entwickelt werden.

Gerade die Handlungsfelder kirchlicher Weltverantwortung stehen heute vor der Herausforderung, neue Leitorientierungen für ihr entwicklungsbezogenes Handeln zu finden. Damit alle das Leben und volle Genüge haben (s. Joh 10,10).

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